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Tora war glücklich. Niemand sah sie. Sie saß über ihren Schulbüchern. In braunen Schutzumschlägen aus dem Einwickelpapier von Ottars Laden. Sie hatte das Papier mit Zeichnungen verschönert. Aber das Papier hatte Rillen, die nicht zu verdecken waren. Sie verliefen quer durch die Zeichnungen. Es sah aus, als ob man mit den Nägeln darübergekratzt hätte.
Sie hatte das Aufsatzheft vom »Konfirmanden« sofort zurückbekommen. Er hatte gesagt, dass er enttäuscht von ihr sei. Ja, sicher. Sie war auch enttäuscht.
Was wollte sie werden, wenn sie erwachsen war? Sie würde wohl Treppen putzen, in die Frosterei gehen, Kinder hüten und Milch holen.
Nein! Sie würde Decken sticken, in einem Büro sitzen und einen Mann anlächeln, wenn sie die von der Haushaltshilfe gekochte Mahlzeit verzehrten. Dann würden sie sich mit einer Serviette den Mund abwischen und die ganze Zeit lächeln. Nein! Sie wollte reich sein! Sie wollte hinaus in die Welt ziehen und eine berühmte Schauspielerin oder Schriftstellerin werden. Königen und Königinnen begegnen und in einem großen Schloss wohnen oder in schönen Hotels, wo es Kronleuchter gab, die von Millionen von Kristallen funkelten. Sie wollte Flöte spielen, vor vollen Sälen mit gepolsterten Wänden und einem roten Licht über der Tür, wie sie es einmal im Kino gesehen hatte. Sie wollte das Klatschen hören, wenn die letzten Töne noch wie eine dünne Haut über den Menschen unten in der Dunkelheit lagen. Dann wollte sie lange Briefe und glitzernde Postkarten nach Hause schicken, an Mutter, Onkel und Tante, an Gunn und Frits und Sol – und von allem erzählen. Und sie würde ihnen Schallplatten schicken, die sie eingespielt hatte. Manchmal, wenn der Mond schien, würde sie alle Einladungen ablehnen und allein bleiben. Dann würde sie nur für sich selbst spielen. Oder ganz still dasitzen und Heimweh haben. Sie wollte hohe Kerzen in goldenen Leuchtern haben, wie in der Kirche, und Sol würde ihr leidtun, weil sie es nie so gut haben würde wie – Tora, obwohl Sol es verdient hätte, sie, die so lieb war. Nur selten würde Tora nach Hause fahren. Die Leute sollten bei Ottar im Laden stehen und für Weihnachten einkaufen und sich fragen, ob Ingrids Tochter zu den Feiertagen wohl nach Hause kommen werde. Und sie sollten darüber reden, wie glücklich Ingrid sei, dass ihre Tochter es so weit in der Welt gebracht hatte. Und sie sollten darüber reden, dass es wohl das Beste gewesen sei, dass er im Gefängnis gestorben war. Aber das alles konnte sie dem »Konfirmanden« nicht im Aufsatz schreiben.
Es zischte in dem Wasserkessel, den Tora warm hielt, bis die Mutter aus der Frosterei kam. Die Frikadellen vom Vortag lagen bereit. Die vier übrig gebliebenen kalten Kartoffeln hatte sie in Würfel geschnitten. Die Pfanne stand mit einem Klecks Butter auf dem Küchenschrank und brauchte nur auf das mittlere Herdloch gestellt zu werden.
Sie hatte den Geruch schon in der Nase. Er war weder schlecht noch gut. Aber sie wollte der Mutter sagen, dass sie bereits gegessen habe. Sie wollte in ihrer Kammer bleiben und die Mutter allein lassen, wenn sie sich wusch und aß. Wollte sich abseits halten – damit die Mutter mit ihren Gedanken zur Ruhe kam. Nachher konnte sie den Tisch abräumen, wenn die Mutter sich auf der Couch ausruhte. Heute wollte sie besonders nett sein, denn sie wusste nicht, was die Mutter für ein Gesicht machen würde, wenn sie heimkam. Das wusste sie sonst immer. Die Mutter war immer gleich. Besonders jetzt, wo er fort war. Seit vielen Wochen war es nur das eine Gesicht gewesen. Grau, aber wunderbar ruhig. Kein hartes Wort, kein Schatten, kein ängstliches Lauschen auf seine Schritte auf der Treppe. Aber an diesem Morgen hatte Rakel in der Küche gestanden und geweint. Und es war nicht sicher, dass die Mutter heute die Gleiche war. Vielleicht hatte sie ein ganz anderes Gesicht, als Tora sich das vorstellen konnte. Vielleicht würde alles noch viel schlimmer … Oder besser! Sie stellte sich vor, wie Tante Rakel die Mutter dazu gebracht hatte, sich wieder zu vertragen. Wie Tora und die Mutter wieder wie früher nach Bekkejordet gingen. Dass sie den Küchenläufer mitnehmen könnte … Sie hatte ihn gewaschen und gebügelt und ihn um die Illustrierte gerollt. Damit er schön glatt blieb. Aber der Mutter hatte sie ihn nicht gezeigt. Sie hatte ihn nur gewaschen und gebügelt, so vorsichtig wie möglich, weil sie Angst hatte, dass die Ränder zu sehr ausfransten. Die Tante würde wohl die schone goldene Borte daran nähen. Sie hatte sie ihr gezeigt und gefragt, ob sie nicht gut passte, und Tora hatte Ja gesagt. Das hätte noch gefehlt, dass sie den Läufer verdorben hätte – wo er so schön war. »Was ich werden will, wenn ich erwachsen bin …« Tora sollte jetzt einen neuen, besseren Aufsatz schreiben. Sie sah auf die Uhr. Fünf Minuten nach sechs. Dann schrieb sie zwei Seiten, dass sie gerne in einem Büro arbeiten würde. Sie schrieb, dass sie sich ein Haus und ein Fahrrad kaufen würde. Erwähnte nichts von Flötespielen oder Kronleuchtern, von Bühne oder Glanz. Das wäre zu dumm. Der »Konfirmand« würde es nicht verstehen. Er würde nur wieder enttäuscht sein.
Sie schrieb den Aufsatz mit ihrer schönsten Schrift ins Reine. Schrieb nicht schnell, damit sie genügend Zeit hätte, gründlich nachzudenken und jedes Wort richtig zu schreiben. Dann brauchte sie nichts zu verbessern.
Als sie fertig war, zeichnete sie eine schöne Dame auf die halbe Seite, die noch frei war, weil sie die Überschrift mit so großen Buchstaben geschrieben hatte, dass der Aufsatz mitten auf der Seite endete. Die Dame hatte eine schmale Taille und gelockte Haare. Der Rock war genau wie der in Ottars Fenster blau, mit einer glatten Passe und mehreren tiefen Falten. Die Schuhe hatten hohe Absätze und sahen verkehrt und blöd aus. Tora konnte keine Füße und keine Schuhe zeichnen. Es war schwierig. Am besten ging es mit den Gesichtern. Sie zeichnete die Nasen und Stirnen und Münder von der Seite. Sie hatte die Bilder in den Zeitschriften studiert und herausgefunden, wie man es machen musste.
Alle Damen, die sie zeichnete, waren schön. Sie wusste nicht, warum. Denn sie sah fast nie eine schöne Dame. Jedenfalls nicht hier im Dorf. Sie neigte den Kopf zur Seite und stattete die Dame noch mit einer Handtasche aus. Speziell für den »Konfirmanden«! Sie würde die Zeichnung Sol zeigen. Da hätten sie was zu lachen.
Aber Sol war nicht da, als sie nach oben ging. War zusammen mit einem Mädchen aus dem Ort fortgegangen. Mit einer, die viel älter war als Tora.
Elisif sagte, dass es keine göttliche Fügung sei, dass sie sich draußen in der Dunkelheit herumtrieben, wo die Versuchungen überall lauerten – und sie ermahnte Tora zu einem sauberen Leben und dass sie ihrer Mutter keine Sorgen und schlaflosen Nächte bereiten solle wie Sol. Tora lief mit ihrem Aufsatzheft unter dem Arm schnell wieder nach unten. Sie spürte den Durchzug von der offenen Haustür her und hörte die Mutter die Treppe heraufkommen. Mit leichten, langsamen Schritten. Es waren Mutters Schritte. Tora sah es sofort, als sie die Küche betrat: Das Gesicht war wie immer.
Die Mutter fragte, ob sie mit den Aufgaben fertig sei. Zerstreut. Wie gewöhnlich.
Tora sagte: »Ja.« Wagte nicht, ihre Freude in dieses kleine Wort zu legen. Noch konnte alles Mögliche passieren.
Dann wärmte sie das Essen auf und die Mutter zog sich aus und hängte die Kleider auf.
Sie wusch sich drinnen in der Stube mit warmem Wasser. Mit warmem Wasser! Sie blieb ganz lange da drinnen. Als sie herauskam, hatte sie glatte Wangen, und die Augenbrauen und Wimpern waren noch ganz feucht. Auch die Haare um das Gesicht. Sie hatte sich fein gemacht und einen sauberen Pullover angezogen und den alten guten Rock. Den sie als guten getragen hatte, bevor sie sich das Kleid genäht hatte … Tora hielt die Luft an.
»Ich hab gedacht …« Ingrid schnitt sich vorsichtig ein Stück von der Fischfrikadelle ab. »Ich hab gedacht, wir könnten heut Abend einen Spaziergang nach Bekkejordet machen … Es ist der 27., weißt du … Die Tante hat Geburtstag …«
Die Stimme kam von einem verletzten, aber geborgenen Seevogel. Tora flog. Merkte kaum, was sie tat. Sie flog zum Tisch hin und warf sich in Ingrids Schoß, Arme und Beine weit von sich gestreckt.
Der Teller mit den Frikadellen und den Bratkartoffeln rutschte über die Wachstuchdecke. Das Wasserglas fiel um. Tora merkte, wie sie zwischen Pullover und Hosenbund nass wurde. Aber gleichzeitig merkte sie es auch nicht.
Ingrid stellte mit der einen Hand das Glas hin und strich mit der anderen Tora über den Rücken. Das Mädchen hatte einen ganz nassen Rücken. Es rieselte und tröpfelte auch in Ingrids Schoß. Aber sie blieb sitzen. Hatte etwas in ihrem Gesicht … etwas Nacktes, Hilfloses. Niemand sah es.
Tora hatte den Kopf an Mutters Brust vergraben. Sie nahm die seltsame Mischung von Fischgeruch und Seife wahr. Diesen Geruch kannte sie von klein auf. Konnte sich auf einmal erinnern, dass sie früher auch schon so gesessen hatte. So gesessen, wenn die Mutter ihre Schürfwunden auswusch. Und das Weinen war leiser geworden. Oder wenn sie kein Geld hatten, um etwas Neues für Weihnachten zu kaufen. Das letzte Mal hatte sie so gesessen, als sie Masern und Fieber gehabt hatte. Das war wirklich lange her.
6
Rakel deckte im Wohnzimmer festlich den Tisch. Der schwere Messingleuchter mit sieben roten Kerzen thronte mitten auf der selbstgewebten Decke – und das beste Service hatte sie hervorgeholt. Sie deckte für vier.
Simon hatte seinen blauen Anzug an und schenkte drei Gläser Schnaps ein, die er auf das blankgeputzte Silbertablett stellte. Er war gut erzogen, dieser Simon. Die Tante, die sich um ihn gekümmert hatte, seit er als Baby seine Mutter verloren hatte, war wohlhabend gewesen. Simon war trotzdem Simon. Und da sie ein wenig auf die Gäste warten mussten, ging er hinaus in die Küche und fragte, ob das mit dem Jackett unbedingt nötig sei. Es sei doch mitten in der Woche …
»Ich werd heut fünfunddreißig!« Rakel reckte sich und stemmte die Hände in die Seiten. »Ich pfeif auf einen Mann, der an einem solchen Tag nicht die Jacke anbehalten kann, auch wenn’s mitten in der Woche ist.«
Simon stieß einen langen Pfiff aus und ging ins Wohnzimmer zurück. Er nahm einen gierigen Schluck aus einem Schnapsglas und füllte nach. Sonst war er vorsichtig mit Alkohol.
»Wie hat sie’s aufgenommen – eigentlich?« Er rief es zu Rakel in die Küche hinaus.
»Das hab ich dir doch gesagt.«
»Du hast gesagt, dass sie kommen soll. Und dass sie das auch versprochen hat. Aber ihr habt doch noch mehr geredet …«
Rakel erschien in der Tür, während sie die Schürze auszog. Das kleine Gesicht war ernst, beinahe puppenhaft. Ganz verändert, seit er wegen der Jacke gefragt hatte.
Simon wurde niemals schlau aus Rakels verschiedenen Ansichten und Reaktionen. Sie war wie ihre gewebten Stoffe, wenn sie schnell über den Fußboden ausgerollt wurden. Die Farben und die Muster wechselten so rasch, dass man nicht folgen konnte. Er half ihr, so gut er konnte. Setzte vorsichtig rohe Muskelkraft ein. Im Übrigen mischte er sich nicht in ihre Arbeit ein, wenn sie ihn nicht darum bat.
Aber jetzt wollte er sich einmischen. Glaubte, dass er erfahren müsste, wie Ingrid es aufgenommen hatte, damit er ihr an der Tür nicht wie ein Narr entgegenzutreten brauchte und nicht wusste, ob da Freund oder Feind kam.
»Sie hat’s wohl sehr schwer gehabt …«
Rakel setzte sich in den Schaukelstuhl, hinten bei dem alten lackierten Klapptisch. Strich mit schmalen, behutsamen Händen über die Tischplatte. Glättete die Decke – immer wieder, ohne zu wissen, was sie tat.
»Ja, aber das hast du doch auch.«
»Für mich ist das nicht schlimm. Ich hab doch dich …«
»Nun … das ist ja wahr … aber … Ja, hat sie nichts gesagt?«
»Wir haben geredet … Über vieles, Simon. Wir haben über alles geredet, worüber wir zehn Jahre nicht geredet haben – mindestens. Aber ich kann dir nicht alles sagen. Das musste verstehn. Es bleibt unter uns … uns Frauen, Simon. Sie hatte Angst, weil sie zwischen uns und Henrik gewählt hat. Sie glaubte, dass wir ihn nie mehr sehn wollten. Sie war ja gezwungen, Partei zu ergreifen. Wir … Das musste auch verstehen. Sie hat ja nur getan, was sie tun musste!«
»Hättest du dich mit deiner Schwester überworfen, wenn ich Henriks Haus angezündet hätte?« Er sah sie mutig an. Als ob die Frage, die Möglichkeit ihm erst jetzt gekommen wäre. »Würdest du zu einem Brandstifter halten, einem Kriminellen, einem Verbrecher? Ja, beim ersten Mal war’s ein Wunder, dass niemand umgekommen ist! Ich hatt ja Leute in der Hütte liegen. Würdest du mir verzeihen? Ich frag ja nur!«
Rakel ließ ihre Augen über das viereckige Gesicht gleiten, über den sehnigen, geschmeidigen Körper und die wilde Mähne. Dann sagte sie, gar nicht ihrer sonstigen Art entsprechend, ungewöhnlich langsam: »Wenn Ingrid loyal gegenüber einem Mann ist, der ihr so viele Jahre so viel Böses angetan hat und den sie vielleicht nie richtig geliebt hat, dann fürcht ich schon, dass es keine große Hoffnung für mich gegeben hätte, wenn du es gewesen wärst, der sich als Brandstifter versucht hätte.«
Simon sah sie an, als ob er seinen eigenen Ohren nicht traute. Dann zog er schnell die Jacke aus und hängte sie über eine Stuhllehne. »Teufel noch eins! Ich meine: Das wär zu viel. Ich hätt deine dumme Nase nicht im Gefängnis sehn wollen, wenn ich dort sitzen müsste. Hörst du! Ich hätt dich nicht einmal flüchtig sehn wollen, damit du’s nur weißt. Sollen die Weiber so sein? Soll eine ehrliche Frau sich verpflichtet fühlen, zu einem Verbrecher zu halten, wie? Hat das einen Sinn? Nein, Rakel! Ich muss dir sagen, dass du so einfach nicht denken darfst. Du! Nein, da hättest du mir die Tür weisen müssen. Was soll aus der Welt und uns Männern werden, wenn ihr Frauenzimmer euch mit allem abfindet, was wir tun, und wenn ihr euch sogar unsretwegen mit euren Geschwistern entzweit? Glaubste, dass es dann in der Welt noch eine Hoffnung gäbe? Was?«
Rakel erhob sich aus dem Schaukelstuhl. »Ich scheiß auf die Welt und die Männer. Jetzt geht es um Ingrid.« Aber ihre Stimme war voller Lachen, ganz Rakel. »Reg dich mal ab, zieh die Jacke über und zünd wenigstens die Kerzen an, wenn du schon nichts anderes anzündest. Sie können jeden Moment hier sein.«
Simon kam zu ihr in den Flur hinaus. Er gab sich noch nicht geschlagen: »Du kannst das unmöglich meinen, was du gesagt hast?«
»Sei jetzt friedlich«, fauchte Rakel, während sie die Haustür öffnete. Aber er zog sich die Jacke nicht wieder an.
Tora hatte die Decke für den Küchenschrank mitgebracht. Sie lag draußen im Flur, damit niemand sie finden sollte, bevor Tora wieder gegangen wäre.
Ingrid schenkte Rakel einen Glaskrug mit einem Deckel. Er war billig und alltäglich. Sie musste ihn während der Essenspause gekauft haben. Tora sah, dass die Mutter sich schämte und glaubte, dass es allzu wenig wäre …
Sie sagte es auch. Stand unbeholfen an dem festlich gedeckten Tisch und bat um Entschuldigung für dieses bescheidene Geschenk. Aber Rakel drückte sie beide an sich. Ihre Augen glänzten und sie schüttelte energisch den Kopf. Dann stellte sie den Glaskrug auf den Tisch zwischen das kostbare Geschirr, als ob es ein Kristallkrug wäre. Die Kerzen warfen Schatten auf den Krug. Er fing an zu leben, meinte Tora.
»Nein, wie fein du dich gemacht hast … Ich hätt auch das gute Kleid anziehen sollen … ich hätt es trotz allem tun sollen. Ich hab nicht so weit gedacht …«
»Puh, es ist doch egal, was man anhat«, sagte Rakel mit auffallend lauter Stimme und sah auf Simons Jacke, die über der Stuhllehne hing.
Er grinste den anderen breit zu, hinter Rakels Rücken. »Sie will partout, dass ich mich lächerlich mach und hier im Haus die Jacke anzieh, nur weil sie fünfunddreißig wird. Und das auch noch mitten in der Woche. So ’n Unsinn!«
»Simon!« Rakel drehte sich auf dem Absatz um und drohte ihm mit geballter Faust. Ingrid lächelte matt.
Tora setzte sich vorsichtig in einen der Sessel. Es ist genau wie früher, dachte sie. Genau wie früher. Wenn dieser Abend doch ewig dauern würde … Sie sah das ganze Leben voll solcher Abende vor sich. Saß in dem Sessel und platzierte Frits und Gunn und Randi und Sol in die anderen. Sie hörte die Mutter mit Rakel über harmlose, alltägliche Dinge sprechen. Sie sah, dass Onkel Simon die Schnapsgläser und das Limonadenglas von neuem füllte, während er Grimassen schnitt und Ingrids und Rakels Reden lautlos imitierte und Tora zuzwinkerte.
Und Tora zwinkerte zurück.
Hinter dem Glimmerfenster im Kamin tanzten Schatten, die eine wunderbare Geborgenheit schenkten. Alles war genau wie früher. Das andere – das war nur ein nächtlicher Albtraum, ein schrecklicher nächtlicher Traum. Nur ein eingebildetes Geschehen. Und sie nahm all das Schöne mit nach Berlin. Sie schob ganz Bekkejordet und alle zusammen, auch die Katze, in das große weiße Haus der Großmutter.
Rakel hatte Hammelbraten gemacht. Dazu gab es Preiselbeeren und Gemüse. Simon schnitt den Braten auf und sie setzten sich zu Tisch. Ingrid hatte hoch oben auf jeder Wange einen kreisrunden roten Fleck. Sie wehrte ab, als Simon ihr Glas wieder füllen wollte. Aber er nötigte sie. Sie sah froh aus. Tora blickte sie lange an. Hörte dem Gespräch zu. Simon hörte meistens auch nur zu. Gelegentlich konnte Tora merken, dass die Stimme der Tante sehr hoch und ein kleines bisschen schrill war, als ob die Tante Angst hätte, dass Simon oder jemand anders etwas Falsches sagen oder tun könnte.
Ja, Simon sprach übrigens nur einmal von dem Neubau. Aber Ingrid nickte und hörte ihm ruhig zu. Wischte sich mit der Serviette den Mund ab, bevor sie ihm antwortete, dass es wohl nötig gewesen sei. Tora hatte nicht gewagt, aufmerksam zu verfolgen, was da nötig gewesen sei.
Spätabends gingen sie im Mondschein nach Hause. Der Regen war vorbeigezogen. Alles war schön. Es war bitterkalt in den dünnen Damenstrümpfen. Aber Tora achtete kaum darauf. Sie hakte sich bei der Mutter ein und hörte, wie es unter ihren Schuhen knirschte. Über dem Moor stieg aus dem Nichts langsam dünner, durchschimmernder Nebel auf. Beinahe wie Märchenschleier. Sie sprachen nicht miteinander. Gingen nur. Einmal gähnte Ingrid. Aber es war nicht das Gähnen, das Tora oft hörte, wenn die Mutter mutlos oder irritiert war oder am liebsten geweint hätte. Nein, es war ein gutes, müdes Gähnen.
Um den Mond hingen ein paar Wolken. Aber er tat so, als ob er sie fortjagte, sobald er hervorkam. Er schien jedenfalls während des ganzen Heimwegs.
Ohne es sich selbst erklären zu können, fiel Tora plötzlich die Geschichte von der Weihnachtsnacht und dem Jesuskind und dem Stern ein. Der leuchtete den Hirten durch die Nacht bis hin zum Stall.
»Die Tante hat nur uns.«
Das fuhr ihr so heraus. Ein Gedanke gebar den nächsten. Der Gedanke wurde ausgesprochen.
»Sie hat ja keine Kinder … meine ich«, fügte sie schnell hinzu.
Ingrid blieb einen Augenblick stehen und sah die Tochter an. Sie war groß geworden in diesem Herbst. Ingrid hatte es bisher gar nicht richtig bemerkt. Tora wirkte besonders groß und krumm im Mondschein. Es liegt ein sonderbares Licht über dem Kind, dachte Ingrid.
»Nein …«, sagte sie, »sie hat nur uns. Dich.« Dann gingen sie weiter.
Der Wind wurde stärker, es sah so aus, als ob das schlechte Wetter vom Tage sich fortsetzen würde und nur ein Zwischenspiel eingelegt hätte – eine Atempause.
Das ganze Tausendheim war dunkel. Nur die zwei waren draußen und trieben sich in der Nacht herum, mitten in der Woche. Sie schlichen die knarrende Treppe hinauf. Lächelten einander an und schnitten Grimassen, wenn sie aus Versehen auf eine besonders ächzende Stufe traten.
Als die Mutter im Bett lag, schlich Tora wieder in die Küche. Setzte sich ganz leise auf die Torfkiste, nachdem sie die Ofentür geöffnet hatte. Vorsichtig, vorsichtig.
Hielt die bloßen Füße gegen die Glut. Es lag eine ganze Welt von Schatten, Licht und Farben in der Glut. Sie legten immer gut nach, bevor sie ins Bett gingen, dann konnten sie am nächsten Morgen mit der Glut neu einheizen.
Sie hatte kein anderes Licht als den Mond, der durch die Fenster schien – und die offene Ofentür.
So sollten die Herbsttage sein! Trocken und voll Ofenwärme und Mondschein. Das Tuckern eines Bootes in der Bucht und sanfter Wind im Ebereschenbaum. Die roten Büschel schlugen leise gegen das Fenster. Man sollte sie nicht sehen. Nur ganz still auf der Torfkiste sitzen und lauschen und wissen, dass die Beeren intensiver rot waren denn je. Der Abend sollte lang sein wie ein kostbarer Sommertag, mit dem Mondlicht von oben und der Dunkelheit von unten. Und trocken! Die Füße sollten nackt sein, man sollte das Gefühl haben, dass sie vom übrigen Körper getrennt waren – in der schwachen Wärme des Ofens. So!
Und die weiße Uhr sollte ticken. Tagsüber hörte man sie nicht. Durch die Tage schlug sie sich nur aus Trotz. Aber jetzt war sie auf friedliche Laute eingestimmt. Rund und schön tickte sie – und band alle Dinge zusammen, so wie es sich gehörte.
Die Insel hatte jetzt einen glasigen Schimmer. Das Meereslicht lag kalt und unbarmherzig über den dunkelgrünen, abgemähten Wiesen. Das Gestrüpp überall hielt mit aller Macht die gelben Blätter fest. Nässe und Nachtfrost hielten einander in eiskalter Umarmung. Grün schimmerte das Meer, tagaus, tagein. Ohne eine einzige Schaumkrone. Ohne einen einzigen grauen Regenschauer. Der Himmel war das Seltsamste. Hoch und hell – als ob es April wäre und die große Außenlampe den ganzen Tag brannte. Die Linie zwischen Meer und Himmel leuchtete bis weit in den Abend hinein. Es war, als ob der Herrgott in diesem Jahr den Herbst überspringen wollte.
Trotzdem machte das Schlachten die blutige Runde in den Höfen. Die Schafe hatten wochenlang die letzten Heureste verzehrt. Jetzt war ihr Schicksal besiegelt. Der Schlachter war ein wohlgelittener Mann. Er hatte eine Frau und sechs Kinder in Sørbygda. Er aß und trank herzhaft. Und wo er hinkam, fehlte es ja selten an Frischfleisch.
Rakel konnte sich an diesen Teil der Schafzucht nie gewöhnen. Sie stand über dem dampfenden Blut und hätte sich am liebsten übergeben. Wurde abgelöst und ging zum Kochen ins Haus. Frische Fleischsuppe mit viel Kohl und Mohrrüben. Es schien zu dampfen. Eine Art feuchtkalter Dampf. Auch wenn er heiß war. Von Suppe und Blut und Blutklößchen und Blutpudding. Dampf aus dem Innersten und Gierigsten des Lebens. Urdampf. Mehrmals dachte sie, dass sie die zwei oder drei Tage, die es dauerte, nicht durchhalten würde. Aber sie schaffte es immer, die Rakel. Immer! Und im Dezember fing sie so allmählich an, sonntags Fleisch zu essen wie andere Leute auch. Aber vor und nach dem Schlachten war sie Brotesserin. Sie kochte das Fleischgericht nur für die Arbeitsleute und Simon. Sie pflegte zu sagen, dass sie schon gegessen oder dass sie zu viel zu tun habe, um am Tisch sitzen zu können. Sie lief ein und aus und war sehr beschäftigt. Es war zur Schlachtzeit außerordentlich angenehm in Bekkejordet, das fanden alle, die dorthin kamen. Aber Rakel kannte weder Rast noch Ruh. Sie arbeitete wie ein ungestümer Südwestwind.
Nur Simon wusste Bescheid. Und er berührte sie mit seiner rauen Hand, wenn er sie zufällig irgendwo traf. Es war ihm egal, ob es jemand sah. Er fuhr mit derselben Hand über sein Kinn.
Dann schimmerte es in seinen Augen. Von dem weichen, schönen Mund breitete sich etwas wie Zärtlichkeit aus. Das ganze Gesicht leuchtete, wenn er Rakel sah.
Rakel wusste, dass er wusste. Aber er verspottete sie nie deswegen. Es ging nur sie beide an. Das Fasten machte Rakel gesprächig und aktiv. Und gut. Und Simons von der Arbeit ermüdeter Körper wurde an solchen Spätherbsttagen wieder ganz lebendig. Schande über ihn, wenn er nichts taugte – da sie so wunderbar warm und wach war. Und das Licht brannte im Schlafzimmer von Bekkejordet. Im Bett wurde nicht gelesen, und es wurde wenig gesprochen. Rakel kompensierte ihren Hunger im Magen mit einem anderen Hunger, und sie wollte gerne sehen, was sie bekam. Nachher konnte sie noch lange wach liegen und dem fernen Rauschen des Wasserfalls vom Hesthammeren lauschen – und dem Atem des Mannes. Sie lag auf dem Rücken, die Arme und Beine in dem breiten Bett weit von sich gestreckt. Sie konnte plötzlich ein Gefühl von Unwirklichkeit haben. Die Sicherheit, die Sättigung waren nur eine Leihgabe. Dieses Gefühl mischte sich mit dem Rauschen dort draußen und wurde immer undeutlicher. Sie glaubte, dass sie nur noch in diesen Stunden ihre eigentliche Kraft einsetzen könnte. Die Arbeit ging ihr nicht mehr von der Hand. Sie lief nur mit zufälligen Dingen in den Händen hin und her.






