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Als der amerikanische Präsident Woodrow Wilson seine vage Vorstellung vom Recht auf »nationale« Selbstbestimmung gegen Ende des Ersten Weltkrieges in Umlauf brachte, warnte ihn sein Außenminister Robert Lansing vergeblich davor, solches »Dynamit« als friedensstiftendes Hausmittelchen feilzubieten: »Ich fürchte, dass es tausende und abertausende Leben kosten wird.« Das Mittel löst keine Konflikte, sondern verschärft bestehende und schafft laufend neue.
Die Prognose kann an einem Beispiel überprüft werden. Eine völkerrechtliche Dissertation von 1939 und ein politischer Kommentar aus dem Jahr 1993 machen aus Serbien mit dem begrifflichen Joker »nationale« Selbstbestimmung gleich beides – einen »Nationalstaat« und einen »in der Luft hängenden« Unstaat. Die Dissertation fasst als Ergebnis zusammen: »Wie sich aus dem historischen Teil ergibt, lief der jahrhundertelange Kampf der jugoslawischen Stämme um ihre nationale Einheit in dem Dezemberakt aus. Die politische Forderung des jugoslawischen Volkes, in einem einzigen nationalen Staat vereinigt zu werden, die ähnlich wie die deutsche und italienische Forderung nach völkischer Einheit ihre Legitimation in dem Recht auf nationale Selbstbestimmung fand, wurde mit der Einverleibung Montenegros und der jugoslawischen Gebiete der früheren Donaumonarchie in Serbien, d. h. mit der Ausdehnung des serbischen Herrschaftswillens auf diese Gebiete erfüllt. Vollstrecker dieses nationalen Wunsches des jugoslawischen Volkes war Serbien. Damit war Jugoslawien, d. h. das um diese Gebiete vergrößerte Serbien de facto geschaffen. Diese historisch-politische Tatsache, die eine Veränderung des Gebietsstatus der europäischen Völkerrechtsgemeinschaft zur Folge hatte, fand ihr endgültiges de-iure-Gepräge ... in einer Reihe völkerrechtlicher Dokumente und Verträge ... Jugoslawien ist mit Serbien völkerrechtlich identisch.«6 Den Sack zu, de facto und de iure ist alles in Butter! Akademisch gab es für diesen Dissertations-Ertrag bei Carl Schmitt und Viktor Bruns 1939 einen Berliner doctor iuris utriusque für den nicht an prominenter Stelle in die Geschichte eingegangen Karl Schilling.
Eine große deutsche Zeitung hält sich einen Berufskroaten, um propagandistisch umzudrehen, was gestern noch akademische Weihen erhielt: »Das vergangene Jugoslawien hing in seiner Existenz daran, dass seine Teilrepubliken zusammenblieben. Verließen einige die (Zwangs-)Föderation, konnte es kein Jugoslawien mehr geben. Der weitaus größte Teil dessen, was übrigblieb, ist Serbien ... Was heute vom Belgrader Regime Milosevic beherrscht wird, ist nicht Rest-Jugoslawien, sondern das völkerrechtlich in der Luft hängende Serbien«7. Soweit das Programm für die nächste völkerrechtliche Dissertation, die aus der alten Gleichung Serbien = Jugoslawien problemlos den Unstaat Serbien herausdestillieren wird – im Namen des Rechts.
Solange man mit Begriffen hantiert wie mit Plastikjetons, kann das Spiel beliebig lange hin- und hergehen. Für die Trümmer aus dem zerfallenden Jugoslawien klagte ein großer Teil der Presse frühzeitig und ganz selbstverständlich die »nationale« Anerkennung ein, als ob Nationalitäten unterscheidbar wären wie Birnen und Äpfel. Der zentrale Terminus ist ein wahrer Kobold: das national bzw. ethnisch gefasste »Recht auf Selbstbestimmung«. Alle drei Komponenten des »nationalen« Selbstbestimmungsrechts – Nation, Selbstbestimmung und Recht – werden mindestens doppel- bzw. mehrdeutig (und damit ebenso unbrauchbar wie illusorisch), wenn das Selbst, das angeblich bestimmt, gleichzeitig national und rechtlich verfasst sein soll. Wird die Nation ethnisch bestimmt, gerät universalistisches Recht zur juristischen Fiktion innerhalb willkürlich festgelegter ethnischer Ab- und Ausgrenzungen. Das Fremde und das Andere erhalten einen minderen oder gar keinen Rechtsstatus. Hält man sich dagegen an Recht, das diesen Namen verdient, muss man alle Hoffnung auf Fremdes ausgrenzenden Nationalitätenzauber ebenso fahren lassen wie Identitätsstifterei durch rechtliche Privilegierung einer zur Nation deklarierten Gruppe.
Dagegen bejaht der Philosoph Rüdiger Bubner die Frage »Brauchen wir einen Begriff Nation?« und versucht in gut hegelianischer Manier, »die Notwendigkeit eines Begriffs der Nation«8 – gegen die Tatsachen und umso schlimmer für diese darzutun. Das gelingt ihm nur mit einer ebenso grotesken wie unhistorischen Gleichsetzung von Staat und Nation sowie auf Kosten eines argumentativen Tricks, den seine Branche eine petitio principii nennt. Nämlich etwas »schlichtweg zu unterstellen, um dessen Gültigkeit« es gerade geht. Bubners großkalibrige Behauptung (»der Nationalstaat ist eine bestimmte Allgemeinheit in Gestalt konstitutionell begründeter Rechtsordnung, die sich mit einem besonderen Profil einer auf Grund ihrer Geschichte unterscheidbaren Nation vermittelt«) zerschellt an den tatsächlichen Formationsprozessen von Staaten, und die vermeintliche »Rechtsordnung vermittelt« sich historisch und in der Gegenwart mit der »Nation« vornehmlich mit dem betörenden Charme einer wilden Metzelei an der »Schlachtbank«, wie die Geschichte bei Hegel einmal genannt wird. Bubners hilflosem Versuch, »das historisch greifbare Selbst« als Substrat von »Selbstbestimmung« ausgerechnet im Konstrukt Nation anzusiedeln, ergeht es wie dem »historischen Recht«: der regressus ad infinitum ist so unvermeidlich wie der salto mortale in die Operettenwelt geschichtsphilosophischer Spekulation. Solcher Begriffsturnerei pfiff Ernest Renan schon 1871 die Melodie vor: »Lothringen hat einmal zum deutschen Reich gehört, darüber besteht kein Zweifel. Fast überall, wo die hitzigen deutschen Patrioten sich auf ein altes germanisches Recht berufen, können wir ein noch älteres keltisches belegen, und vor den Kelten lebten dort, wie man sagt, die Allophylen, die Finnen, die Lappen; und vor den Lappen waren es Höhlenmenschen und vor den Höhlenmenschen die Orang-Utans. Für eine solche Geschichtsphilosophie gibt es als ein dingliches Recht in der Welt nur das Recht der Orang-Utans, die ungerechterweise von der bösen Zivilisation vertrieben worden sind.«9
Gegenüber den älteren und jüngeren Begriffsakrobaten, die national definierte Selbstbestimmung für etwas Besseres als eine verkappte Menschenfresser-Parole halten, gilt es festzuhalten: Es gab niemals ein allgemein akzeptiertes und akzeptables Verfahren für die Bestimmung dessen, was eine »Nation« ist. Es gab und gibt keine konsensfähige Theorie und Praxis, wie und von wem das »Selbstbestimmungsrecht« der »Nation« legitim in Anspruch genommen bzw. durchgesetzt werden soll. Und weil für beides auf absehbare Zeit keine Lösung in Sicht ist, läuft das famose Recht auf »nationale« Selbstbestimmung schnurstracks auf die Gleichsetzung von Recht und Gewalt um der ethnischen Territorialisierung willen hinaus.
Der grauenhafte Bürgerkrieg auf dem Balkan hat viele Facetten. Ob wenigstens die nicht direkt Beteiligten etwas lernen können? Geschichte und Gegenwart lehren von sich aus längst niemanden mehr irgendetwas. Vielmehr tönt aus ihnen nur zurück, wie und was man hineinruft. Es käme darauf an, mit kritisch überprüften, rationalen Kategorien zu operieren, statt mit billigen Schlagwörtern. Die Chancen dafür stehen wieder einmal herzlich schlecht, solange der süßliche Duft der sinnlosgesinnungsstark auf den nationalen Altären Geopferten die Wahrnehmung auch hierzulande trübt.10 Auf dem Balkan kann jedes Volk an einem Ort die Mehrheit bilden und bereits im Nachbarort eine von diversen Minderheiten darstellen. Mit der Unterwerfung des vielfältigen lokalen und regionalen Zusammenlebens unter den Primat des Nationalen und Nationalstaatlichen wurden die Konflikte auf dem Balkan dramatischer und unlösbarer als je zuvor. Die übergestülpten nationalen Ordnungsrezepte der deutschen und europäischen Anerkennungspolitik bereiteten dem nationalistischen Populismus und der vulgär-völkischen Demagogie den Weg als Herrschaftsinstrumente. Was momentan geschieht, hat deshalb weitgehend den Charme des Déjà-vu.
Anmerkungen
1 Johann Caspar Bluntschli: Art. Nation und Volk, Nationalitätenprinzip, Deutsches Staatswörterbuch, hg. v. J. C. Bluntschli u. K. L. T. Brater, Bd. 7 (Stuttgart, Leipzig 1862), 159.
2 F. J. Stahl: Die Philosophie des Rechts (1830/37), 3. Aufl., Bd. 2/2 (Heidelberg 1856), 156.
3 F. L. Jahn: Runenblätter (1814), Werke, hg. v. C. Euler, Bd. 1 (Hof 1883), 418.
4 Am Begriff »Volk« ist der Bruch, den die Französische Revolution darstellt, exemplarisch nachvollziehbar. Die demokratischen Konnotationen des Begriffs »Volk« treten erst nach 1789 in den Vordergrund; vgl. J .u. W. Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 12/1 (1951), 468: »Infolge der hier notwendigerweise entstehenden Kämpfe erhielt ›Volk‹ den Klang eines politischen Parteiworts; es umschloss gewissermaßen die Forderung der Demokratie, die Vertreter einer starken Monarchie liebten es nicht und verwandten für die Gesamtheit der Staatsbürger lieber das Wort ›Nation‹, während ›Volk‹ für die Opposition einen berauschenden Klang hatte.« In den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Quellen dagegen hat »populus/Volk« ständisch-rechtliche Konnotationen und meint immer eine privilegierte Minderheit im Gegensatz zum sozial-schichtenspezifischen Begriff »vulgus/Pöbel«, womit der rechtlich benachteiligte bzw. rechtlose »große Haufe« oder der »gemeine Mann« bezeichnet wird. Die Diagnose bei Grimm erweist im Übrigen alle älteren, neuerdings wieder modischen Versuche, Nation, Nationalstaat und Nationalismus genuine und dauerhafte Verbindungen zu Demokratie und Demokratisierung anzudichten, als anachronistisch und spekulativ.
5 Interview, Frankfurter Run dschau vom 12.9.1992.
6 K. Schilling: Ist das Königreich Jugoslawien mit dem früheren Serbien völkerrechtlich identisch? Iur. Diss., Berlin/Dresden 1939, 167.
7 J. G. Reißmüller, FAZ vom 2.7.1993.
8 R. Bubner: Staat und Weltstaat, NZZ vom 5.7.1991. – Bei der Beschäftigung mit Nation schleudern auch luzidere Köpfe aus der Kurve. Christian Meier gab zu Protokoll (NZZ vom 30.7.1993): »Ich persönlich kann ohne Nation ganz gut auskommen, doch ich denke, dass es gut wäre, wenn auch die Deutschen eine möglichst normale Nation sein (oder werden) könnten.« Und direkt daran anschließend stellt der Historiker fest: »Die ganze Welt besteht ja aus Nationen.« Das stimmt natürlich wörtlich nicht einmal für die letzten 200 Jahre. Irgendwie scheint Meier geahnt zu haben, dass er sich auf glatter Bahn bewegt, schwankt er doch erheblich: Was er selbst »nicht braucht«, doch anderen andient, und was im zweiten Satz angeblich weltweit »besteht«, »könnte« im ersten noch »sein (oder werden)«. Das Gerede über »Nationen« ist allein deshalb eine Zumutung, weil es einem mit so viel Konfusion präsentiert wird.
9 E. Renan an D. F. Strauß, 15.9.1871, abgedruckt in: D. de Rougemont, Europa, Vom Mythos zur Wirklichkeit, München 1962, 282.
10 Für die Rechtfertigung unentbehrlich sind dabei die reinen Gesinnungsbegriffe »Verantwortung« und »Verantwortungsethik«, vgl. den Text I, 1 im zweiten Band.
4 »Zivilisation« – ein Rettungsring mit Löchern
In Zeiten wachsender Ratlosigkeit haben alte Rezepte Konjunktur. Das muss nicht immer falsch sein. Manchmal ist es sogar nötig und hilfreich, an vergessene Ratschläge zu erinnern. In jüngster Zeit wird immer häufiger »die« Zivilisation, »unsere« Zivilisation oder gar »die westliche« Zivilisation ins Spiel gebracht, wenn massive Formen von Gewaltanwendung Gefühle von Rat- und Orientierungslosigkeit hervorrufen. Zunächst will man mit Hinweisen auf »Zivilisation« und »zivilisatorische Minimalstandards« erklären, worin die Abweichung vom »rechten Weg« besteht, und danach dienen die erhabenen Chiffren als Rettungsringe, um von der Realität mit ihrem ganzen Chaos und Elend wegzuschwimmen. Den vorläufigen Tiefpunkt erreichte die Debatte, als im Zuge des Golfkrieges einige Normen zu »westlichen« Werten fundamentalistisch aufgemotzt und deren rationale Kritik als »Antiamerikanismus« denunziert wurde – in der Tradition von McCarthy & Co. Weder zur Erklärung noch zum Wegschwimmen hat der Begriff »Zivilisation« je getaugt – und zwar aus sachlichen und begriffsgeschichtlichen Gründen.
Sachlich scheitert jede Berufung auf eine positiv verstandene Zivilisation daran, dass Zivilisation und Barbarei in jeder geschichtlichen Epoche auf historisch zu bestimmende Art zusammengehören. Noch jede bisherige zivilisatorische Stufe hat ihren barbarischen Hinterhof und ist ohne diesen nicht zu begreifen. Vielleicht käme heute sogar Hermann Lübbe ins Stottern, wenn er seinen gerade mal zehn Jahre alten Satz wiederholen müsste: »Die Durchsetzungskraft unserer durch Wissenschaft und Technik geprägten Zivilisation beruht in letzter Instanz auf der Evidenz der Zustimmungsfähigkeit, ja Zustimmungspflichtigkeit der Lebensvorzüge, die, zunächst als Verheißung und schließlich als Realität, von Anfang an mit den Fortschritten dieser Zivilisation sich verband.« Wer sich am vermeintlich oder tatsächlich Positiven »der« Zivilisation festhalten will, um sich und andere aus den chaotischen und barbarischen Verhältnissen heraus ans sichere Ufer zu retten, vergisst, woraus das vermeintlich Rettende auch besteht – aus demselben gesellschaftlichen Stoff. Indem wir »unsere« zivilisatorischen Standards hochhalten, sichern wir (vielleicht) unsere Sicherheit, unser Leben und unser Überleben. Niemand wird behaupten, dass wir die Kosten dafür heute vollständig entrichteten oder je entrichtet hätten. Die ungedeckten Kosten zur Aufrechterhaltung »unserer« zivilisatorischen Standards verlängern alte barbarische Zustände oder lassen neue entstehen – hier und anderswo. Man kann das – ohne ins Detail zu gehen – an der alten europäischen Kolonialgeschichte (oder an neudeutscher »Standortpolitik«) nachvollziehen. Die Auswirkungen der ungeheuren zivilisatorischen Fortschritte des englischen Mutterlandes zur Zeit der ersten industriellen Revolution waren und sind in Indien zu besichtigen. Noch jeder bisherige zivilisatorische Fortschritt glich »jenem scheußlichen heidnischen Götzen, ... der den Nektar nur aus den Gehirnschalen Erschlagener trinken wollte« (Karl Marx).
Der Verlust von »zivilisatorischen Standards« wird in jüngster Zeit auf drei Ebenen als Ursache diskutiert: hinsichtlich der grausamen Kriege und Bürgerkriege auf der ganzen Welt und der schon alltäglichen Brutalität in den Armenhäusern auf der südlichen Hemisphäre, vor allem aber im Falle des erbarmungslosen Bürgerkriegs auf dem Balkan; in Bezug auf Verluderung, Verwahrlosung und Gewalt in den hochentwickelten kapitalistischen Gesellschaften des Nordens, wenn männliche Jugendliche gegenüber Fremden und Flüchtlingen scheinbar wahllos zuschlagen oder deren Häuser anzünden; und schließlich in einem ganz allgemeinen Sinne immer dann, wenn unfassbare Verbrechen bekannt werden.
Serben, Kroaten und bosnischen Muslimen vorzuwerfen, sie verrieten oder verleugneten in ihrer gegenseitigen Schlächterei – mit durchaus unterschiedlicher Intensität und Effizienz an den verschiedenen Bürgerkriegsfronten – »die europäische Zivilisation« ist ebenso trivial wie der gleiche Vorwurf an die ohnmächtigen europäischen Fernsehzuschauer. Die Erklärung von grenzenloser Verwahrlosung und Gewalt in Bürgerkriegen als Abweichung oder Abfall vom »Stand der Zivilisation« ist untauglich. Es handelt sich dabei nicht um die Abweichung oder das Abfallen von »der« Zivilisation, sondern um deren historisch, wirtschaftlich, politisch und sozial bestimmte Rück- oder Schattenseiten. Der Glaube, der »zivilisatorische Standard« bestimme das Verhalten von Einzelnen, Gruppen und Institutionen ist angesichts von Bürgerkriegen nicht mehr naiv, sondern zynisch gegenüber unschuldigen Opfern kalkulierter und interessegesteuerter Gewalt.
Eine pfiffige Variante des Rekurses auf »die« Zivilisation präsentierte 1993 der amerikanische Politologe Samuel P. Huntington. Nachdem der Osten und dessen Herrschaftsideologie zusammengebrochen sind, sieht er die nächsten Konflikte entlang der Grenzen der »Kulturen« und »Zivilisationen« ausbrechen (The Clash of Civilizations – Der Zusammenprall der Kulturen). Die erste »zivilisatorische« Tat Huntingtons besteht darin, dass er sich im Schutz einer billigen Polemik gegen den »Menschenrechtsimperialismus« von universalistischen Normen verabschiedet, um die Abschottung der eigenen »Kultur« legitimieren zu können. Begriffsgeschichtlich dokumentiert er seine Vernagelung dadurch, dass er auf den weit gefassten angelsächsischen Zivilisationsbegriff verzichtet und stattdessen auf »culture« setzt – im Amerikanischen allemal nur ein Synonym für den »American way of life«. Insofern steht die deutsche Übersetzung des Aufsatzes den wahren Absichten des Autors näher als das Original und entlarvt dessen Chauvinismus. Was der »westlichen« Besitzstandswahrung dient, kommt gerade recht, so auch ein paar frisch angestrichene geopolitische Ladenhüter: Der Brennpunkt künftiger Konflikte liege, so Huntington, »zwischen dem Westen und mehreren islamisch-konfuzianischen Staaten«, denn »der Westen ist westlich und modern«. In jeder Hinsicht ein weites Feld.
Besonders beliebt ist neuerdings die Schuldzuweisung für den »zivilisatorischen« Verfall an lasche Lehrerinnen und Lehrer sowie an deren emanzipatorische Erziehungsmethoden. Falls die Geltung »zivilisatorischer Standards« allein oder auch nur primär vom Tun oder Nichttun des Schulpersonals abhängen sollte – wie die Schuldzuweisung unterstellt –, sollte man den Zivilisationsladen lieber gleich dichtmachen. Garantie für »zivilisatorische Standards« – das schafft kein Schulsystem; zum Glück übrigens, sonst hätte die Demokratisierung nach 1945 wenig Chancen gehabt, denn das damals angeblich mit der »Zivilisierung« betraute Lehrpersonal kam direkt aus dem Krieg und blieb noch sehr lange im Amt. Statt bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit larmoyant den Verlust »zivilisatorischer Standards« zu beklagen, ohne jede Reflexion darauf, was »Zivilisation« bedeutet, käme es darauf an zu untersuchen, wie die empörenden gesellschaftlichen Realitäten historisch, politisch, wirtschaftlich und sozialpsychologisch mit dem vermeintlich rundum Akzeptablen und Positiven zusammenhängen. Die sonntägliche Beschwörung »zivilisatorischer Standards« verschleiert nur, was jede historisch bestimmte Art zu leben und zu arbeiten, zu regieren und regiert zu werden an Hässlichem und Alltäglichem hervorbringt. Das ist Teil und Moment des widersprüchlichen Ganzen und lässt sich nicht anachronistisch verrechnen mit irgendwelchen »zivilisatorischen«, »westlichen« oder wie auch immer beschworenen Kassenbeständen oder Überschüssen aus besseren Tagen, im Jargon »Werten«. Als Horkheimer in wahrlich finsterer Zeit (1944/45) vom »Zusammenbruch dieser Zivilisation« und etwas ungeschützt von »Werten«, die »zu neuem Leben« gebracht werden müssten, sprach, notierte Adorno am Rand des Textes: »Vorsicht, klingt zu kulturkonservativ. Sagen, dass die Werte bewahrt werden, wenn man sie nicht bewahrt, sondern weitertreibt.« Die Vorstellung einer universalgeschichtlich aufsteigenden Linie »der« Zivilisation ist nicht falsch, aber einseitig, denn solch aufsteigender Fortschritt betrifft nicht »die« Zivilisation, sondern vor allem jene Bereiche, in denen sich starke Interessen mit Macht und Herrschaft verschwistern: »Keine Universalgeschichte führt vom Wilden zur Humanität, sehr wohl eine von der Steinschleuder zur Megabombe« (Th. W. Adorno). Mit anderen Worten: Was Menschen sind, was aus ihnen geworden ist und weiterhin wird, bleibt ziemlich ungewiss und vielfältig verflochten mit dem geschichtlichen Prozess, d. h. dem Auf und Ab von Kontinuität und Diskontinuität, Entwicklung und Stagnation, Zivilisierung und Barbarisierung. Unbestreitbar ist jedoch der massive technologische Fortschritt in der Welt der Mittel; diese werden mehr und perfekter und dies in jeder Hinsicht. Jene Menschen und Institutionen, die mit Hilfe dieser Mittel Macht, Herrschaft und Gewalt verwalten, kriegen immer ungeheuerlichere und unberechenbarere Arsenale in die Hand. Und die Zwecke, denen diese Mittel zu Diensten stehen, tragen immer neue Verkleidungen. Mit einem lupenreinen Gesinnungsbegriff von »Verantwortung« wird versucht, der (vielleicht!) berechtigten und angemessenen militärischen Intervention ein zivilisatorisches Motivkostüm umzubinden. Die Welt der Herrschafts- und Gewaltmittel hat sich teilweise verselbständigt und kann jenen, die über sie legal verfügen, jederzeit ganz oder teilweise über den Kopf wachsen oder sie zu hilflosen Zauberlehrlingen und Marionetten machen. Greifen jedoch Einzelne zur Gewalt und verüben entsetzliche Taten, sieht der common sense immer schon »die« Zivilisation untergehen, so als ob das schlechthin Böse als eine Art Heimsuchung von außen in eine sonst friedliche Gesellschaft eingedrungen wäre. In dem Moment, in dem sich Siebzehnjährige bewaffnen oder von interessierten Bürgerkriegshäuptlingen bewaffnet werden, stellen sich viele und komplexe Fragen, aber nicht die simple und simplifizierende nach dem Verbleib »zivilisatorischer Standards«. Genauso wenig, wenn zwei zehnjährige Buben ein dreijähriges Kind eineinhalb Stunden durch Liverpool schleppen und dann ermorden: »Vielleicht sagt der scheinheilige Aufschrei über den Kindsmord mehr aus über das Land als über die Tat« (Reiner Luyken, DIE ZEIT 3.12.93).
Auf allen drei Ebenen werden »Zivilisation« und »Barbarei« entknotet und einzelnen bzw. Gruppen zugeordnet statt in ihrem gesellschaftlich und historisch bestimmten Zusammenhang gesehen. Diese tagespolitische Debatte durchzieht auch eine wissenschaftliche Auseinandersetzung darüber, ob es einen »Prozess der Zivilisation« überhaupt gebe, oder ob man das Ganze als »Mythos« abtun könne.
Welche Konfusion die pauschale Berufung auf »Zivilisation« und »zivilisatorische Standards« oder die Unterstellung eines mehr oder weniger linearen »Prozesses der Zivilisation« hervorruft, lässt sich an der Kontroverse um die Bücher von Norbert Elias und Hans Peter Duerr zeigen. Elias begreift »zivilisiertes Verhalten« als Resultat historisch permanent zunehmender Affektkontrolle der Menschen. Diese Selbstkontrolle ist verbunden mit einer Privatisierung bzw. Intimisierung körperlicher Funktionen. Begleitet wird dieser »Prozess der Zivilisation« zunächst mit der Konzentration, dann mit der Monopolisierung der Gewalt in staatlicher Hand. Gewalt wird durchorganisiert und arbeitsteilig verschiedenen Trägern übergeben. »Man kann die Zivilisation des Verhaltens und den entsprechenden Umbau des menschlichen Bewusstseins- und Triebhaushalts nicht verstehen, ohne den Prozess der Staatenbildung und darin jene fortschreitende Zentralisierung der Gesellschaft zu verfolgen« (Norbert Elias). Ohne Zweifel beruhigt die staatliche Konzentration der Gewalt – unter bestimmten Bedingungen – das gesellschaftliche Gewaltgeschehen. Überzogen ist jedoch die Vermutung, der Prozess der Institutionalisierung der Gewalt und die Verwandlung von Fremd- in Selbstzwang durch die Verinnerlichung »zivilisatorischer« Normen laufe immer und automatisch auf eine Rationalisierung der Gewalt hinaus. Rationalisierung verstanden in dem Doppelsinne von Beschränkung und vernunftgeleiteter Anwendung der Gewalt. Die Institutionalisierung von Gewalt, so viel lehrt ein rascher Blick auf die Geschichte allemal noch, kann die Gewaltanwendung berechenbarer, rationaler in ihrer Ziel-Mittel-Relation und gerechter machen. Haltbare Garantien dafür gibt es aber noch nicht sehr lange und längst nicht überall. Was die im einzelnen Menschen verankerten »zivilisatorischen Standards« dazu beitragen, ist weitgehend ungeklärt. Empirisch erwiesen ist jedoch, dass jene Standards nachhaltigem wirtschaftlichem Druck und andauernder sozialer Not nicht lange standhalten. Ganz zu schweigen vom förmlichen Verschwinden jeglicher »zivilisatorischer Standards«, wenn marodierende Männerbanden unter staatlicher Aufsicht Bürgerkriege ausfechten. Aber auch die Haltbarkeit rechtsstaatlicher Begrenzung der Gewalt steht nirgends ein für allemal fest; dass staatliche Gewalt berechenbar, rational und neutral eingesetzt wird von den sie verwaltenden Institutionen, ist jedenfalls auch in demokratischen Rechtsstaaten kein Naturgesetz.
Das hängt mit der Begründung von Staatsmacht zusammen. Viel eher als in der Form von Vertragsabschlüssen oder anderen konsensualen Verfahren ist die Begründung von Staaten historisch wie aktuell als organisiertes Verbrechen darstellbar (einen matten Abglanz davon enthält das Wort »Vereinigungskriminalität«). Der New Yorker Historiker Charles Tilly hat solche komplizierten Prozesse 1985 unter dem Titel »War Making and State Making as Organized Crime« (»Kriegführung und Staatsbildung als organisiertes Verbrechen«) beschrieben. Aus der Fülle des Materials greife ich nur ein Beispiel heraus. Die venezianische Regierung erpresste von ihren eigenen Kaufleuten Schutzgelder in einer Weise, die nicht zu unterscheiden ist von der Schutzgelderpressung gewöhnlicher Krimineller; die Regierung installierte sich während Jahrhunderten förmlich als Sicherheits- und Schutzverkäufer – mit entsprechenden Provisionen. Freilich schlachtete man die Kuh nicht, von deren Milch man lebte und sorgte mit militärischen und politischen Attacken auf den Konkurrenten – allen voran Genua – dafür, dass auch dort die Schutz- und Sicherheitskosten anstiegen. Die heimischen venezianischen Kaufleute sollten ja konkurrenzfähig bleiben. In dem Maße, wie sich das Sicherheits- und Schutzgeschäft auf größere Territorien ausdehnte und an stehende Heere vergeben wurde, stiegen die Kosten. Staaten wurden so zu Großschuldnern und damit zu lukrativen Partnern der Financiers und Banken. Als Ludwig XIV. 1715 starb, betrug die kriegsbedingte Verschuldung drei Billionen Francs, das entspricht dem königlichen Steuerertrag von 18 Jahren. Diese symbiotische Verbindung von militärischer Gewalt, Staatsapparat, Finanz- und Steuerwesen treibt zwischen Mittelalter und Neuzeit den modernen Staat mit Gewaltmonopol hervor. Die Gewalt gegen eigene und fremde Bürger sowie die gewaltsame Durchsetzung von Interessen gegenüber Dritten waren dabei nicht zufälliges Beiwerk, sondern konstitutive Momente und wichtige Triebkräfte. Wenn man Elias’ These, dass Soziogenese des Staates und Psychogenese der »zivilisierten« Menschen sich ergänzende und bedingende Prozesse sind, wortwörtlich nähme, dürfte man sich über den Verlauf der letzten 500 Jahre Geschichte gar nicht mehr wundern. Auf jeden Fall ist es ratsam, die These nicht ganz wörtlich zu nehmen und sich im Übrigen an Kant zu halten, der 1784 in einer unerhörten Formulierung von der »barbarischen Freiheit der schon gestifteten Staaten« sprach. Oberflächlich mögen sich die Bürgerinnen und Bürger in diesem wechselseitigen Prozess von Staats- und Zivilisationsbildung einen »zivilisatorischen« Firnis als Schutz zugelegt haben. Allzu kratzfest durfte dieser schon allein deshalb nicht sein, weil bislang fast jeder Staat »seine« Bürgerinnen und Bürger schon einmal dazu aufrief und verpflichtete, Angehörigen anderer Gemeinwesen den Status des »Zivilisierten« zuerst abzusprechen, dann mit rabiaten Methoden wegzunehmen. Und wo Staaten zögerten, halfen gesellschaftliche Agenturen nach.