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Eines Abends begriff Sol dann aber, dass er sie nicht mehr auf der Leiter stehen haben wollte. Er hatte auf dem Boden eine Art Lager aus zusammengefalteten Kartons gemacht. Er versuchte sie in der Dunkelheit auszuziehen, ohne ein Wort zu sagen. Aber Sol zeigte seinen Händen den richtigen Platz. Sie war verlegen. Es hätte eigentlich nicht nötig sein dürfen, ihn mit Worten anzuleiten, aber das war es eben doch. Er krümmte sich wie ein Hund. Sie fühlte es mehr, als dass sie es sah. Die Hände waren unsicher. Am nächsten Freitag steckten wieder doppelt so viele Zehnkronenscheine in dem Umschlag, als ihr offiziell zustanden. Das Rendezvous auf der Leiter wurde zur Routine. Sol begriff nicht, dass er die Sache nicht sattbekam. Nach zwei konnte er sie endlich herunter auf die Pappschachteln holen. Sie grauste sich vor dem, was nun kommen würde. Aber er legte seinen Kittel über ihr Gesicht und arbeitete dann dort unten zwischen ihren soliden Beinen mit kalten Händen und einer Taschenlampe. Sol nahm es gelassen hin. Es war absolut auszuhalten. Sie erforschte sein Verhalten, während er sie erforschte. Meist lag sie nur da und dachte an die Handelsschule.
Jedes Mal, wenn sie Beine oder Hüften bewegte, schnappte er nach Luft und wurde noch eifriger. Sie wurde in gewisser Weise von der gleichen Erregung ergriffen. Bekam gleichsam einen bestimmten Rhythmus. Visionen tauchten vor ihrem inneren Auge auf. Ehe sie wusste, wie ihr geschah, begann sie zu wünschen, dass wirklich etwas geschah. Aber es gab nur einen zitternden Lichtstrahl und sein Keuchen. Vom ersten Tag abgesehen, wurde auf den Pappkartons kein Wort gesprochen. Gelegentlich wollte er sie von hinten sehen, während sie auf allen vieren stand, mit dem Gesicht zur Ladentür. Es sickerte immer etwas Licht durch einen dünnen Spalt an der Türschwelle herein. Immer.
Sol hörte Mutters frommen Gesang bereits von weitem. Sie nahm den Bruder an der Hand und zog ihn am Haarschopf. Er war angesprungen gekommen, als er sie an der Toreinfahrt gesehen hatte. Der Junge blickte sie mit strahlenden Augen an und blieb ganz gehorsam stehen, als sie ihm den Rotz abwischte. Dann ging es die Treppen hinauf.
Irgendwo im Haus ließ jemand Wasser laufen. Es rieselte hohl durch die alten Rohre, das Rieseln pflanzte sich im Gebälk fort, fand sein eigenes Lied. Es war verschieden von Raum zu Raum, von Etage zu Etage. Begann vielleicht zeitig am Morgen mit einem Rinnen, artete tagsüber aus und rauschte lustig um die Essenszeit. Das träge Nachrauschen, wenn gespült wurde, verriet, dass Mittagsruhe herrschte. Bei Elisif rauschte es an den Tagen, an denen Sol bei Ottar putzte, erst, wenn Sol nach Hause kam. Elisif wollte die Arbeit zwar erledigen, aber es wurde trotzdem nichts daraus. Die Kopftuch-Johanna meinte, es sei eine Sünde und Schande, dass Elisif immer nur betete. Sie murmelte es im Treppenhaus und flüsterte es über die Kaffeetasse Ingrid und den anderen Frauen zu, wenn sie bei ihnen saß, um eine Tasse Zucker zu leihen.
Ingrid hatte so wenig zu sagen. Sie hörte zu, nickte und dachte an alles, was sie noch tun musste, ehe sie in die Fischfabrik oder zum Putzen ging. Aber sie lächelte. Das war wichtig. Die Leute glaubten, dass man zuhörte, wenn man nur nickte und lächelte.
»Das Mädchen schuftet wie ein Pferd!«, schnaubte die Kopftuch-Johanna und schüttelte sich. Sie tat sich einen Haufen Zucker in den Kaffee. Saß unter Elisifs frommem Gesang und ekelte sich vor ihrer Gottesfürchtigkeit.
»Das Mädchen rackert sich ab, und die Mutter rennt zum Missionsschiff! Das Haus quillt über von Dreck und Fischabfällen. Alles bleibt liegen, bis Sol heimkommt. Ich hör das Gepolter da oben, wenn sie ihren Mantel aufgehängt hat. Und Elisif singt ›Bei den Wassern von Babylon‹. So ein Blödsinn!«
Sie knotete die Enden des grellbunten Kopftuches noch fester, so dass die Adern auf der Stirn in dem bläulichen Gesicht anschwollen. Ingrid war müde. Sie vergaß zu nicken.
»Ja, was meinst du? Du siehst doch auch, was da oben vor sich geht.« Johanna nahm noch zwei Stücke Zucker, aber da sie eigentlich satt war, ließ sie sie wie zufällig in die Schürzentasche gleiten. »Ja, ich will ja nicht über die Leute reden. Aber so was kann doch nicht Gottes Wille sein, wie?«
Nein, das glaubte Ingrid auch nicht. Aber es war wohl nicht immer so einfach …
»Die Elisif ist ja auch krank«, fügte sie hinzu.
»Pah, krank. Ja, ja! Haste schon mal gehört, dass kranke Leute den Weg runter zum Missionsschiff rennen und auf den Knien liegen und Zeugnis ablegen, bis sie Holzsplitter in die Knie kriegen, was? Nein, das will ich dir sagen, Ingrid, diese Närrin ist nicht mehr krank als ich. Und mir geht’s gut!«
Derweil stiegen Elisifs Gebete innig und aufrichtig aus der engen Dachstube über ihnen empor. Sie betete für sie alle.
»Haste die Kartoffeln gewaschen?«, rief Sol, als sie ihren Mantel aufhängte.
»Nein, dazu bin ich nicht gekommen«, antwortete Elisif. »Der Herr war heute so gut. Er war mir so nah. Ich sprach mit ihm in aller Unschuld. Er hörte mir zu!«
»Worüber habt ihr denn geredet?«, fragte Sol. Sie hatte diese Art Gespräche gelernt. Es ging ihr weniger auf die Nerven, mitzumachen, als sich Bergpredigten anzuhören.
»Wir haben über weltliche Dinge gesprochen. Ich habe für die armen Kinder in Korea gebetet. Die sind ja zu Tausenden in die Flucht getrieben worden. Ich habe für dein verstocktes Herz gebetet, Sol! Ich habe für die verstockten Herzen der ganzen Jugend in dieser Welt gebetet. Er war so gütig, er hat gesagt, dass er all denen ihre Sünden vergeben werde, die sich heute bekehren. Hörste, Sol? Ist das nicht wunderbar?«
»Ja, Mama, das ist schön. Du wirst sehn, es wird noch alles gut.«
Sol steckte dem kleinen Bruder eine Scheibe Brot zu und deckte für alle den Tisch. Sie waren nur acht. Die Leute sagten, mit Elisif sei im Krankenhaus etwas gemacht worden. Jedenfalls kamen keine Kinder mehr. Torstein war nicht zu Hause. Er hatte angefangen, Netze zu flicken. Hatte einen festen Verdienst. Das merkte man schon. Sol glaubte nicht, dass die Mutter alles begriff. Elisif schien keine Vorstellung davon zu haben, dass sie einkaufen und bezahlen und Kleider haben mussten. Sol hatte nicht genug Kraft, um herauszufinden, wie schlimm es eigentlich um die Mutter stand. Sie sah nach vorn. Bis Weihnachten. Die Handelsschule begann gleich nach Neujahr. Bis dahin würde sie genug haben, für das Schulgeld und alles, was sie brauchte. Sie würde in der Fischfabrik Schluss machen. Ihr wurde schon schlecht, wenn sie an die grauen Frauen dort und an die Packhalle nur dachte. Der Vater musste mit den Geldproblemen allein fertigwerden. Sie würde sich um die vernachlässigten Kleinen kümmern und zu Hause bleiben. Und sie würde lernen. Und bei Ottar putzen. Aber einmal würde sie von allem hier loskommen.
Inzwischen hatte Elisif ihre Gebete beendet und die Bibel von der Kommode genommen. Sie strich liebevoll über die abgegriffenen, weichen Ecken des Einbandes. Der lag wie ein schützender Schild über den glatten Goldrändern. Sie strich über das Kreuz auf der Vorderseite und streckte den runden, runzligen Hals vor. Dann lächelte sie. Sie fühlte, wie durch ihre Finger die Kraft von außen in sie hineinströmte. Ihr Gesicht leuchtete einen Moment auf. Sie hatte den Blick an die fleckige Decke gerichtet. Aber es war nicht die schmutzig weiße Farbe, die sie sah. Ihr Blick drang durch die ärmliche Decke hindurch zu Herrlichkeit und Freude empor. Sie feuchtete die Lippen an und öffnete den Mund zu einem Lobgesang. Er erklang laut und ungezwungen und schlicht. Elisif war für mehrere Stunden mit ihrem Gott allein. Hörte ab und zu den Jüngsten unter dem Fenster wimmern. Aber sie konnte nicht verstehen, dass das sie anging. Hatten nicht auch die Jünger alles verlassen, um Ihm zu folgen?
»Jesus«, flüsterte sie und sah zur Decke hinauf. Elisif zog die Tageslosung aus der Glasschale auf der Kommode, während die Kartoffeln auf dem Herd blubberten. 3. Buch Mose 21.21: »Wer nun unter Aarons, des Priesters, Nachkommen einen Fehler an sich hat, der soll nicht herzutreten, zu opfern die Feueropfer des Herrn; denn er hat einen Fehler. Darum soll er sich nicht nahen, um die Speise seines Gottes zu opfern.« 3. Buch Mose 21.14: »Keine Witwe oder Verstoßene oder Entehrte oder Hure, sondern eine Jungfrau soll er zur Frau nehmen.« Sie flüsterte die Wörter über den gefalteten Händen. Das strähnige Haar war gescheitelt und stramm nach hinten gekämmt und endete im Nacken in einem borstigen Knoten. An der Strickjacke fehlten mehrere Knöpfe. Die Bibel lag aufgeschlagen vor ihr auf dem Tisch. Und ihr Gesicht strahlte vor Freude. Die hauchdünnen, goldumrandeten Bibelseiten vibrierten unmerklich unter ihrem Atem. Ihre Augenlider zitterten leicht, als sie die Augen schloss und flüsterte: »Der Herr sei gelobt in alle Ewigkeit, Amen.«
Sol ließ die Hand mit dem Messer einen Augenblick sinken, als sie Mutters Stimme drinnen im Zimmer hörte. Dann schnitt sie schnell und ungeduldig weiter. Und das rotbraune Fleisch mit weißen Hautfasern fügte sich widerstandslos unter ihrem Willen in Würfel.
12
Die Männer standen in Ottars Laden und hatten Weihnachtsvorbereitungen zu treffen. Sprachen allwissend und friedlich über die Atombombentests im Stillen Ozean. Die USA kämpften darum, die Führung zu behalten. Aber die Russen zögen wohl nach, meinten einige. Einar wusste zu berichten, dass noch über hunderttausend Deutsche in russischen Gefangenenlagern seien. Seine Stimme störte den allgemeinen Frieden wie eine Drohung.
»Ach was, die lügen doch alle zusammen, damit die Leute die Zeitungen kaufen«, meinte Almar. Er erhob sich und bezahlte seine Einkäufe.
»Nein, Mann, das will ich dir nur sagen, das tun sie nicht«, antwortete Einar schroff und sah Almar verächtlich an. »Die die Macht haben in der Welt kennen doch nur eins, pressen doch nur immer mehr Scheiß aus sich raus. So ist das nämlich. Sie sind falsch wie Judas. Sieh dir die Russen an: Die warnen vor dem Atomkrieg und beschwören den Gemeinschaftsgeist von Genf.«
Die Männer rückten von ihm ab. Sie wussten kaum etwas über den Geist von Genf. Aber es war wohl etwas dran. Der Einar war gar nicht so dumm. Das hatte er schon früher bewiesen, auch wenn Ottar ihn gern wie einen Dummkopf behandelte. Und Einar war in Fahrt gekommen, hieb seine Mütze mehrmals auf den Ladentisch und ließ sich darüber aus, dass die Amerikaner bereit seien, eventuelle Angriffe des Ostblocks mit einer schwimmenden Atombombenflotte zu vergelten! Augenblicklich! Es wurde still um ihn herum.
Einar schleuderte ihnen sein Wissen über viele Dinge direkt ins Gesicht. Das saß dann. Wie ein wohlgezielter Treffer im Spucknapf. Er brachte die Männer dazu, sich wegen anderer Dinge an ihn zu erinnern als wegen des Gerüchts, das der neue Pastor in die Welt gesetzt hatte. Dass Einar ein Dieb sei, den man nicht in Dienst nehmen dürfe.
Ottar machte nicht viele Worte an diesem Nachmittag. Seine Haare waren in Ordnung, und er trug ein sauberes Hemd. Es war Freitag, kurz vor Ladenschluss. Er packte die Waren in Tüten und Schachteln und stapelte sie auf dem Ladentisch auf. Da die Männer nicht gingen, fing er an, die Namen aufzurufen, deren Waren er fertig eingepackt hatte. Er war nervös und geschäftig. Das irritierte die Männer allmählich.
»Was drängelste denn? Du lebst ja schließlich von uns.« Håkon war mit seiner spitzen Zunge vorneweg.
»Hier muss gleich geputzt werden. Die Sol hat heut viel zu putzen.« Ottar versuchte vergeblich, sich Respekt zu verschaffen. Die Männer hatten Einars Joch abgeworfen und steckten bereits mitten in einer Diskussion über den Kabeljau bei Senja und den Vesterålen und waren nicht von der Stelle zu bewegen. Sie diskutierten die Garantieordnung für die Fischer in einer Fangbeteiligungsgemeinschaft, während der Pfeifenrauch sich undurchdringlich unter die Decke legte. Sie redeten lang und breit über den Heumangel und den verdammt kalten Sommer, der schuld daran war, dass »die Mandelkartoffeln in diesem Jahr ganz flach sind, weil sie nur drei Zentimeter lockere Erde über dem gefrorenen Boden hatten«. Ottar sah keine Möglichkeit, ihren Redefluss zu stoppen. Er trat von einem Bein aufs andere. Klirrte mit den Schlüsseln. Machte sich im Lager zu schaffen und nickte Sol zu, die energisch den Boden fegte.
Er seufzte und sah geistesabwesend auf die Regale, während er erklärte, dass sie einfach anfangen solle, den Laden zu putzen. Er nannte keinen Grund. Das war auch nicht nötig. Es sollte volles Vertrauen zwischen ihnen herrschen. Sol wusste, dass es Ottar nie einfallen würde, sie zu dem anderen in das kalte Lager zu bitten, ehe sie nicht mit der Arbeit fertig war.
Sie stellte den Besen weg und füllte gehorsam den Putzeimer. Wusste, dass sie am ersten Montag nach Neujahr abends in die Handelsschule gehen würde. Sie hatte in der Fischfabrik gekündigt. Ihr Geld reichte für Schulgeld und Bücher. Ottar hatte ihr versprochen, dass sie weiter bei ihm putzen könne, abends, nach der Schule. Die Entscheidung war schnell gefallen. Kostete sie nicht viel in Anbetracht dessen, was sie dafür erhielt. Sie hatte die Bedingungen für sie beide vorgeschlagen. Von Worten Gebrauch gemacht. Er hatte ausgesehen, als ob er gleich ersticken würde. Sie hatte am selben Abend den »Lohn« bekommen. Es war eine seltsame Vorstellung gewesen. Sol kannte die menschliche Unzulänglichkeit. Und sie nahm die Erbärmlichkeit des erwachsenen Mannes mit dankbarem Herzen und unerfahrenem und neugierigem Gemüt hin. Nun wusste sie so viel, und das gab ihr Macht.
Sol merkte, dass sie Ottar nur anzusehen brauchte, dann fiel er gleichsam vor ihren Augen in sich zusammen. Er folgte ihr immer mehr wie ein Schatten. Er half ihr beim Fegen, indem er Tonnen und Kisten für sie wegrückte. Sie verstand es und verstand es auch wieder nicht. Sie sah, dass er sich eine neue Joppe und eine neue Hose angeschafft hatte. Er trug beides werktags!
Sol sammelte Erfahrungen und beobachtete menschliches Verhalten, ohne dass sie sich dessen bewusst war. Wenn ihre Arme und Beine sich bei irgendeiner Arbeit langsam, aber stetig bewegten, registrierte sie Ottars Theaterspiel – und dass es alles ihr zu Ehren geschah. Sie sah der Zukunft heiter entgegen.
Sie wollte es sich erlauben, in den Weihnachtstagen tanzen zu gehen. Konnte sich unten bei Tora umziehen, so dass die Mutter nichts merkte. Dann würde sie vorm Spiegel stehen und wie zufällig ein paar Worte darüber fallenlassen, dass sie an der Handelsschule anfangen wolle. Sie, die eine »Verrückte« zur Mutter hatte, einen Trottel zum Vater, im Tausendheim wohnte und putzen gehen musste, anstatt weiter die Schule zu besuchen. Was war ein lumpiges achtes Schuljahr gegen die Handelsschule.
Sol fing unbekümmert an, zwischen den Beinen der Männer den Boden zu putzen.
Erst machten sie widerwillig Platz und redeten unaufhörlich von ihren Angelegenheiten, aber dann zogen sie sich zur Tür zurück und ließen Elisifs Mädchen in Ruhe wirken. Sie fraß sich immer wieder geschickt mit dem langstieligen Schrubber zwischen ihren Beinen durch. Sagte nichts. Ließ nur den grauen Putzlumpen über schwarze und braune Fellgamaschen lecken, wenn sie nicht schnell genug auswichen. Es sah beinahe so aus, als ob die Männer sich von einem Gefecht zurückzögen. Die Übermacht war zu groß. Und das Schlimmste, was ihnen passieren konnte, war, dass der Putzlumpen über die Gamaschen fuhr. Das genügte für Niederlage und Verlust. Und bevor sie wussten, wie ihnen geschah, standen sie draußen in dem eiskalten Wind und hörten, wie Ottar zuschloss.
»Zum Teufel, was für ’n Tempo«, knurrte Håkon und griff im Dunkeln nach der Lenkstange. »Ich möcht nur wissen, warum der’s so eilig hat. Das war doch sonst nicht so. Und wie er sich aufgeputzt hat! Vielleicht geht er irgendwo auf Freiersfüßen.«
Sol trocknete die roten Hände an ihrer Schürze ab und war bereit, die Regale im Lager aufzuräumen. Sie war es nun gewohnt. Sie dachte an andere Dinge, während sie auf der Leiter stand. Es war ein Teil der Arbeit, den sie einfach über sich ergehen ließ. Ottar war heute schnell. Es musste daran liegen, dass alles sich hinausgezögert hatte, weil die Männer absolut nicht gehen wollten. Seine Spannung hatte die Vorarbeit für sie geleistet. Er wurde schnell fertig.
Einmal – kurz bevor er anfing nach Luft zu schnappen – hörte sie seine alte Mutter von oben aus dem »Privaten« rufen. Eine nadelspitze Altfrauenstimme. Vor Schreck stöhnte er gleich zweimal. Sol ertappte sich dabei, dass ihr der Mann leidtat. Es stimmte wohl nicht alles bei ihm. Er machte es immer hinter ihrem Rücken oder nachdem er etwas über ihren Kopf gelegt hatte. Als ob er es nicht aushielte, dass sie ihn sah … obwohl er stets das Licht ausknipste, ehe er sich zu der Leiter tastete, auf der sie stand.
Als sie gehen wollte, kam er angerannt, mit einer Tüte, die er ihr in die Hand drückte. Dann war er weg. Sie konnte nicht einmal fragen oder sich bedanken. So tastete sie sich durch den Lagerraum und zur Hintertür hinaus. Draußen stellte sie sich unter die Lampe am Kai und schaute in die große Papiertüte. Sirupkuchen, Schlackwurst, Speck und Eier. Schokolade.
Es kam ein frischer Wind vom Meer her. Die Wellen sprangen zwischen den Kaipfosten umher und schäumten gegen die Felsen. Über ihr glotzte ein eiskalter Mond, während die Wolken in rasender Eile vorbeizogen. Es stank von der nahegelegenen Trankocherei her. Plötzlich ging irgendetwas für Sol in die Brüche. Es riss langsam und tief in ihr. Tat schrecklich weh. War ein schreckliches Gefühl.
Sie beugte den Kopf über die Tüte und weinte. Ohne einen vernünftigen Grund. Sie hatte ja alles, was sie brauchte … Ottars Stolz, »die Weihnachtsstraße«, vierundzwanzig rote Glühbirnen, in ziemlicher Höhe über die Straße gespannt, vom Laden bis zu einem grauschimmernden Laternenpfahl, baumelte hilflos im Wind. Sol hob den Kopf und starrte sie einen Augenblick an. Dann ging sie mit langsamen, festen Schritten nach Hause.
13
Auch dieses Jahr war Weihnachten auf die Insel gekommen. Wie ein langhaariges, warmes Tier mit leuchtenden Augen, mitten zwischen die Häusergruppen, die aussahen, als ob sie von Skorbut und Ruß heimgesucht worden wären.
Alle hatten es sich so schön wie möglich gemacht. Es wurde mit Maßen getrunken. Ein paar Schlägereien und ein zufälliger Brand in Været. Der Brand wurde gelöscht, und der Ordnungsdienst im Jugendheim hatte das Seine getan.
Der Pastor hatte das wiederum Seine getan. Dahl hatte sich freigenommen. Die Frauen hatten das Ihre getan. Die Männer hatten ihre Pfeifen angezündet.
Das neue Jahr sei ein gesegnetes, meinte Elisif. Niemand fragte sie näher darüber aus. Alle hatten genug mit ihren Schwierigkeiten, als der Werktag wieder morgens um sechs Uhr an der Bettkante stand und alle armen Teufel zu verschlucken drohte.
Dann polterte es allmählich in der Küche und auf den Treppen. Einige standen auf und viele folgten nach. Aber Weihnachten lag ihnen noch wie Blei in den Gliedern. Verzögerte die Arbeit bei Dahl. Simons Leute waren träge und schlapp. Ottars Laden blieb die ganze Woche leer. Die Menschen hatten sich Weihnachten verausgabt. Sie hatten nichts mehr.
Mit einem Nordländer, der Weihnachten feiert, wenn auch maßvoll, ist nicht zu spaßen, nachher. Der Wintermensch blutet die Angst und die Kälte aus sich heraus und hat darin Übung seit heidnischen Zeiten. Aber nachher muss er wieder mit Gewalt ins Leben gebracht werden. Zur Haustür hinausgekippt werden, so dass er friert und anfängt, die Arme übereinanderzuschlagen. Dann läuft er wieder zuverlässig wie eine Maschine. Die Kirche war am Weihnachtsabend voll gewesen. Feuchter Dampf stieg aus den Kleidern auf und sank wieder herab und die Glorie des Erlösers hing um jede einzelne Kerze des Kronleuchters. Schrille, dünne Winterstimmen hatten unten in Wolljacken und Kopftüchern leise vor sich hin geklagt. Aber Elisif wartete zu Hause auf den Erlöser. Sie hatte für einen mehr gedeckt. Da sie Sol niemals dazu überreden konnte, hatte sie eben selbst gedeckt.
»Einen mehr? Nein, Mama, das musst du selbst tun«, antwortete Sol freundlich, aber bestimmt.
Und Elisif hatte gedeckt und gesungen, und das ganze graue Gesicht wurde warm und hell und strahlte eine solche Freude aus, dass man sich nur wundern konnte. Die Grütze war auf den Tisch gekommen. Torstein hatte sanft für Ordnung und Tischsitten gesorgt. Die Kinder beruhigten sich. Zaghaft las er mit monotoner, stotternder Stimme die Weihnachtsgeschichte vor – weil Elisif ihm befohlen hatte, sein Haus zu bestellen. Er hatte kein anderes Verhältnis zum Göttlichen als durch seine Frau. Aber das war ernst genug. Torstein war niemand von denen, der den Leuten zur Unzeit auf die Füße trat. Weder den irdischen noch den himmlischen. Er war der friedfertigste Mann im Tausendheim. Er wusste es selbst und schämte sich deswegen sehr. Trotzdem versuchte er nie, seiner eigenen Natur Gewalt anzutun.
Ingrid und Tora hatten Weihnachten bei sich gefeiert. Tora hatte sich danach gesehnt, dass die Mutter sagen würde, sie habe die Einladung von Rakel angenommen. Weihnachten feiern in Bekkejordet! Aber Ingrid sagte nichts. Sie hatte wie üblich ihre Vorbereitungen getroffen.
Tora hatte sich geschämt. Aber daran war sie gewöhnt. Am schlimmsten biss die Enttäuschung, salzig und schmerzhaft, als sie am Kammerfenster stand, nachdem der Abend vorbei war und es nichts mehr zu hoffen gab.
Später war das Bild von Mutters fernem, ernstem Gesicht gekommen und gegangen, als sie versuchte zu schlafen. Aber Tante Rakels Lachen kam störend aus den Ecken und man konnte es nicht vergessen. In Bekkejordet aßen sie am Weihnachtsabend Fleisch. In Bekkejordet wurde bei Tisch gelacht und aus hohen grünen Gläsern mit Stiel getrunken.
Simon hatte wohl seine gute Jacke angezogen und rauchte seine Zigarren, während sich das helle Haar in der Stirn kräuselte, weil kleine feine Schweißtropfen am Haaransatz hervortraten. Die Räume in Bekkejordet waren warm und gesättigt vom Weihrauch.
Daran hatte Tora gedacht.
Und auf einmal war sie dort gewesen. Der Onkel hatte sie zur Decke hochgehoben.
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