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Wird einer, der Goethe liest zum Secondhand-Goethe, zum Frankfurter oder zum Sachsen-Weimarianer? Natürlich nicht. Er wird literarisch beschlagen oder – vielleicht – erfreut und ästhetisch gebildet. Wenn er will, kann er an dieser Bildung bzw. in der Auseinandersetzung damit seine Ich-Identität zu errichten versuchen. Gelingen wird dies aber nur, wenn er seinen Bildungsprozess im Diskurs mit anderen anerkannt sieht. Sonst beruht seine Identität auf Einbildung, die freilich robuste Naturen ebenso stabilisiert wie ein schneller Schlitten. Selbst wenn die Bevölkerung einer Stadt nur Goethe läse, würde sie dadurch weder zu einem Verein von Goethes noch zu Kollektiv-Frankfurtern oder Kollektiv-Sachsen-Weimarianern, sondern bliebe eine Gruppe von Menschen, die ihre Ich-Identitäten in unterschiedlicher Weise erarbeitet haben, Teile davon mit der Lektüre von klassischer Literatur. Die Annahme, dass Goethe allen post mortem eine gemeinsame Identität vermittelt haben könnte, ist logisch inkonsistent und in ihren praktischen Auswirkungen absurd. Wie viel Goethe auch immer sie lesen mögen, die Unterschiede blieben in den Tausenden von Ich-Identitäten größer als die – über Goethe vermittelten – in etwa gleichen Meinungen und Überzeugungen. Denn w i r haben keine Identität, die vielen Ich haben (vielleicht) eine gebildet im großen Für-, Mit-, Auf- und Gegeneinander, die man Familie, Freunde, Verein, Sport, Bildung, Betrieb nennt. Ich-Identität entsteht primär in der Auseinandersetzung mit benennbaren Subjekten bzw. existierenden Institutionen und/ oder deren Vertretern. Ich-Identität beruht nicht auf Zuschreibung, sondern auf eigener Leistung. Dieser Prozess der Individuierung vollzieht sich nicht in »Einsamkeit und Freiheit, ... sondern als sprachlich vermittelter Prozess der Vergesellschaftung und der gleichzeitigen Konstituierung einer ihrer selbst bewussten Lebensgeschichte« (Jürgen Habermas). Sekundäre Wege der »Identitätsstiftung« durch Zuschreibungen von oben und von außen bleiben, was sie sind – Palliativa (darunter etliche kriminelle): »wir«-Gefühle direkt aus dem Supermarkt, aus dem Secondhand-Shop oder bandenmäßig präparierte Stimmungsmacher.
Herkunft und Vertriebswege »nationaler Identität« enthüllen deren chimärischen Charakter schon dadurch, dass weit und breit kein benennbares Subjekt oder eine existierende Institution als Gegenüber der realen Menschen in Sicht ist – außer »Trara, Fanfaren und Tschinellen« (Roman Herzog bei der Amtseinführung am 1.7.1994, womit er seinem Vorgänger heimleuchtete, der 1985 noch meinte, Erfurt, Dresden und Rügen hätten »mehr mit unserer eigenen Identität zu tun als so mancher Sonnenstrand am Mittelmeer«). Dass »kollektive Identität« in einer eingebildeten Großformation wie der Nation ihren Sitz habe, unterstellt ausgerechnet beim jungen Gebilde Nation die fassweise Lagerung von »Identität«, die Bürgerinnen und Bürger glasweise abzapfen können. »Identität« wird als Ressource vorgestellt, deren Codierung ein sich selbst gleich bleibendes Produkt in beliebiger Menge sicherstellen soll. Dem widerspricht die simpelste Erfahrung: »Identität« muss gemacht werden; die Umstände, unter denen Regierungen und andere Agenturen es für nötig und richtig halten, »nationale Identität« unters Volk zu bringen oder von ihm abzuverlangen, sind so wechselhaft wie die Identitätsangebote selbst. Das Identischste an der »nationalen Identität« ist ihre Unstetigkeit und Beliebigkeit: Momentan ist der Ruf nach »nationaler Identität« das Passepartout für Anpassung nach innen und die Standarte bei der »Selbstvergewisserung nach außen« (B. Seebacher-B.).
Es spricht alles dafür, dass es sich bei der »nationalen Identität« wie bei jeder »kollektiven Identität« nicht um eine quasi-natürliche Quelle handelt, sondern um ein situativ herstellbares Mittel von Kurpfuschern, das jedem Zweck anzudienen ist. Die Überlagerung von personaler durch »nationale« Identität läuft immer auf eine Konditionierung des Individuums für fremdbestimmte Zwecke hinaus. Es ist schleierhaft, was dem Ich an Identität zuwachsen soll, wenn es national angestrichen wird. Die Kollektivierung von Ich-Identität zu »nationaler Identität« ersetzt doch nur personale Identität durch Uniformen und Leihkostüme. Die Gesellschaft wird zur Kaserne, auf deren Hof den Bürgern der esprit de corps eingeimpft wird, oder zur Maskerade, auf der alle mit dem gleichen Kostüm herumirren. Mit weniger abgewirtschafteten Zwecken hausieren auch Identitätsläden, die sich auf den Kommunitarismus bzw. das Konzept der sogenannten »Zivilgesellschaft« berufen. Die Vorstellung, moderne Gesellschaften sollten ritualisierte »kollektive Identitäten« erhalten oder erzeugen wie ehedem Räuberbanden und Regimenter, Clans und Stämme oder Orden und Stände, setzt einen Bruch mit allem voraus, was an universalistischen Rechtsprinzipien denkbar und an demokratischen Traditionen wirklich geworden ist. Die Behauptung »substantieller Unverzichtbarkeit« (Christoph Görg) für die »kollektive«, speziell »nationale Identität« ist eine Absage an die Moderne und ihren rechtlichen und ethischen Universalismus.
Edmund Burke war einer der ersten, der dies klar erkannt hat und an der alten Gesellschaft und ihrem ständisch-kollektiven Modus der Identitätszurechnung festhalten wollte. Eine paradoxe Pointe der Geschichte besteht darin, dass die Nachfahren jener französischen Revolutionäre, denen Burke entgegentrat, die Politiker in den vermeintlichen Nationalstaaten, aus einem der diffusesten Konstrukte der Revolution – der modernen Nation – »kollektive Identitäten« pressen wollten. Die nationale Bewegung des letzten Jahrhunderts verband sich – entgegen der Schulbuchlegenden – mit der demokratischen Selbstbefreiung jeweils nur kurzfristig und punktuell; längerfristig versuchte die nationale Bewegung überall, zu einem Modus traditionaler Identitätszurechnung zurückzukehren: Im Namen der Nation sollte die eben errungene Autonomie wieder kassiert werden. Kaum hatten die Menschen selbständig gehen gelernt, verschrieb ihnen »die« frisch erfundene Nation Krücken. Die angepriesenen »nationalen Identitäten« erwiesen sich zwar bald als Projektionen und Kinder der Not – wo sie sich nicht als Winkelzüge zur Machterhaltung entlarvten –, aber ihrer Wirksamkeit hat dies nicht geschadet.
Burke kritisierte die Französische Revolution nicht wegen ihrer Exzesse, sondern an ihren Prinzipien. Ob mit der Idee staatsbürgerlicher Gleichheit oder individueller Freiheit, die Revolutionäre befinden sich nach Burke »im Krieg mit der Natur«. In »die natürliche Ordnung der Dinge« sind Individuen, politische Institutionen, Traditionen, Religion, Werte und Normen fest eingebunden und aufeinander abgestimmt. In solchen Gesellschaften erfolgt die Identitätsbildung kollektiv, dauerhaft und von oben; es gibt eine institutionelle Identitätsbestimmung durch rigide, im europäischen Raum christlich-theologisch gerechtfertigte, ständisch begründete Rollenzuteilung. Diese Rollenidentitäten stärken weniger das Individuum als die Kontinuität, den Zusammenhalt und die Stabilität korporativer Gebilde und des Ganzen. Dessen durch Tradition und Herkommen, Formen und Normen, Stabilität und Alter gesicherte Macht soll sich – religiös bekräftigt – in den Köpfen der Untertanen als unantastbar und ewig festfressen. Burke insistierte darauf, dass es nicht die Menschen sein dürften, die ihre Geschichte machen: »Wenn die Bürger eines freien Staates sich von allem Kitzel kurzsichtiger Begierden gereinigt haben, welches ohne Religion schlechterdings nie geschehen wird, wenn sie sich bewusst sind, dass sie eine Macht besitzen, die nur so lange rechtmäßig bleibt, als sie mit den Gesetzen einer ewigen unwandelbaren Ordnung, in welcher Wille und Vernunft eins sind, zusammenstimmt, und dass sie vielleicht ein höheres Glied in der geheimnisvollen Kette ausmachen, an welcher diese Macht von einer Stufe zur anderen heruntergeleitet wird, dann werden sie sich sorgfältig hüten, das Geringste davon einer unwürdigen oder einer untauglichen Hand anzuvertrauen.« Meint: Aufklärung und Revolution sind untauglich und unwürdig. Semantisch (»higher link« bzw. »höheres Glied in der geheimnisvollen Kette«) spielt Burke auf den Topos der »great chain of beings« (Arthur O. Lovejoy 1933) an, um jeden Spalt abzudichten, durch den Veränderungspotentiale in das vorausbestimmte Verhältnis von Untertan und Gesellschaft hätten eindringen können. Radikalisiert eines der konstitutiven Elemente des Zusammenlebens (Untertanen, politische Institutionen, Traditionen, Religion, Werte und Normen) seine Ansprüche, beginnen für Burke je nachdem allgemeines Chaos, monarchische Tyrannis oder Anarchie. Am schlimmsten kommt es, wenn die Untertanen modern werden und sich zum politischen Demos, zum Souverän machen: »Seit der Aufhebung der Stände gibt es kein Grundgesetz, keinen strengen Vertrag, keine hergebrachte Sitte mehr, die dieser Versammlung Einhalt tun könnten.«
Es ist das Verdienst von Jürgen Habermas, anlässlich der Verleihung des Hegel-Preises (1974) Licht in notorisch trübe Vorstellungen gebracht zu haben. Er stellte sich die Frage: »Können komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden?« Die alten Gesellschaften konnten zu ihrer Stabilisierung und zur Integration ihrer Mitglieder auf Traditionsbestände, Religionen, allgemein akzeptierte Werte- und Normenkanons zurückgreifen. Damit vermochten sie, den vielen Einzelnen einen fixen Status bzw. eine Rollenidentität anzudienen. Mit der Universalisierung der Ansprüche des Einzelnen im Namen von Freiheit, Gleichheit, Menschen- und Bürgerrechten sind Rückgriffe auf traditionale religiöse und politische Werte und Normen, die zwischen Allgemeinem und Besonderem (vorab!) feste Vermittlungen und institutionelle Sicherungen vorsehen, problematisch geworden. Da egalitäre Rechte und Ansprüche des Subjekts rational und verallgemeinerungsfähig nicht mehr zu bestreiten sind, werden Positionen, von denen aus dies in religiöser oder politischer Absicht trotzdem gefordert wird, zu reaktionären Parteistandpunkten. Moderne Gesellschaften und die dazu gehörenden Staaten können sich nicht mehr auf unstrittige, allgemein akzeptierte traditionelle Werte, religiöse Bindungen oder überkommene politische Normen berufen und diese den Individuen als Status oder Rollenidentität einfach überstülpen. Seit der Aufklärung sind diese Bindungen und Normen subjektiver Überprüfung und Kritik ausgesetzt und unterliegen den Kriterien von rationaler Begründbarkeit und demokratischer Verallgemeinerungsfähigkeit – aber nicht länger traditional begründeter, autoritativer Geltung. Könige und Priester sind nicht mehr unter sich. Die Untertanen und Laien spielen jetzt mit und verteidigen ihre Rechte, nicht dynastische Herkunftslegenden, ethnische Abstammungsgeschichten, »kollektive Identitäten« oder andere Mythen: Rechtsstaat, Bürger- und Menschenrechte, Demokratie, Verfassung zu verteidigen – im definitionsbedürftigen Extremfall unter dem Einsatz des Lebens –, ist Bestandteil der Bürgerrechte und -pflichten. Es gibt keine demokratisch akzeptable Begründung dafür, der beliebig herzitierbaren »Nation« den gleichen oder auch nur annähernd gleichen Status zuzusprechen – aber jede Menge guter Gründe, endlich darauf zu verzichten. Horaz’ Maxime, wonach es »süß und ehrenvoll« sei, »fürs Vaterland zu sterben«, meinte im Übrigen mit »patria« eine Rechtsgemeinschaft, nicht jenes dumpfe Gefühl, aus dem moderne Nationen sprießen.
Ausgehend von einem filigran geknüpften Netz kommunikationstheoretischer und entwicklungspsycholgischer Kategorien, hat Habermas die historisch und gesellschaftlich bedingten Formen der Identitätsbildung im Anschluss an G. H. Mead untersucht. Er fasst »die Ich-Identität des Erwachsenen« als »Fähigkeit, neue Identitäten aufzubauen und zugleich mit den überwundenen zu integrieren, um sich und seine Interaktionen zu einer unverwechselbaren Lebensgeschichte zu organisieren«; und er benennt auch die normativen Implikationen einer so begriffenen Identität: »nur eine universalistische Moral, die allgemeine Normen (und verallgemeinerungsfähige Interessen) als vernünftig auszeichnet, kann mit guten Gründen verteidigt werden«, d. h. »nur der Begriff einer Ich-Identität, die zugleich Freiheit und Individuierung des einzelnen in komplexen Rollensystemen sichert, kann heute eine zustimmungsfähige Orientierung für Bildungsprozesse abgeben.« Wenn man Großgruppen mit diesen Ansprüchen konfrontiert, leuchtet sofort ein, dass es niemals Gebilde gegeben hat, die den universalistischen Normen auch nur halbwegs entsprochen haben – am wenigsten herkunftsdefinierte »Nationen«. »Nationen« können keine Basis für vernünftige »kollektive Identität« abgeben, weil es jenseits des »plébiscit de tous les jours« kein Verfahren gibt, um zu bestimmen, was eine Nation ist. »Nationale Identitäten« sind deshalb projektive Wahnbilder, die Großgruppen von sich selbst und anderen ausbilden, um in deren Windschatten in jeder Hinsicht partikulare Interessen durchzusetzen. Entwicklungspsychologisch handelt es sich um pathologische Regressionsphänomene. Darin, was im Namen kollektiver Wahnbilder faktisch passiert, unterscheiden sich Großgruppen enorm, in der Strickart und Funktion ihrer Projektionen überhaupt nicht. Als Handlungsnormen für die Begründung politischer Ziele haben »kollektive Identitäten« eine ebenso erbärmliche wie kriminelle Geschichte und keinerlei rational begründbare und sozial verträgliche Zukunft.
Sozialwissenschaft, die sich ihre Realitäten aus Legosteinchen zusammenbaut, ficht das wenig an. Ein Kolloquium über »Konsensmuster und Formen nationaler Identität« verzichtete der Einfachheit halber auf die erste Frage, ob es denn so etwas wie »nationale Identität« überhaupt gebe. Das verwundert nicht, erfährt man doch vom mittelhessischen Kleinmeister (und Referenten) Bernhard Giesen Unerhörtes über den historischen Frischling »Nation«: »Das, was eine Nationalität ausmacht, liegt unverrückbar und unveränderbar fest – Geschichte und Geburt, Kultur und Sprache lassen sich nicht im nachhinein verändern.« Die Begründung dafür liest sich in der Gießener Verballhornung von Wittgensteins letztem Satz – zu schweigen, worüber man nicht sprechen könne – wie die Betriebsanleitung für die diskursive Windmaschine: »Man weiß, was es (die Nation, RW) ist, kann aber nicht darüber argumentieren« – aber Bücher schreiben und Vorträge halten.
Postscriptum I (1998): »Die Identität«, sagte das Pferd
Das Ungemach mit dem Begriff »Identität der Nation« hat bereits jener Schweizer Romancier vorausgesehen, der ihn zum ersten Mal überhaupt gebrauchte. An neun Stellen taucht der Begriff in der ersten Fassung von Gottfried Kellers »Der Grüne Heinrich« von 1854/55 auf. Allein sieben Mal benutzt Keller den Begriff in dem berühmten Kapitel (Buch IV, 7), in dem Heinrich Lee seine Heimkehr im Traum vorwegnimmt. Heinrich überquert hoch zu Ross eine überdachte »Prachtbrücke« aus Marmor. An den Innenwänden der Brücke leuchten Fresken, die »die ganze fortlaufende Geschichte und alle Tätigkeiten des Landes« darstellen. Auf der Brücke bewegt sich »das lebendige Volk«, und zwar so, dass es mit der »tüchtigen Verständlichkeit und Gemeingenießbarkeit« der »alten Freskomalerei … eines war.« Der träumende Heinrich hat sogar den Eindruck, die Figuren träten aus den Bildern heraus und mischten sich unter das Volk, mitten ins »lebendige Treiben«. Auf »dieser wunderbar belebten Brücke« fließen »Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft« ineinander und werden »ein Ding«. Auf Heinrichs Frage, »was dies für eine muntere und lustige Sache« sei, antwortet das Pferd: »Dies nennt man die Identität der Nation!«
Über die Frage, ob nun die Brücke, die Fresken, das Volk oder alle drei zusammen »die Identität der Nation« bildeten, können sich Heinrich und das Pferd nicht einigen. Das Pferd ist der Meinung, wer die Frage beantworten könne, arbeite »an der Identität selber mit« und erwerbe sich eben damit den Anspruch, auf der Heldenwand abgebildet zu werden. Am Ende des Disputs stellt das Pferd resignierend fest, dass sich »die Leute auf dieser Brücke« zwar ursprünglich um »ihre Identität« mit den gemalten Vorfahren und deren Heldentaten bemühten, sich aber bald damit abfanden, dass nur »durch allerlei Gemünztes zu erreichen und zu sichern« sei, was man im und zum Leben brauche.
»Identität« wird also bei Keller gleich mehrfach ironisch gebrochen: Sie ist ein Traumgebilde, von einem Pferd verkündet, das zugeben muss, dass die »Identitätsherrlichkeit« an den herrschenden Realitäten zu Schanden wird. Das »politische Rendez-vous des Volkslebens« auf der Brücke ist nur schöner Schein, der sich als kommerzieller Alltag entpuppt: Der bunte Kreislauf des Lebens wird als Kapitalumlauf entlarvt.
Keller benützt das Bild der Brücke in einer zeitlichen Perspektive als Verbindung der Vergangenheit und Zukunft eines Volkes. Der Germanist Gerhard Kaiser unternahm den Versuch, sie als »Identitätsbrücke der Nation« zu interpretieren. Dieser Versuch umgeht den von Keller ausdrücklich erwähnten Widerspruch, wonach die Brücke außerhalb des Traumes nicht dreierlei zu gleich sein kann – zwei Ufer und deren Verbindung. Aber auch das in zeitlicher Perspektive verwendete Bild von der Brücke ist problematisch: Zwischen der Herkunft eines Volkes aus dem Dunkel heroischer Geschichten und Legenden und seiner prinzipiell uneinsehbaren Zukunft gibt es keine gerade Verbindung, keine »Identitätsbrücke« vulgo »Nation«. Das herbei geträumte Ideal der »Identitätsbrücke«, die das in der gesellschaftlichen Realität durch unterschiedliche Interessen und Mentalitäten gespaltene Volk vereinheitlichen soll, erweist sich als Krücke zwischen Traum und Wirklichkeit. Die vermeintliche Brücke hat keinen Ort in der Realität und führt nirgendwohin.
Postscriptum II (2011): Die Identität von Hängebrücken, Leuten und Nationen
In der zweiten Fassung des Romans (1879/80) hat Keller den Abschnitt umgeschrieben und politisch entschieden verschärft. Aus der Brücke wurde eine »Hängebrücke« über »ein endloses Meer von großen Baumwipfeln«. Von der Hängebrücke erfährt man gar nicht, was sie verbindet. In der »dunklen Tiefe« sieht Heinrich lediglich seine Mutter, die »eine kleine Herde Silberfasanen« hütet, und er hört sie sagen: »Mein Sohn, mein Sohn, wann kommt er bald, geht durch den Wald?« Danach sieht sich Heinrich plötzlich auf einem Berg und blickt auf eine Stadt, in der er Türme »von der fabelhaften Bauart« und schöne Mädchen entdeckt. Sein Pferd, den »Goldfuchs neben mir«, sieht Heinrich »einen halsbrecherischen Weg« hinuntersteigen und plötzlich »fing das Pferd an zu sprechen«. Als Ross und Reiter vor einer »mit zahlreichen Malereien« bedeckten Wand stehen, auf der »Vergangenheit und Zukunft nur ein Ding« zu sein scheinen, gerät Heinrich ins Grübeln. Er fragte den Goldfuchs, so heißt sein Pferd, was das Gemälde bedeute, und das Pferd antwortet: »Dies nennt man die nationale Identität der Nation.« Und Heinrich erwidert dem Pferd: »Ei, du bist ein sehr gelehrsamer Gaul! Der Hafer muss dich wirklich stechen!« »Erinnere dich«, sagte der Goldfuchs darauf, »auf wem Du reitest! Bin ich nicht aus Gold entstanden? Gold aber ist Reichtum und Reichtum ist Einsicht.«
»Nun sage mir, du weiser Salomon, begann ich nach einer Weile von neuem: »Heißt eigentlich die Brücke die Identität oder die Leute, so darauf sind? Welches von beiden nennst du so?«
»Beide zusammen sind die Identität, sonst spräche man ja nicht davon!«
»Der Nation?«
»Der Nation versteht sich!«
»Also ist die Brücke auch eine Nation?«
Auf den Selbstwiderspruch angesprochen, gesteht das Pferd: »Wisse, wer diese heikle Frage zu beantworten und den Widerspruch zu lösen versteht, der ist ein Meister und arbeitet an der Identität selber mit. (…) Übrigens erinnere dich, dass ich nur ein von dir geträumtes Pferd bin und also unser ganzes Gespräch eine Ausgeburt und Grübelei deines eigenen Gehirns ist.«
Der Disput zwischen Heinrich und dem Goldfuchs endet damit, dass Heinrich messerscharf schließt, dass »das Geheimnis deiner ganzen Identitätsfrage das gemünzte Gold« ist, dass »Gemünztes« also den Kern der nationalen Identität darstellt und so »Privatsachen mit den öffentlichen Dingen« im Handstreich »identisch« werden – freilich nur dort, wo der Pferdeverstand herrscht.
3 »Nationale« Selbstbestimmung – der Stimmungsmacher im Schlachthaus
Der Rekurs auf die Geschichte ist ein beliebtes Element bei der Begründung von Rechtspositionen. Der Haken dabei: Der Weg ist nach hinten hin offen und endet im Stockdunkeln, und jedes alte Recht hat ein älteres hinter sich. Einfacher ist es deshalb, durch Gewalt geschaffene Tatsachen nachträglich mit juristischen Girlanden zu versehen. Auch dieses Verfahren hat einen Nachteil. Es verbürgt keinerlei Dauer. Am vermeintlich selbstverständlichen »nationalen« Selbstbestimmungsrecht ist das nachvollziehbar.
Historiker, Juristen, Philosophen, Politiker und Lexikographen sprachen im 19. Jahrhundert quer durch das politische Spektrum nicht vom »nationalen Selbstbestimmungsrecht« oder vom »Selbstbestimmungsrecht der Völker« wie z. B. die UNO-Resolution Nr. 545 vom 5.2.1952, sondern vom »Nationalitätenprinzip.« Dieses war mit einer Reihe von Sicherungen verbunden. Das repräsentative »Deutsche Staatswörterbuch« von Bluntschli/Brater zum Beispiel zählte drei Einschränkungen auf, von denen jede das ebenso anachronistische wie oberflächliche Gerede vom »nationalen Selbstbestimmungsrecht« oder vom genuinen Zusammenhang von Nationen und Demokratie Lügen straft, selbst wenn sich die konservativen Lexikographen ihrerseits in haltlosen Annahmen über die »historische Rechtsordnung« und die »naturgemäße Entwicklung« verstrickten: »1. Jede Nation, welche eine ihr eigentümliche Staatsidee und zugleich die Kraft und das Bedürfnis hat, dieselbe zu verwirklichen, ist berechtigt, einen nationalen Staat zu bilden; aber sie ist bei diesem Bestreben verpflichtet, die historische Rechtsordnung insoweit zu respektieren, als dieselbe nicht ihre naturgemäße Entwicklung widerrechtlich hindert. 2. Die Herstellung eines nationalen Staates erfordert keineswegs die Vereinigung aller nationalen Bestandteile zu einem Staatsganzen, sondern nur ein so starkes Zusammenwirken nationaler Elemente, dass das der Nation eigene Staatenbild zu sicherer und ausreichender Erscheinung gelangt. 3. Die höchste Staatenbildung beschränkt sich nicht auf eine einzelne Nationalität, sondern verbindet verschiedene nationale Elemente zu einer gemeinsamen menschlichen Ordnung.«1 Mit der letzten Einschränkung stellen sich die Autoren, die man sich gerne in nationalen Kategorien befangene Bildungsbürger des 19. Jahrhunderts vorstellt, als jenen zeitgenössischen Politologen überlegen heraus, denen zum Konkurs der Sowjetunion nichts Besseres einfällt als der Rat, zur vermeintlich normalen nationalstaatlichen Territorialisierung zurückzukehren. Der Rechtsphilosoph Friedrich Julius Stahl war ebenso konservativ wie hellsichtig (eine Mischung von intellektuellen Fähigkeiten, die den Konservativen des 20. Jahrhunderts weitgehend abhanden gekommen ist), hielt »eine neue Konstituierung des europäischen Staatenbestandes nach den Nationalitäten« schon 1856 für »unausführbar und chimärisch, da die Nationalitäten auch in den Wohnsitzen nicht geschieden bleiben ... und man so die eine nicht befreien kann, ohne die andere zu unterdrücken.«2 Der Ruf nach vermeintlicher nationalstaatlicher Normalität ist immer der Ruf nach einem imaginären »Zurück«, weil es eine solche Homogenität, die sich als Normalität drapiert, praktisch nirgendwo und niemals gegeben hat; wo sie ansatzweise existiert hat, aber längst anachronistisch geworden ist, wäre Homogenität nur mit grenzenloser Gewalt wiederherstellbar. Weil es den Ideen von Homogenität, Reinheit und Einheit immer und überall an Realität gebrach, verbanden sie sich je nach den Umständen mit Religion, Rasse oder Nationalität und gewannen so bereits zu Beginn der nationalen Bewegung alle Charakteristika der pathologischen Wunschvorstellung, das Fremde und Andere zu assimilieren, zu vertreiben oder zu schlachten: »Jedes gereinigte und geeinte Volk verehrt den Walteschöpfer und Einheitsschaffer als Heiland und hat Vergebung für alle seine Sünden.«3 (»Walte« ist ein Synonym für »Herrschaft«.)
Die Wissenschaftler und Politiker des vorigen Jahrhunderts wussten also genau, warum sie nicht vom »nationalen Selbstbestimmungsrecht« oder vom »Selbstbestimmungsrecht der Völker« sprachen. Sie hatten eine durchaus realistische Vorstellung davon, was passieren kann, wenn man Individuen, Gruppen oder gar pauschal dem Volk ein »Selbstbestimmungsrecht« einräumt. Mit »Nationalitäten« meinte das 19. Jahrhundert im Wesentlichen existierende Staaten; diese hatten Rechte, nicht das Volk.4 Weder Konservative noch bürgerliche Republikaner oder bürgerliche Demokraten wollten das Volk bestimmen lassen. Volksherrschaft hieß schlicht »Pöbelherrschaft«, unter Gelehrten »Ochlokratie«. Den Bürgern des 19. Jahrhunderts waren die Revolutionen von 1789, 1830 und 1848 sowie zahlreiche kleinere Aufstände noch zu lebendig in Erinnerung, als dass sie dem Volk irgendwelche Selbstbestimmungsrechte einräumen wollten. Im fachphilosophischen Jargon mochte der Kantische Begriff »Autonomie« bzw. »Selbstbestimmung« angehen, in der Politik hing ihm der Ludergeruch der Revolution und der »classes dangereuses« an. Außerhalb der gerade nicht national kostümierten Theorien des Anarchismus und des Sozialismus hatten Begriffe wie »Selbstbestimmung«, »Emanzipation« und »Autonomie« deshalb geringe Bedeutung und keinerlei gesichertes theoretisches oder politisches Heimatrecht (von ihrer Eignung für nationalistische Rituale träumte noch nicht einmal jemand).