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Es wäre jedoch töricht zu bestreiten, dass es das, was Elias in einem nach wie vor faszinierenden Tableau als »Prozess der Zivilisation« beschreibt, gegeben hat. Rationalität und Haltbarkeit der Ergebnisse dieses Prozesses jedoch hat er ohne Zweifel überschätzt, dessen fundamentale Doppeldeutigkeit und Doppelbödigkeit weitgehend übersehen.
Und genau daraus will Hans Peter Duerr Norbert Elias einen Strick drehen, indem er ihn in die Nähe jener Kolonialideologen rückt, die »westliche Zivilisation« normativ verstanden und verstehen, um diese dem Rest der Welt aufzuherrschen. Zwar konzediert er, dass Elias »keine expliziten Werturteile gefällt« habe und kolonialistischem bzw. eurozentrischem Überlegenheitsdünkel fernstehe, befürchtet aber, dass man Elias Thesen so verstehen könnte. Was gilt? Bei Duerr kann ziemlich oft »genauso gut das Gegenteil der Fall sein«. Diese krude Argumentationsweise kann man vergessen. Für unseren Zusammenhang relevant ist, wie Duerr sein Vorhaben versteht. Im Prinzip will er Elias nicht zum Kolonialisten stempeln: »Mir geht es vielmehr darum, die Behauptung, ›westlichen‹ Menschen sei innerhalb der letzten fünfhundert Jahre das, was Nietzsche ›die Tierzähmung des Menschen‹ genannt hat, wesentlich besser gelungen ist als den Orientalen, den Afrikanern oder Indianern, als falsch aufzuweisen.« Ein vernünftiges Vorhaben. Wer wollte es bestreiten? Duerr breitet im vorerst letzten Band seiner Studie zum »Mythos vom Zivilisations-Prozess« (»Obszönität und Gewalt«) auf über 700 Seiten ein immenses Material aus. Mit einer Beispiel an Beispiel reihenden Belegsammlung ohne jeden erkennbaren theoretischen Anspruch, größere historische Zusammenhänge herzustellen oder gar zu analysieren, will Duerr gleichsam kasuistisch darlegen, dass jener »Prozess der Zivilisation«, den Elias untersuchte, eigentlich gar nicht stattgefunden habe bzw. nicht stattfinden konnte, weil »in sämtlichen menschlichen Gesellschaften die gleichen elementaren Gefühls- und Verhaltensdispositionen anzutreffen sind«, die die Menschen zu immer gleichem Verhalten bringen. Alles läuft immer auf ungefähr dasselbe hinaus, alle Kulturen werden gleich und alle Katzen grau. Duerr rechtfertigt das aparte Vorgehen: »Selbstverständlich vernachlässigt derjenige die Unterschiede, der nach den Gemeinsamkeiten sucht. Das ist das Wesen der Abstraktion.« Richtig, aber es kommt schon noch ein wenig darauf an, wovon abstrahiert wird und welche Unterschiede man vernachlässigt. Wenn man von sozialen Prozessen die für jeden einzelnen charakteristische Differenzen wegstreicht oder einfach identische Handlungsmotive in sie hineinprojiziert, kommt man zum bündigen Ergebnis, dass alle Kulturen gleich sind. Im Grunde dreht Duerr Elias’ positiv besetzten Zivilisationsbegriff nur um und akzentuiert ihn negativ. Das ist nicht Duerrs Erfindung, sondern hat einen Grund in der Sache selbst.
Begriffsgeschichtlich lässt sich zeigen, dass mit demselben Begriff ein und derselbe Prozess positiv oder negativ charakterisiert oder seine Existenz gar bestritten werden kann. Die Doppeldeutigkeit ist konstitutiv für den Begriff »Zivilisation«, und diese Doppeldeutigkeit allein macht ihn unbrauchbar für eine theoretisch konsistente Argumentation. Wenige sozialwissenschaftliche Grundbegriffe sind nach wie vor so mit historischen Mystifikationen verbunden wie der Begriff »Zivilisation«. An der zählebigsten dieser Mystifikationen hat Elias selbst mitgestrickt. Es geht dabei um die Rückprojektion der erst Ende des 19. Jahrhunderts einsetzenden und im Ersten Weltkrieg kulminierenden Kontroverse um die »Ideen von 1789« und die »Ideen von 1914«. 1789 steht dabei für »Zivilisation«, die von deutscher Seite als seichte Vorstufe der Barbarei abgewertet wurde; 1914 steht für »Kultur«, die von Frankreich her als Ausbund von Nationalismus und Militarismus dargestellt wurde. In modifizierter Form hat Elias die Ansätze dieser Kontroverse ins 18. Jahrhundert zurückverlegt: demnach war »Kultur« eine »gegen den Adel gerichtete Schöpfung der politisch ohnmächtigen deutschen Bildungsschicht« und betonte das Nationale, »während sich in ›civilisation‹ die französische höfische Gesellschaft artikuliert habe«, mit einem Vorrang für das Übernationale. Der Zürcher Historiker Jörg Fisch hat die unhaltbare Konstruktion eines wesentlichen Unterschieds zwischen dem französischen und dem deutschen Sprachgebrauch im 18. und 19. Jahrhundert fundiert zurückgewiesen.
Entgegen solchen Anachronismen ist von einer weitgehend gleichen und positiven Bedeutung der beiden Begriffe auszugehen, die vor dem Ende des 19. Jahrhunderts weder national akzentuiert waren noch eine hierarchische Ordnung unterstellten. In den beiden artikulierte sich aber andererseits ein klarer Überlegenheitsanspruch gegenüber Nicht-Europäern. Gegenbegriffe zu »Kultur« und »Zivilisation« sind »Natur« und »Barbarei«, übergeordnet werden ihnen gelegentlich »Bildung« (etwa bei Humboldt) oder »Moral« (z. B. bei Kant).
Bevor die beiden Begriffe zu Synonyma wurden, bezeichnete das lateinische Wort »cultura« die Bestellung des Bodens in der Landwirtschaft und erst sekundär die Erziehung des Menschen (»cultura animi«). »Zivilisation« bzw. das lateinische »civilitas« dagegen verlor nie ganz die Verbindung mit dem Stammwort »civis«/Bürger bzw. »civitas«/ Bürgerschaft, Staat. Doch hat sich der Gegensatz zwischen landwirtschaftlich und politisch verstandenem Begriff schnell zersetzt, weil die Wörter »civilitas«, »civilité«, »civility« und – in geringerem Maße – »civiltà« gleichsam entpolitisiert wurden und seit der frühen Neuzeit »Höflichkeit« und »gutes Benehmen« bedeuten.
Spätestens mit der Aufklärung werden »Kultur« und »Zivilisation« in allen europäischen Sprachen zu Synonyma und in dem Maße geschichtsphilosophisch aufgeladen, wie die theologisch begründeten Weltbilder verblassen oder ganz verschwinden. »Kultur« und »Zivilisation« bilden jetzt das Telos der Geschichte. Als geschichtsphilosophische Zielprojektionen haben sie kaum empirisch bestimmbare Gehalte und dienen vor allem dazu, die Menschen von der Natur und natürlicher Evolution abzuheben und auf die Zukunft auszurichten. In dieser Perspektive geraten »Kultur« und »Zivilisation« zur zweiten Natur der Menschen, zu dem, was diese von der Natur grundsätzlich unterscheidet.
Mit der geschichtsphilosophischen Ladung handeln sich die beiden Begriffe eine Doppeldeutigkeit ein: »Kultur« und »Zivilisation« werden zwar im allgemeinen als aufsteigende Linie oder Fortschritt konzipiert, doch muss aus plausiblen Gründen und bloßer Erfahrung eingeräumt werden, dass die einzelnen Schritte der Kultivierung und Zivilisierung positive und/oder negative Konsequenzen zeitigen können. Das hängt damit zusammen, dass »Kultur« und »Zivilisation« immer ein Doppeltes gemeint haben, den Prozess der Kultivierung bzw. Zivilisierung und dessen Resultate. Damit entsteht und wächst die Gefahr, die – letztlich – positiven Resultate mit den – unter Umständen – negativen Seiten des Zivilisationsprozesses zu verrechnen, nach der Devise: Passiere, was wolle, für »Kultur« und »Zivilisation« als Resultate bleibt der Saldo immer positiv, denn die Schattenseiten des Prozesses erscheinen nur als historische Reibungsverluste. Unüberbietbar hat das FAZ-Feuilleton (21.12.93) die verlogenen Prätentionen, die mit beiden Begriffen fest verschweißt sind, noch einmal aufgetischt: »Die Umweltproblematik ist zur Kulturfrage unserer Zivilisation, nicht nur der Industrienationen, geworden und damit zum Zentralbegriff einer neuen Kosmopolitik.«
Vereinzelte Versuche, der Doppeldeutigkeit zu entgehen, indem man etwa den Zivilisationsbegriff für die negativen, den Kulturbegriff für die positiven Seiten des Prozesses wie der Resultate der »Zivilisation« reklamierte, setzen sich nicht durch. Heinrich Pestalozzi identifizierte das Ancien Régime 1797 als »Civilisationsverderben«, »Civilisation« mit »Tierheit« und »Cultur« mit »Menschlichkeit«. Auch der umgekehrte Normierungsversuch scheiterte: »Das Streben der Menschheit ist ihre Civilisation. Jeder Fortschritt, den ein Volk in seiner Civilisation macht, wird als eine teilweise Erfüllung seiner Lebensaufgabe betrachtet und geehrt; und nicht leicht achten wir ein Opfer für zu groß, wenn es der Förderung oder Ausbreitung menschlicher Civilisation dient« (Johann Caspar Bluntschli 1857).
Solange das Fortschrittsmodell unbestritten blieb, galt auch das »Axiom der Vergleichbarkeit« (Jörg Fisch) und der Messbarkeit von »Kultur« und »Zivilisation« an einem einzigen, von Europa aus definierten Maßstab. Mit der Pluralisierung von Kulturen und Zivilisationen in der wissenschaftlichen Ethnologie, einsetzend mit Edward Burnett Tylor (1871), hat der Maßstab seine Selbstverständlichkeit und seine Geltung eingebüßt. Kulturen und Zivilisationen sind heute nicht mehr länger mit Hinweis auf den buchhalterisch bereinigten »Stand« von »Kultur« und »Zivilisation« einzuordnen, sondern nur – auf der Basis der Anerkennung universalistischer ethischer und rechtlicher Normen – untereinander zu vergleichen. Die Kriterien dafür sind in den doppeldeutigen und doppelbödigen Begriffen »Kultur« und »Zivilisation« im Singular gerade nicht zu fassen, sondern nur ethisch-politisch bzw. rechtlich; als normierende und normative Begriffe sind sie deshalb obsolet geworden.
Dem versucht man wieder einmal zu entgehen, indem man den geschichtsphilosophisch positiv aufgeladenen Begriff »Zivilisation« negativ umpolt. Das Muster dafür liefert der seit dem Fin de siècle geläufige, abendländisch oder untergangssüchtig oder beides zugleich orchestrierte Kultur- und Zivilisationspessimismus – wilhelminischer Stammtisch-Nietzsche.
Zygmunt Bauman diagnostizierte das »Jahrhundert der Lager« als Kulminationspunkt und legitimes Produkt »unserer modernen Zivilisation«. Günter Kunert räsonierte über »die Abschaffung der Kultur durch die Zivilisation« (DIE ZEIT 4.2.1994), als ob er das Abendland mit der Munition aus dem gymnasialen Gesinnungsaufsatz der 50er Jahre verteidigen müsste: »Wir haben doch mehr Geräte ... als je zuvor ... Man ist nicht mehr neugierig ... Obwohl wir ... mehr Freizeit haben, fehlt uns, um diese zu nutzen, die Muße ... Wir sind längst von Ungeduld infiziert.« Wer ist »wir«?
Bauman und Kunert sehen den zivilisatorischen Zug bremsen- und führungslos auf einer einzigen abschüssigen Strecke davonrasen und vergessen darob die Vielfalt des Geländes, durch das sich der Zug seit der Aufklärung bewegt. An der bisherigen Geschichte gibt es gar nichts zu beschönigen, aber mit einem weichenlosen, schnurgeraden Schienenweg hat sie nichts zu tun – in ihren Abgründen wie in ihren besseren Momenten. »Die Kritik der instrumentellen Vernunft« (Max Horkheimer) und »Die Dialektik der Aufklärung« (Max Horkheimer/Th. W. Adorno) haben das unvermeidliche Pendeln aller bisherigen zivilisatorischen Bewegungen zwischen Kultur und Barbarei an den gesellschaftlichen Realitäten dargelegt; ein Pendeln, das »nicht auf einem Zuviel, sondern einem Zuwenig an Aufklärung« beruht, und »die Verstümmelungen, welche der Menschheit von der gegenwärtigen partikularistischen Rationalität angetan werden«, ebenso produziert wie Widerständiges und Kritik: »Residuen von Freiheit« und »Tendenzen zur realen Humanität«.
An die Stelle fortschrittstrunkenen Vertrauens auf die Zivilisation ist insbesondere bei Bauman einfach deren pauschale Denunziation getreten. Fahrplanmäßige Schematismen ersetzen dialektisches Denken. Ein geschichtsphilosophisch konstruiertes »widerspruchsloses Gesamtsubjekt« hat das andere abgelöst und suggeriert erneut »simple Totalentwicklung« – dieses Mal abwärts. »Solche Vorstellungen gehören zur Fassade, den kurrenten Ideen von Universalgeschichte und Lebensstil.«
5 Geopolitik oder: Man braucht Platz
Ein Gerücht schleicht durch Europa. Dem Gerücht nach sollen die Wörter »Geopolitik« oder »geopolitisch« Sachhaltiges aussagen. Gerüchte leben davon, dass sie sich unabhängig von ihrer Stichhaltigkeit verbreiten. Sie sind Selbstläufer wie gemeine Dummheiten und Binsenwahrheiten. Im Falle der »Geopolitik« lautet die vom Gerücht zur Binsenwahrheit eingedickte Reduktionsformel: »Die Geopolitik ist nichts anderes als eine von den Zwängen der Geographie geforderte Politik« – so Pierre Béhar, Professor »für deutschsprachige Literatur und Kultur« sowie »zentraleuropäische Geopolitik«. Trotz des forschen Tons ist über »Zwänge der Geographie« wissenschaftlich nichts ausgemacht außer der Banalität, dass einem Inselstaat am Äquator Schiffe wichtiger sind als wintertaugliche Kettenfahrzeuge. Aber schon die Frage nach Art der Schiffe, die ein solcher Staat benötigt, findet in seiner geographischen Lage keine Antwort. Dass Politik in Raum und Zeit stattfindet und insofern eine geographische Grundlage und eine chronologische Dimension hat, ist eine logische Voraussetzung, die nichts dazu sagen kann, wie und in welchem Ausmaß geographische Lage und Chronologie (sowie erheblich wichtigere Faktoren!) eine bestimmte Politik zu einem bestimmten Zeitpunkt beeinflussen. »Geopolitische Erklärungen« sind deshalb notorisch erschlichen und von kaum unterbietbarer Schlichtheit. So offeriert der Militär-Geopolitiker Heinz Brill in seinem Ullstein-Buch »Geopolitik heute« für die Tatsache, dass die USA auf den Fall der Mauer gelassener reagierten als andere Staaten, die »geopolitische Erklärung«, dass die USA »kein unmittelbarer Nachbar Deutschlands« seien. Was nicht reines Gerücht bleibt, sondern das Niveau einer Binsenwahrheit erreicht, bewegt sich in Brills Buch zur »Geopolitik« in dieser Preislage. Eine andere Studie »zur Modellierung geopolitischer und geoökonomischer Prozesse« (Stefan Immerfall) kommt über Pleonasmen nicht hinaus: »Zentrumsbildung und Grenzziehung« haben demnach »oft« eine »geographische Dimension« – und Schimmel sind »oft« weiß. Nur wo Wissenschaft mit »integrativer Integrität« betrieben wird, ist auch die Bemerkung erlaubt, »mehr und mehr« werde »die Bedeutung von Raum und Zeit für soziale Geschehensabläufe wieder entdeckt.« Was wären denn »soziale Geschehensabläufe« außerhalb von Raum und Zeit? Einbildungen und Phantasmen. Raum und Zeit sind elementarste Voraussetzungen aller Wahrnehmung, Erfahrung und Erkenntnis.
Was es dagegen mit der Konsistenz »geopolitischer Logik« nach der von der »taz« (7.6.95) beschworenen »Rückkehr der Geopolitik« auf sich hat, beschreibt Béhar: »Die geopolitischen Fakten sind zweifacher Art. Einige dieser Fakten sind zwingend«, andere »nur richtungsweisend«. Trefflich. Welche Art von Fakten wohin gehören, und nach welchen Kriterien sie abgegrenzt werden, verrät der Autor nicht. Er kann dies so wenig wie alle anderen, die von »Geopolitik« daherreden, als gäbe es diese als »Faktum«, als »Wissenschaft« oder als »Logik«. »Geopolitik« beruht nicht auf Fakten oder Logiken. Sie leitartikelt sich »Fakten« und »Logiken« zurecht und konstruiert beliebige Bezüge, die als »Kausalitäten« oder »Gründe« für politisch kontingente Ziele herhalten: »Die Demokratie hat einen geopolitischen Raum: den Nationalstaat« (so die »Geopolitiker« Lucio Caracciolo und Angelo Bolaffi). Drei Großbegriffe, aus denen zwei Anachronismen und ein Gemeinplatz destilliert werden. Erstens: Die Behauptung über den im Übrigen immer sehr lockeren und kurzfristigen Zusammenhang von Demokratie und »Nationalstaat« ändert nichts daran, dass einige Formen der Demokratie über zweitausend Jahre älter sind als der Frischling »Nationalstaat«. Zweitens: Wahrscheinlich ist, dass die Demokratie, wenn sie den Namen verdient, in Zukunft ohne den Anspruch auf »Nationalstaatlichkeit« auskommen muss, weil über das Kriterium nationaler Zugehörigkeit niedergelassene Ausländer immer von politischer Partizipation ausgeschlossen, aus dem Land getrieben oder getötet wurden. Der »geopolitische Raum« schließlich ist jenseits der Banalität, dass jeder Staat ein Territorium braucht, für demokratische Verfassungen so wichtig wie das Wetter.
Der Versuch, aus dem Gebrauch des Schlagworts Geopolitik herauszukriegen, was damit gemeint ist, scheitert daran, dass der Begriff eingesetzt wird wie ein Joker. Wenn man trotzdem nicht aufgeben will, stellen sich zwei Fragen. Wann entstand und was war Geopolitik? Und warum taucht Geopolitik in Frankreich, Italien und hierzulande wieder auf?
Auf die Frage, wann sie entstanden ist, gibt es von Seite der Geopolitik – wie bei der Frage nach dem Status ihrer »Fakten« – zwei Antworten. Die erste läuft darauf hinaus, der Geopolitik durch hohes Alter Reputation zu verschaffen. »Die Geopolitik ist eine Tochter der Geographie ... Die Geographie ist eine alte Wissenschaft« (Pascal Lorot). Im Prinzip werden damit alle Autoren als Geopolitiker eingemeindet, die sich seit der Antike irgendwie mit geographischen Fragen befasst haben. Die französischen Geopolitiker haben einer ihrer Zeitschriften aus solchem Ehrgeiz den Titel »Hérodote« verpasst. Für andere beginnt die Geopolitik mit Montesquieu, der sich im »Esprit des Lois« (1748) Gedanken über den Zusammenhang von Gesetzen, Klima, Bodenbeschaffenheit, Sitten, Einwohnerzahl, Handel und Religion machte, oder mit Turgot, der 1751 einen Traktat »Über politische Geographie« schrieb, oder mit Hegel, der 1830 über den »Naturzusammenhang oder die geographische Grundlage der Weltgeschichte« spekulierte. Die geographischen Überlegungen von Montesquieu, Turgot und Hegel haben einen restlos untergeordneten Stellenwert in deren Gesamtwerk. Für die Begründung einer Geopolitik geben sie so wenig her wie kosmologische Spekulationen antiker Philosophen für die Kernphysik.
Die zweite Antwort auf die Frage nach Entstehung der Geopolitik verlegt den Zeitpunkt in die Epoche des Imperialismus. Damals beschäftigten sich Geographen wie Friedrich Ratzel (1844-1904) mit den »Gesetzen des räumlichen Wachstums der Staaten«. Von der Ideologie des Alldeutschen Verbandes imprägniert, suchte Ratzel nach Rechtfertigungen, um Grenzen zu verschieben und Gebiete »geopolitisch« zu arrondieren. Das als Organismus verstandene Reich Bismarcks sollte nach 1871 wachsen wie ein menschlicher Körper. Max Weber kleidete 1895 dieselbe Hoffnung in das Wort von der Reichsgründung als »Jugendstreich«, dem »Taten« folgen sollten. Ratzels Hauptwerke, »Politische Geographie« (1897) und »Der Lebensraum« (1901), enthalten zwar das Wort »Geopolitik« nicht, aber ihr Autor verstand sich als Ratgeber der Reichsführung bei deren Jagd nach einem »Platz an der Sonne« (Staatssekretär v. Bülow 6.12.1897): »Es liegt im Wesen der Staaten, dass sie im Wettbewerb mit den Nachbarstaaten sich entwickeln, wobei die Kampfpreise zumeist in Gebietsteilen bestehen« (Ratzel). Mit dem Buch »Das Meer als Quelle der Völkergröße« (1900) wurde Ratzel zu einem der Mentoren unter den »Flottenprofessoren«, die das bürgerliche Deutschland ex cathedra auf das Flottenbauprogramm – und damit auf einen Krieg gegen England – einschworen. Ein zentraler Begriff Ratzels ist jener des »Lebensraums«, den er von Oscar Peschel übernommen hat, der ihn 1860 bei der Besprechung von Darwins »On the Origin of Species« (1859) verwendete. Ratzel definierte den Begriff an keiner Stelle, sondern beschwor ihn nur in Analogien und Analogieschlüssen. Nachhaltig wirkte der Vergleich mit Beobachtungen von der pazifischen Insel Laysan, wo sich aus Mangel an »Nistplätzen der Seevögel ... das Recht der Besitzenden mit grausamer Folgerichtigkeit« durchsetze. Die »Volk-ohne-Raum-Propaganda« konnte hier nahtlos anschließen.
Als Begründer der Geopolitik und Erfinder des Neologismus gilt der schwedische Geograph Rudolf Kjellén, dessen Arbeiten zwischen 1901 und 1916 erschienen. Aber erst die deutsche Übersetzung von 1917 (»Der Staat als Lebensform«) fand breitere Beachtung. Der gelegentlich als Begründer der Geopolitik genannte britische Geograph Halford J. Mackinder (1861-1947) gebrauchte den Begriff in seinem 1904 erschienen Aufsatz »Der geographische Angelpunkt der Geschichte« ebenso wenig wie der amerikanische Marineschriftsteller Alfred T. Mahan. Dem ersten ging es um britische Seeherrschaft, und der zweite dachte nur sandkastenmäßig-militärisch.
Kjelléns »Der Staat als Lebensform« umfasst fünf Kapitel zu Ethnopolitik, Wirtschaftspolitik, Sozialpolitik, Herrschaftspolitik und Geopolitik. Letztere umschreibt er als »die Lehre vom Staat als geographischem Organismus oder Erscheinung im Raume: also der Staat als Land, Territorium, Gebiet oder ... Reich.« Es ist bezeichnend für die geopolitische Mode zwischen 1917 und 1945, dass keiner ihrer Anhänger auch nur bescheidene Anstrengungen unternommen hat, den Gegenstandsbereich und die Methoden der von vielen (nicht von allen) als Wissenschaft verstandenen Geopolitik zu bestimmen. Bei Kjellén wird der Staat von seiner elementarsten Voraussetzung her gefasst, von seiner Territorialität, aus der der Rest abgeleitet wird. Für ihn wiegen denn auch Gebietsverluste schwerer als der Verlust von Menschenleben.
Nirgends fand Geopolitik so viel Beachtung wie bei deutschen Konservativen und Nationalsozialisten. Beiden war sie ein Hebel zur Revision der Pariser Friedensverträge von 1919/20. Die schillerndste Figur war Karl Haushofer (1869-1946), Mitglied der NSDAP, mit einer Frau jüdischer Herkunft verheiratet, befreundet mit Rudolf Hess und intimer Feind von Goebbels, der ihn nach 1939 kaltstellte. Auch wenn man den direkten Einfluss der Geopolitiker auf die Herrschaft der Nazis nicht überschätzen darf, so hat sich doch das Unternehmen, das sich zwischen 1924 und 1944 um die »Zeitschrift für Geopolitik« gruppierte und den Nazis die Stichwörter lieferte, nachdrücklich diskreditiert: Vom Kampf gegen Weimar über den Antisemitismus bis zum »Drang nach dem Osten« ist hier »geopolitisch« alles zur Propaganda aufbereitet worden. Das kritisch gemeinte Wort vom deutschen »Drang nach dem Osten« prägte der Pole Julian Klaczko 1849; Geopolitiker und Nazis drehten es um und machten es zur Fanfare. Daran ändert nichts, dass Haushofer selbst gegen den Krieg mit der Sowjetunion war. »Das Gesetz der wachsenden Räume« formulierte Fritz Hesse schon 1924. 1933 deklarierte sich die Geopolitik freiwillig als »nationale Staatswissenschaft«, ganz nach Haushofers Motto: »Die Geopolitik will Rüstzeug zum politischen Handeln liefern und Wegweiser im politischen Leben sein.« Umso peinlicher berührt es, wenn neuerdings akademische Gesellenarbeiten versuchen, Geopolitik und Geopolitiker von ihrer Kollaboration mit den Nazis reinzuwaschen. Haushofer hat es abgelehnt, der Forderung seines Kollegen Richard Hennig nachzukommen, Geopolitik eindeutig von Rassenpolitik abzugrenzen. Er räumte nur den Vorrang des »Rechts des Bodens« ein und sprach von »Blut und Boden als Widerlagern« des »gewaltigen Bogens« (4.6.1935), den die Politik nach 1933 geschlagen habe. Die 1994 erschienene Dissertation Frank Ebelings sieht dagegen in der Geopolitik einen Beitrag zur »Stabilisierung ... der Weimarer Republik«. Er schreibt Haushofer »skeptischen Realismus« zu und verniedlicht dessen Unterstützung für Hitlers Außenpolitik als »Ausdruck des Willens einer Idee, über die nationalen Grenzen hinaus ordnungsgebend tätig zu werden.« Mit dem »Denken der Welt« und »Größe« (Michel Korinman) hat die abgeschmackte Scharlatanerie, die zwischen 1917 und 1945 in Deutschland als Geopolitik auftrat, nichts zu tun. Deren trostlose Geschichte kann es nicht gewesen sein, die die Geopolitik in Frankreich, Italien und in der BRD wiederbelebt hat.
Die Gründe dafür liegen in den drei Ländern unterschiedlich, wenn es auch Gemeinsamkeiten gibt und Frankreich den Vorreiter spielt. Man kann das in jeder großen Pariser Buchhandlung überprüfen. Dort füllt die Abteilung »Géopolitique« sechs Laufmeter, gefolgt von einem Meter »Polémologie« (Kriegeskunde), an die sich die Abteilung »Menschenrechte/Humanitäres« mit kaum einem halben Meter Bücher anschließt. Geopolitik hat Konjunktur, und ein »Dictionnaire de géopolitique« ordnet alle Gemeinplätze handlich auf über 1000 Seiten. Seit neuestem ist Geopolitik in Paris ein universitärer Studiengang. Dass es dazu kam, ist das Verdienst des Geographen Yves Lacoste. Der erklärt sich den Wiederaufstieg der Pseudowissenschaft Geopolitik disziplingerecht schlicht: Als es 1979 zum Krieg zwischen den drei kommunistischen Staaten Vietnam, Kambodscha und China kam, fehlte den Journalisten eine Erklärung, denn das Ost-West-Raster versagte. Die Journalisten schauten auf die Karte, sahen das Mekong-Delta und verschrieben sich »geopolitischen Erklärungen« – eine journalistische Improvisation steht also am Beginn der Renaissance der Geopolitik in Frankreich.
Diese Renaissance fiel zusammen mit dem Auftreten der »Neuen Philosophie« in Frankreich. Ebenso theatralisch wie hypermoralisch grundiert, verabschiedeten sich damals Teile der Pariser 68er-Intelligenz von ihrem konfusen Bistro-Maoismus. Lacoste selbst gehörte nicht zu dieser Generation, aber zu einer Fraktion von »Tiers-Mondistes« (Dritte-Welt-Fans), denen die Verbrechen Pol Pots und anderer Diktatoren ihr Weltbild zerstörten. Denjenigen, denen früher das Herz für den Klassenkampf im Weltmaßstab und für »die Verdammten dieser Erde« schlug, erschien jetzt über Nacht »die Geographie als Handlungsmittel« (moyen d’action). Als »militante Geographen« wandten sie sich zunächst gegen »die Geographie der Professoren« (Yves Lacoste). Später versuchten sie Einfluss auszuüben auf die »Entscheider« in Wirtschaft, Politik und Militär. Historische Analogien sollten das Prestige steigern: Herodot sei, so Lacoste, nicht nur Historiker gewesen, sondern habe mit seinem Wissen über Persien die Raubzüge Alexanders des Großen erst ermöglicht. Ob bei der Investitionsberatung multinationaler Konzerne, bei staatlichen Entwicklungsprojekten oder als »Ratgeber von Staatschefs« – für alles stellt »die Geographie« nach Lacoste »ein ausgezeichnetes Herrschaftsmittel« bereit (»Den Boden denken«, Autrement, Nr. 152, 1995). Der Formel à la mode entsprechend, wird da zwar »bodennah« platt geredet, aber wenig gedacht – schon gar nichts zu Ende. In der Zeitschrift »Hérodote«, die den Untertitel »Revue de géographie et géopolitique« erst seit 1982 trägt, hieß die Zielgruppe 1976 noch etwas anders: »für die Unterdrückten«. Was jedoch den Gegenstand und die Methode der aufgewärmten Geopolitik ausmacht, so ist alles beim Alten geblieben: Kein einziger Beitrag in 20 Jahren, der die Grundlagen klärte. Vielmehr tischt das Organ unentwegt Ladenhüter auf, die in ihrer Schlichtheit auch von Haushofer stammen könnten. »Die geopolitische Methode« bezieht »ihre Argumente aus der geographischen Logik, und als Arbeitsgrundlage dienen ihr Karten« (Yves Lacoste 1990). Allenfalls kann man von einem Rückzugsmanöver sprechen, wenn Lacoste einräumt, dass »es ja nicht eine Geopolitik, sondern verschiedene Geopolitiken« gibt – und zwar so viele wie Nationalstaaten. Das war die Einbruchstelle für den mit Ressentiments gegen Deutsche unterlegten Salon-Nationalismus, in den Lacoste und die gesamte Zeitschrift nach 1989 umkippten. Die Zeitschrift bietet heute nur noch nationale Propaganda, unter dem Vorwand, man dürfe die »Idee der Nation« nicht der »nationalistischen extremen Rechten« (Hérodote, Nr. 72/73, 1994) überlassen. Fazit: Zu den »geopolitischen« kamen die post-Jetons hinzu (»Westen«, »Zivilisation«, »Identität« und »kollektives Bewußtsein«). Geopolitik aber blieb, was sie immer war: Leutnants-Latein in Form militärischer Geländekunde, die bestimmt wird durch logistische, taktische und strategische Plausibilitätserwägungen oder Leitartikel-Prosa, die ihre nationale Borniertheit hinter begrifflichen Nebeln verbirgt. Nur lächerlich wirkt, wenn derlei von der deutschen Anhängerschaft als »Hérodote-Schule« beweihräuchert wird.