- -
- 100%
- +
Es konnte passieren, dass sie morgens liegen blieb. Ohne Energie, um aufzustehen. Zuerst hatte sie gemeint, dass die Schlachterei daran schuld sei. Aber es hatte ja schon im Spätsommer angefangen. Eine Müdigkeit, die sie sich nicht erklären konnte, ein Schwindelgefühl, das sie nicht verstand. Das alles nahm den Arbeitstagen die Farbe. Sie wollte es eigentlich Simon gegenüber kurz erwähnen. Stattdessen klammerte sie sich an ihn mit allem, was sie geben konnte. Auf diese Weise waren jedenfalls die Nächte schön. Sie war nicht mehr beim Arzt gewesen seit jenem unglückseligen Tag, an dem sie sich Klarheit darüber verschafft hatte, dass es nicht an ihr lag, dass sie keine Kinder bekamen … Bis zu einem gewissen Grad war wohl ihre eigene Fruchtbarkeit in Verbindung mit Simons Mangel ein Grund dafür, dass ihr die Arbeit nicht mehr so leicht fiel. Die Müdigkeit. Die Übelkeit. Sie fürchtete auch, dass, wenn sie über ihre Unpässlichkeit sprach, dann alles ans Licht kommen müsste. Nein, sie wollte sehen, ob es nicht vorüberginge. Sie gab sich noch eine Woche. Dann würde sie den Arzt aufsuchen. Sie konnte jederzeit ins Dorf gehen, ohne Simon darüber informieren zu müssen, was sie vorhatte.
Sie legte die Hand auf seine knochige Hüfte. Er registrierte die leichte Berührung und rückte im Schlaf näher zu ihr. Sie reckte sich über ihn und löschte das Licht. In der Dunkelheit war er ihr ferner. Es half irgendwie nicht, dass sie ihn nahe bei sich fühlte. Es war nicht genug. Sie verstand sich selbst nicht mehr, konnte den nächsten Tag nicht ins Auge fassen.
Tora und Rakel saßen in Bekkejordet am Küchentisch und vernähten Rollwurst aus Hammelfleisch. Es roch nach Zwiebeln und Kräutern. Das grobe Garn und die Nadel glitten Rakel immer wieder aus der Hand. Tora sah es staunend. Sie sah, dass die Tante bleich und müde war und dass ihre Bewegungen auf einmal vage und passiv wirkten. Sie redete auch nicht so viel wie sonst.
Tora sah verstohlen auf, während sie weiternähte. Rakel spürte den Blick der Nichte. Sah sich selbst mit Toras Augen. Sie erhob sich und fing an, hinten am Küchenschrank noch mehr Zwiebeln zu schneiden. Es schien heute alles sehr eilig zu sein. Als ob sie es nicht über sich brächte, mit Tora zu reden. Nicht weiterwüsste. »Ich glaub, ich muss mich ein bisschen hinlegen. Ich bin so müd. Es war in letzter Zeit so viel. Abends ist es immer spät geworden und …«
Tora kam es seltsam vor, dass die Tante während der Arbeit auf der Couch lag. Aber sie nähte weiter. Schwieg und nähte. Sie saß mit dem Rücken zur Couch und hatte den Ausblick auf das Land und die Birkenallee. An der Wand tickte die Uhr. Der Ofen war gut warm. Die Finger arbeiteten schnell und leicht. Trotzdem war es kalt im Raum, weil die Tante so schweigsam war und, anstatt zu arbeiten, auf der Couch lag. Tora wollte sich nicht umdrehen und sehen, ob sie schlief. Sie hörte sie nicht atmen. Sie hatte das Gefühl, dass die Tante auf ihren Rücken schaute. Es war anstrengend und schwierig, die ganze Zeit an die Tante zu denken, so dass Tora schließlich aufstand, um aufs Klo zu gehen. Erst wusch sie sich die Hände am Ausguss. Der Blick fiel auf Rakel. Sie war blass! Sie lag mit geschlossenen Augen da. Sie wirkte völlig wehrlos. Tora schämte sich, dass sie es gesehen hatte, und schlich hinaus. Saß lange draußen in der Kälte und überlegte, dass heute auf Bekkejordet alles anders war.
Als sie wieder hereinkam, war Simon da. Rakel hatte angefangen, die Lake für die Hammelwurst zu kochen. Simon lachte und erzählte vom Geschäft und vom Ort. Er kniff Tora in die Wange und strich Rakel über die Hüften. Aber etwas schien in der Luft zu liegen. Und zwar nichts Gutes.
Vier Tage später ging Rakel in den Ort. Und saß dann im Wartezimmer, bis sie an der Reihe war.
Ihr Gespräch zog sich zähflüssig hin, während sie dort auf den Stahlrohrstühlen saßen.
Rakel fühlte sich todmüde, und sie hatte keine Ahnung, wie sie sich einem Mann verständlich machen sollte – auch wenn er Arzt war.
7
Ingrid trug ihren guten Mantel. Das heißt, den einzigen, in dem sie sich vor den Leuten blicken lassen konnte. Das blau und grün karierte Kopftuch war für diese Gelegenheit gewaschen und gebügelt worden. Sie hatte sich auch die Haare gewaschen, obwohl sie für niemanden glänzten. Unter der grellen Lampe am Kai sah ihr Gesicht krank und bläulich aus. Die Männer schielten zu ihr hinüber. Aber sie sagten nichts. Nickten nur, weil sie sich nicht ausgestoßen fühlen sollte.
Tora stand wie ein Schatten hinter der Mutter. Sie trug einen kleinen braunen Pappkoffer, der leicht zu sein schien. Dann legte der Küstendampfer am Kai an und spuckte eine Handvoll Leute auf die zersplitterten, vom Wasser angefressenen Kaiplanken. Die Stimmen, die Kisten und Fässer rollten bedächtig über die Reling, und der schwarze Schiffsrumpf schaukelte still vor sich hin, während alles wie gewohnt ablief.
Der Tag war klar, das Meer ruhig, die Möwen friedlich. Aber die Kälte biss. Der Verladekran jammerte böse, und man hörte von weitem das Knirschen der Füße auf dem Schnee. Ingrid wollte in die Stadt, und alle wussten warum.
Als die Fähre die Landzunge umrundete, um in die Bucht hinauszufahren, und in der scharfen Kurve leicht schwankte, stand Tora am Strand und winkte. Aber es war niemand an Deck. Und als das Schiff mit dem pechschwarzen Rumpf sein Aussehen veränderte und als grauschwarzes Gespenst in den Frostdunst hineinglitt und an der Tausendheimbrücke vorbei um die Landspitze herumfuhr, stand Tora mit erstarrten Händen und wehenden Zöpfen auf dem Hügel hinter dem Tausendheim. Dort lag die alte Fahnenstange auf dem Boden und ließ sich von den Möwen vollkleckern, während die Farbe abplatzte und das Moos wuchs.
Tora konnte nicht erkennen, ob jemand an Deck war, die Entfernung war zu groß.
Sie war so gerannt, dass sie ganz außer Atem war, aber die Kälte biss nicht mehr. Nur innerlich fror sie. Die Mutter hatte ihr zuerst nicht gesagt, was sie in der Stadt wollte. Sie hatte seinen Namen nicht erwähnt. Und Tora, die sah, dass die Mutter sich quälte, hatte stundenlang überlegt, wie sie ihr helfen könnte. Schließlich hatte sie gesagt: »Wirst du Kleider für ihn mitnehmen?«
»Nein.«
»Aber vielleicht etwas Brot?«
»Nein.«
»Er bekommt wohl alles, was er braucht?«
»Ja. Pass auf, dass dir nichts passiert, wenn du auf der Abkürzung nach Bekkejordet über die Eisbuckel gehst …«
Nun wusste die Mutter also, dass sie es wusste. Kein Wort wurde noch über Ingrids Vorhaben in der Stadt gesprochen.
Sie wollte am dritten Tag zurückkommen. Schneller war es nicht möglich. Das machte aber nichts, weil es in diesen Tagen in der Frosterei keine Arbeit gab.
Der Ofen in der leeren Küche war ausgebrannt. Es war ganz dunkel geworden. Die Geräusche im Haus waren ein gewisser Trost. Elisif kreischte da oben. Sowohl sie als auch die Mannakörner auf der Kommode funktionierten wie in alten Tagen. Elisif hatte eine noch ebenso scharfe Stimme wie früher, aber sie selbst war nicht mehr so tüchtig. Sol war schweigsamer und tüchtiger denn je. Tora suchte das Nötigste zusammen. Schulranzen und Kleider. Dann lief sie rasch und fröhlich den Weg hinauf nach Bekkejordet. Nur einmal – als Simons und Rakels Stimmen zu ihr in die Dachkammer mit dem weißen Bett drangen – überkam sie eine Art Trauer um die Mutter. Die warmen, vertrauten Stimmen aus dem Schlafzimmer da unten waren wie ein Hohn. Auch für Tora.
Aber es wurde still. Die ganze Welt lag ruhig in der Nacht. Die Kälte knackte im Haus. Ein kleiner mürrischer, schläfriger Laut.
8
Die Luft war zum Schneiden dick, es roch nach nassen Kleidern, stinkenden Fellstiefeln und Schweiß. Die harten Holzbänke waren absolut überfüllt. Manche versuchten mit wechselndem Glück, den Nachbarn wegzustoßen, um selbst etwas mehr Platz zu haben. Es gab Verwirrung, Unordnung und jede Menge Verwünschungen.
Halbwüchsige Mädchen und Jungen saßen ganz hinten. Eng zusammengedrängt – endlich, und ohne dass ihnen jemand einen Vorwurf machen konnte, saßen sie so dicht, als ob sie auf der ganzen Bankreihe nur ein einziger Mensch wären. Sie hingen in einer mehr oder minder glücklichen Symbiose aufeinander, je nachdem, mit wem sie zusammengedrückt wurden.
Mai aus Malø hatte sie zwei Wochen lang von den Plakaten her angesehen. Jetzt dürsteten sie nach Sinnengenuss und Spannung. Aber der blasse Filmvorführer konnte den Apparat nicht in Gang bringen. Er behauptete, dass er auf dem Transport zu kalt geworden sei. Aber er bekam nur ein vielstimmiges »Uuuuuuuu« zur Antwort. Das bedeutete, dass ihn das Schlimmste erwartete, wenn es ihm nicht gelang, die Dame auf die Leinwand zu bannen.
Tora und Sol, Jørgen und einer der Jungen aus Været hörten das Spektakel hinter sich. Jørgen schnäuzte sich in die Hand und machte anschließend Annäherungsversuche. Aber Sol hielt seine Hand hinten auf dem Rücken fest. Die vier hatten eine Stunde im Wind und im nasskalten Nebel gestanden, bevor sie eingelassen wurden, und sich Plätze in der zweiten Reihe gesichert – genau in der Mitte.
Es war himmlisch. Sie widerstanden dem Druck von beiden Seiten mit zusammengebissenen Zähnen und auf dem Sitz verkeilten Hinterteilen. Die Bank sackte gefährlich durch, weil die Stütze in der Mitte abgebrochen war. Aber sie regten sich nicht auf. Sie blieben ruhig und gelassen. Die Bank hatte ja bisher gehalten. Jørgen und Sol saßen außen und drückten die beiden anderen zusammen.
Tora spürte den harten Jungenkörper an ihrem. Ein Menschengestell, das mit Kleidern umhüllt war. Sie war nie einem Menschen so nahe gewesen, soweit sie sich erinnern konnte. Nicht so! »Verdammt, wie die da hinten sich prügeln.« Jørgen war sichtlich irritiert. Sicher auch, weil er selbst gern mitgemacht hätte.
Ein unerwarteter Ellbogen in die Seite hätte ihn beinahe auf den Boden befördert, und er bemühte sich wie wild, wieder in voller Breite in die Bank hineinzurutschen. Die Rache lag in gefährlich greifbarer Nähe.
Es gluckerte und rann draußen vor den Fenstern. Die Eiskristalle klebten an den Scheiben wie eine böse, eiskalte Warnung. Innen waren die Fenster beschlagen. Ab und zu lief etwas an den Scheiben hinunter. Ein einzelner dicker Tropfen hier und da, der am Glas herunterrann und den Blick für die Welt da draußen freimachte. Der Atem stand vor den erwartungsvollen Gesichtern wie Rauch, und die feuchte Luft ging durch Mark und Bein, ob man schon von vorher nass war oder nicht.
Sobald jemand durch die Eingangstür kam, stießen die frische, nasse Luft und der warme, feuchte Dampf aufeinander – und wurden zu einer jähzornig grauen Wolke. Die Wolke machte ein paar Drehungen in der Türöffnung, bevor sie nach draußen in die Dunkelheit verschwand. Endlich hörte man den Filmapparat surren. Kein Laut war mehr zu vernehmen außer diesem Surren.
Friede und Eintracht und atmende, halboffene Münder. Das Bild auf der Leinwand sah aus wie fliegende Reiskörner. Dann sammelten die Reiskörner sich gleichsam zu Feldern, ordneten sich wie durch ein Wunder von selbst. Jemand schaltete das Licht aus und man war an einem anderen Ort. Der Traum flimmerte auf das graue, nasse, vielköpfige Tier herab. Der Traum von einer anderen Welt, wo alles einen Perlenschimmer hatte und wo Freude und Melancholie herrschten. Wo die wahre Liebe beim Namen genannt wurde und nicht nur eine lichtscheue Affäre in irgendeinem sommerlichen Gebüsch war. In der dampfenden, feuchten Dunkelheit zitterte der Staub nervös im Lichtkegel des Apparates.
Wenn der Filmvorführer zwischendurch einmal von seinem braunen Holzstuhl zu dem Apparat ging, knarrten seine Schuhe ein wenig. Die am nächsten saßen, hörten es und fauchten leise und murrend: »Pst! Ruhe!« Es klang so, als ob ein Untier, ein Raubtier durch die Zähne schnaubte, bevor es angriff. Sie wollten nicht gestört werden, sie sammelten sich und brauchten ihre volle Konzentration. Tora vergaß, dass sie in dem ekelhaften Jugendheim saß, in das die Mutter nie mehr einen Fuß gesetzt hatte seit damals … Sie vergaß alle Weihnachtsfeste und die Feiern zum Nationalfeiertag, an denen sie nicht teilgenommen hatte, weil die Mutter sich immer krank fühlte, wenn im »Haus« etwas los war.
Das hier war besser, als Tagebücher auf dem Dachboden zu schreiben. Besser als alles! Es kribbelte leicht auf der Haut, ganz außen. So weit außen, dass sie Angst hatte, der Junge aus Været könnte es merken. Es begann dort, wofür es keine Namen gab außer den hässlichen, die auf die Klowand geschrieben wurden, und breitete sich nach unten über die Schenkel aus. Zog sich so schön im Bauch zusammen. Ganz innen. Wo sie gar nicht wusste, was dort war. Der Atem des Jungen aus Været strich an ihrem Ohr vorbei, als er den Kopf ein wenig zur Seite drehte, weil jemand zur Tür ging. Es kitzelte, als ob sie sich eine Katze an die Halsgrube hielte. Ihre Hände und ihr Körper waren völlig klamm. Sie hatte Rakel gefragt, ob sie ins »Haus« zum Kino gehen dürfe. Eigentlich hatte sie ein furchtbar schlechtes Gewissen, weil sie erleichtert darüber war, dass die Mutter fort war und sie sie nicht zu fragen brauchte. Rakel gab ihr das Geld fürs Kino, und Tora wusste, dass sie es der Mutter gegenüber nicht erwähnen würde. Sie hatten es nicht so verabredet. Trotzdem wusste Tora, dass es so war.
Mai aus Malø bekam keine Briefe von ihrem Liebsten, der zur See fuhr, weil der Briefträger Mai selbst haben wollte und die Briefe versteckte. Tora wurde so zornig auf das große Gesicht des Posthalters da vorne, dass sie sich in den Arm kniff, und Sol packte den Jungen aus Været am Arm, bis die ganze Bank wackelte, und sie waren glücklich und alles war so traurig.
Tora konnte irgendwo in der Dunkelheit einen winzig kleinen, unterdrückten Schluchzer hören. Und sie vernahm rund um sich herum ein heißes Keuchen in der schwülen, gespannten Stille. Nur der eine oder andere »Teufelsbraten« scharrte mit den Stiefeln und fühlte sich in der Dunkelheit sicher.
Aber nachher, nach dem hellen Licht und dem Suchen nach Handschuhen und Mützen, nach dem Gedränge am Ausgang, da atmete der Filmvorführer erleichtert auf und packte das Liebesabenteuer ein, während er eine selbstgedrehte Zigarette rauchte und sich überlegte, ob der Apparat am nächsten Ort auch wieder streiken würde. Er trug eine zerknitterte, abgewetzte Hose. Sie war mit ihm die ganze Woche durch dick und dünn gegangen. Er hatte sie in den verschiedenen Unterkünften, mit denen er vorliebnehmen musste, unter das Laken gelegt. Trotzdem sah sie traurig aus und hatte unten am Saum Schmutzflecke. Jede Nacht an einem anderen Ort. Er tröpfelte einige Tropfen Romantik zwischen die Steine am Strand. Er ließ die Rosen im Nebel aufblühen. Selbst im dunkelsten Adventswinter war Sommer. Dort, wo er den Apparat in Gang brachte. In einem Ort waren sie einmal auf ihn losgegangen, weil er das nicht geschafft hatte. Eine Bande aus halbwüchsigem Pöbel. Der Schweiß war ihm ausgebrochen, er hatte sich gewehrt, sogar angeboten, ihnen das Geld zurückzugeben. Aber sie wollten kein Geld – sie wollten Kino. Er hatte in dem modrigen Jugendheim gestanden und gespürt, wie ihn die Angst überkam. Denn die Tour musste eingehalten werden, und der Apparat ging nicht. Aber heute Abend … Heute Abend war er gegangen. Der zerfurchte, schmächtige Mann richtete sich auf und legte Mai aus Malø in die Blechdose. Der Film war ebenso verbraucht und verknittert wie er selbst. Obwohl er erst knapp vierzig war. Aber er brachte dennoch große Geheimnisse, große Erwartungen zu den Fjorden. Brachte Schlösser und Parks, die Unsterblichkeit der Liebe und des Menschengeistes, Irrwege in deutlichem Schwarz-Weiß. Alles zusammen auf die abgenutzten Filme gebannt. Jede einzige kleine Szene genau abgemessen, mit winzig kleinen Kerben an den Seiten. Kerben, die die Bewegung erst ermöglichten. Den ganzen Traum. Der die Seelen weit höher hob als irgendein Prophet oder Erweckungsprediger. Denn das Publikum war heißblütig und jung und mittleren Alters und alt – und jede und jeder hatte ein Meer von Träumen unter dem verwaschenen Hemd oder dem gestopften Pullover. Ein kleiner Anstoß war alles, was sie brauchten, um durch die Perlenpforte zu schlüpfen. Und der Filmvorführer gab ihnen Manna statt trocken Brot – und er gab ihnen die Herrlichkeit der Erde statt gekochtem oder gebratenem Fisch mit Kartoffeln. Er vertauschte die nicht gestrichene Küchenecke und die Hausaufgaben, die Bottiche voll beköderten Angel-Langleinen und die vereiterten Finger mit dem Traumwein, von denen er ihnen reichlich zu trinken gab.
Sie trotteten in der Dunkelheit nach Hause – grüppchenweise. Zwei oder drei oder auch mehr. Nur der eine oder andere einsame Wolf spielte die gleiche Rolle wie der verhasste Posthalter in dem Film und ging allein, während er unnötigerweise seine Stiefel verschliss, indem er alle Steine wegschubste, die auf dem Weg lagen. Denn so ist die Gerechtigkeit, hoch oben in den Fjorden im Norden wie auch sonst auf der Welt. Die Einsamkeit ist nie so groß wie dann, wenn der Mensch einen Traum gesehen hat.
Der Vorführer blieb noch eine Weile mit seiner Zigarette sitzen, nachdem schon alles gepackt und startbereit war. Dann erhob er sich. Langsam. Und schlich den Weg am Strand entlang zum Tausendheim und zur Tür der Kiosk-Jenny. Dort fand er den Traum, den er brauchte. Er bekam frisch gebratene Fischfrikadellen und Kaffee und saß in langer weißer Unterhose auf der Couch, weil Jenny den schlimmsten Schmutz von der Hose abrieb und sie dämpfte.
Für einige konnte der Himmel auch im Tausendheim sein. Die letzten Vorhänge wurden vorgezogen. Manche sandten einsame Signale hinaus in die Dunkelheit. Der Regen fiel auf Gerechte und Ungerechte und auf die zu Hause gebliebenen Schafe des Pastors. Sie standen dicht gedrängt bei ihrem Stall. Es blinkte plötzlich in einigen Schafsaugen unter der grellen Außenlampe.
9
Tora blieb vor den Brettern stehen, die als Brücke vom Weg hinüber zur Fischerhütte von Randi und Frits gelegt worden waren. An der einen Seite war ein Geländer. Sie stützte sich darauf und erinnerte sich an den Sommer: Sie war an einem der Pfosten, die die Brücke hielten, hochgeklettert und hatte sich das ganze Stück vom Weg bis zur Hauswand an den Brettern entlanggehangelt. Es war spannend gewesen, besonders in der Mitte, wo es zwei bis drei Meter in die Tiefe ging, hinunter zum steinigen Ufer. Randi war am Fenster aufgetaucht und hatte sie gebeten, damit aufzuhören. Tora hatte sich geschämt, nicht weil sie etwas Gefährliches unternommen hatte, sondern weil ihr aufging, dass sie eigentlich zu groß für so etwas war. Wenn die Mutter es gesehen hätte, hätte sie gesagt: »… und du als Mädchen und überhaupt!«
An diesem Abend stand Tora am Geländer und konnte die Tiefe nicht sehen. Hielt sich mit beiden Händen gut fest, und die Füße standen sicher und eben auf der Brücke. Trotzdem sah sie nichts. Die Dunkelheit hatte alle Steine und alles andere verschluckt. Im Sommer hatte sie sich am helllichten Tag mit bloßen Händen entlanggehangelt. Sie hatte die spitzen Steine gesehen, den glitschigen Tang, Papier und Gerümpel, tief unten. Sie hatte aber keine Angst gehabt. Nun war sie von diesem Anblick verschont. Dennoch fühlte sie die Tiefe als etwas Unbehagliches.
Sie wusste nicht, warum sie zurückgeblieben war – hinter den anderen. Plötzlich hatte sie gemerkt, dass Sol mit dem Jungen aus Været lieber allein gehen wollte. Tora hatte seinen harten Körper an ihrem gespürt – im Kino. Und eine feuchtkalte Welle von Abscheu brach über sie herein, als sie Sol und ihn sah. Es war ekelhaft, Zeuge von ihren Albernheiten und ihrem Gelächter zu werden. Sie behauptete, noch etwas für Rakel erledigen zu müssen, und eilte an der Wegkreuzung davon.
Sie wollte sich gerade losreißen und nach Hause wandern, als Randi in der Dunkelheit vor ihr auftauchte. Sie schien aus dem Nichts zu kommen.
»Ach, du bist’s, Tora!« Ihre Stimme klang ruhig und erfreut. Nicht gespielt freundlich, wie manche jetzt mit ihr redeten.
Tora nickte. Sie standen in dem sparsamen Licht der Außenlampe, und große, nasse Schneeflocken rieselten auf sie herab. Tora hatte Angst, dass Randi nicht gesehen hatte, dass sie nickte. Deshalb räusperte sie sich und sagte: »Ich kam grad vorbei, da … da bist du aufgetaucht …«
»Komm rein! Ich bin so allein, seit der Frits fort ist. Gunnar ist dauernd in der Fischfabrik, weißt du. Er hat so viel zu tun, seit der Bredesen so schlecht mit dem Rücken dran ist …« Das Letzte fügte sie nur flüsternd hinzu, als ob sie fürchtete, jemand könnte hören, wie froh sie war, dass wegen der Krankheit eines anderen Gunnar Überstunden machen konnte.
Sie nahm Tora in den Arm, wie sie es früher immer getan hatte. Es fiel Randi gar nicht schwer, andere Leute zu umarmen. »Komm doch erst mal rein!« Sie wollte Tora mit sich die schräge Brücke hinaufziehen.
»Ich weiß nicht … Ich war aufm Weg nach Bekkejordet. Ich hab nichts davon gesagt, dass es spät werden könnte. Die Mama ist – ist in der Stadt. Ich wohn solange …«
»Einen Augenblick – nur? Ich will dich nicht aufhalten, das kannste dir doch denken.«
Tora zögerte so lange, dass Randi schließlich sagte: »Nein, nein …«
Da hatte Tora plötzlich Angst vor der Dunkelheit und dem Alleinsein und sagte eilig: »Ich komm kurz rein.«
Der Raum empfing Tora mit seiner ganzen Gemütlichkeit. Es roch ein wenig nach gebratenem Fisch. Randi schaltete über dem Tisch und neben dem Fenster Licht ein. Dann stellte sie einen Topf mit Milch auf die elektrische Kochplatte.
»Nein, ihr habt ja einen elektrischen Herd!«
Tora musste ihn anschauen. Er war ganz weiß. Beinahe unheimlich. Er hatte einen Backofen mit Ober- und Unterhitze, ein Wärmefach und auf der Oberseite drei Kochplatten. Er war ein Wunder. Noch schöner als Tante Rakels Herd.
Randi zeigte und legte los. Sie war so freundlich und froh! Immer. Selbst wenn sie traurig war, strahlten ihre Augen. Aber heute Abend war sie froh.
Es war schön, wieder hier zu sein.
Tora zog den Anorak aus und setzte sich ans Tischende. Sah zu, wie Randi Kakao kochte, noch immer im Strickmantel. Tora brauchte nicht nach Frits zu fragen, denn Randi drehte sich immer wieder vom Herd um und erzählte, während sie Wasser, Zucker und Kakao in einer Tasse anrührte und das Ganze dann in die Milch goss.
Er sollte Hilfe bekommen, damit er im nächsten Herbst weiter zur Schule gehen könne, denn er sei dann mit der Volksschule fertig und habe keine Ansprüche mehr. Sie meinten, er sei zu tüchtig, um zu Hause versteckt zu werden. Es sei hier so leer geworden, seitdem er fort sei … Aber es sei ja gut, dass er rauskomme und etwas lerne. Etwas werden könne. Sie freue sich schon auf den Tag, an dem er einen Beruf ergreifen könnte. Er habe so beschützt gelebt – darin sei sie sich einig mit denen in der Schule. Ja, sie hätten direkt gesagt, dass sie den großen Jungen zu sehr behütet habe. Damit wollte sie nun Schluss machen … Sie hätten so recht in allem, was sie sagten, und sie wolle sich bessern. Aber wenn er den größten Teil des Jahres fort sei, dann vergesse sie, wie groß er sei – vergesse, dass er, auch wenn er nicht hören und sprechen könne, doch gut zurechtkomme. Sie habe es ja gesehen, als Frits mit Tora und den anderen Kindern zusammen gewesen sei. Trotzdem … sie könne nicht dagegen an … Frits sei nun eben ihr Kind. Und sie sei so traurig gewesen, als sie begriffen hatte, dass er nicht richtig hören konnte. Habe sich geschworen, dass es ihm niemals an Liebe und Fürsorge fehlen solle. Und dann komme er ab und zu nach Hause und sei jedes Mal etwas verändert … und das sei grausam! Aber sie wolle sich zusammennehmen. Ganz bestimmt. Wenn er Weihnachten kam, würden sie schon zu Knutsens oben an der Straße in die erste Etage umgezogen sein. Und da würde er ein eigenes Zimmer bekommen. Und er solle sein Zimmer jeden Morgen und Abend selbst aufräumen. Ganz bestimmt solle er das. Sie würde sich an die Strickmaschine setzen, und er müsse sich damit abfinden, dass sie so beschäftigt sei.
Tora begriff, dass Randi nicht viele hatte, mit denen sie reden konnte. Sie war in Været immer noch eine Fremde. Sie gehörte bestimmt zu denen, die immer fremd blieben. Sie war anders. Sie kleidete sich anders. In selbstgestrickte Gewänder, die weder Mantel noch Jacke waren. Nur eine hübsche, ansprechende Anhäufung von Farben. Tora hatte gehört, dass die Frauen sagten, sie sei eine »Spezielle«. »Speziell« zu sein war ein Stempel. Es gab so vieles, was in Været einen Stempel trug.






