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Eine Goldammer klammerte sich an die schmale Kante des Fensters. Breitete die Flügel aus und streckte den kleinen, krummen Hals vor. Klopfte. Herzschläge gegen eine kalte Fensterscheibe. Poch, poch, poch.
Toras Gesicht glättete sich. Der Körper löste sich und war auf dem Sprung zum Fenster. Endlich hatte sie die Hände an den Fensterhaken. Der Vogel schwang sich einen Augenblick empor, als ob er das Ganze geplant hätte. Ein zitternder Propeller in der Luft. Tora öffnete das Fenster. Schnell. Als ob sie Übung darin hätte. Als ob sie die Haken geschmiert, alle Trägheit aus den morschen, winternassen Fensterrahmen entfernt hätte. Als ob das Leben genau auf diesen Augenblick eingestellt wäre. Sie ging zu der Brottüte, holte ein paar Brocken, kam zurück und legte sie vorsichtig auf das Fensterbrett. Der Vogel saß ruhig in der Lärche und wartete. Wartete? Konnte das möglich sein? Rakel bekam das sonderbare Gefühl, Zeugin einer Opferhandlung zu sein. Eines Rituals, mit ihr selbst als auserwählter Zeugin. Tora stand mit leuchtendem Gesicht da, während der Vogel ein paar Bissen aufpickte, zu seinem Zweig flog, zurückkam und noch ein paar Bissen holte.
Mehrmals wiederholte sich das. Dann blieb er ruhig in der Luft stehen und bewegte nur die Flügel. Eine Art Gruß. Tora hob die Hand. Dann war er fort.
Die Bröckchen lagen wie Brandmale auf dem Fensterbrett.
Rakels Schultern fielen herunter. Tora war wieder im Zimmer.
Sie wandte sich um und sah Rakel an. Nickte stumm. Dann schloss sie sorgfältig das Fenster.
»Er wird’s jetzt allein schaffen! Hast du’s gesehn?«
Rakel versuchte, in Toras Welt hineinzukommen. Sie nickte nur ein wenig mit dem Kopf.
Sie aßen Wurstbrote, die Rakel mitgebracht hatte. Dazu tranken sie Kaffee. Saßen an dem runden Tisch mit der Plüschdecke, die Arme ziemlich hoch, weil die Armlehnen der Sessel so hoch waren.
Rakel wartete. Etwas musste ja geschehen. Sie wusste, dass sie nicht in der Lage war, Tora ohne weiteres zu verstehen. Spürte trotzdem intuitiv, dass sie auf dem richtigen Weg war.
»Frau Karlsen ist Witwe geworden«, sagte Tora schließlich und kaute nachdenklich. Ihr Gesicht hatte etwas Farbe bekommen.
»Ja, ich hab’s gehört. Nimmt sie’s schwer?«
»Er war im Altersheim. Ich glaub nicht, dass sie’s versteht. Dass er tot ist, mein ich.«
»Das ist oft so. Als deine Großmutter starb …«
»Ich glaub nicht, dass wir sterben«, unterbrach Tora. Es war deutlich, dass sie nicht zuhörte.
»Das müssen wir alle, Tora.«
»Nein, ich glaub, das ist nur eine Lüge! Ich glaub, dass wir die ganze Zeit da sind, auch wenn wir uns nicht zeigen. Deswegen macht sich auch Elisifs Gott nicht die Mühe, den Henrik sterben zu lassen. Er ist ja doch da. Die ganze Zeit.«
Rakel setzte den einen Fuß, den sie auf den anderen gestellt hatte, auf den Boden, als ob er eine Sache wäre. Er stand einen Augenblick in der Luft. Die Hand, die eigentlich die Kaffeetasse zum Mund führen wollte, sank in den Schoß.
»Warum soll der Henrik nicht sterben?«, fragte sie mit steifen Lippen.
»Nein, er kann nicht sterben. Menschen wie er können nicht sterben … Aber das macht nichts – denn ich komm ja nicht nach Haus!«
»Weil du den Henrik nicht magst?«
»Niemand mag den Henrik.«
»Hör mal zu! Du brauchst den Henrik nicht zu mögen, auch wenn er mit deiner Mutter verheiratet ist. Du kannst deswegen ruhig nach Haus fahren. Du brauchst mit dem Henrik nicht mal zu reden. War er Weihnachten hässlich zu dir?«
»Nein. Ich war gemein.«
»Wie denn?«
»Ich hab die Kaffeetasse so weit weggestellt, dass er nicht drankam, denn er hatte ja den Fuß in Gips. Ich hab ihn nicht gestützt, wenn er Hilfe brauchte, um aufs Klo zu kommen.«
Tora grinste. Die Augen glänzten wie im Fieber.
»Warum, Tora?«
»Jemand muss das machen. Damit er versteht, dass er nicht sterben kann.«
Etwas Unheimliches kroch aus den Wänden, so dass es Rakel nasskalt über den Rücken lief.
»Sag endlich, warum du den Henrik nicht leiden kannst. Was hat er dir getan? Hat er dich geschlagen? Dir gedroht?«
»Alle wissen, dass er schlägt. Ich will nicht dahin. Ich muss den Vogel füttern.«
Tora vergrub ihre Finger in Rakels Windjacke, beugte sich vor und sah ihr in die Augen. Jemand hatte mehrere Kerzen tief drinnen hinter der Netzhaut angezündet. Nun flackerten sie im Wind. Wind woher?
Wie ein Kind. Ein kleines Kind, dachte Rakel. Tora ließ Rakels Jacke los. Lachte. Es hörte sich an, als ob Heftzwecken in einer Tabakbüchse klapperten.
»Alle wissen, was der Henrik tut, außer einer Sache.«
Tora schloss den Mund. Ganz fest. Schürzte die Lippen und wiegte sich hin und her.
»Was für eine Sache?«
»Er weiß nicht, dass er ein Vogeljunges hat. Er weiß nicht, dass die Vogelmutter um Brot an meinem Fenster bettelt. Er weiß nichts von sich selber.«
»Dass er ein Vogeljunges hat …?«
»Du hast doch den Vogel gesehn, nicht wahr? Er kam, obwohl du hier warst! Nicht wahr?«
»Ja, Tora, ich hab den Vogel gesehn. Kannste mir erklären, was der Henrik mit dem Vogel zu tun hat?«
»Er ist der Vater von dem Vogeljungen, verstehste das nich … Er ist zu groß, um der Vater von einem Vogel zu sein …«
Rakel versuchte klar zu sehen. Irgendetwas stimmte nicht mit der Tapete. Über dem Bett waren die Bahnen nicht richtig nebeneinandergeklebt. Das Samtmuster passte nicht aufeinander. Die Augen wanderten von der einen Tapetenbahn zur anderen.
»Halt mich nicht zum Narren, Tora.«
Toras Augen schauten durch Rakel hindurch. Die Stimme wurde eindringlich leise. Als ob sie einen Traum erzählte, der Eindruck auf sie gemacht hatte. Als ob sie von einem Buch berichtete, das sie gelesen hatte.
»Er war klein, verstehste. Schon blau. Niemand wusste davon, deshalb starb er einfach. Aber die Mutter trauerte …«
Dann erstarrte sie plötzlich. Rang nach Atem. Die Fäuste hämmerten auf den Sessel. Staub wirbelte auf. Ein alter, trockener Geruch ließ Rakel übel werden. Toras Augen waren voller Tränen, und aus der Kehle kamen irgendwelche Laute.
Rakel erhob sich und zog sie von dem Sessel hoch. Sie landeten alle beide auf dem Fußboden. Der Flickenteppich verrutschte unter ihnen. Das Nachmittagslicht war sparsam hier unten. Machte den Raum flach. Schob die Wände auseinander. Die Decke mit dem abscheulichen mehrarmigen Kronleuchter wurde drohend. Die vergilbten Bakelitschirme hatten von zu starken Birnen Risse bekommen. Rakel zählte die Schirme. Sechs.
Tora schlürfte ihr Weinen in sich hinein. Fuhr mit dem Ärmel übers Gesicht. Schluchzte noch ein wenig. Sie war zwei Jahre alt. Lag im Schoß der Tante. Hatte sich das Knie fürchterlich aufgeschlagen, so dass sie weinen musste. Aber es gab Abhilfe für alles. Rakel legte einen Lappen auf. Die Tante legte immer einen Lappen auf. Sie blies auf die Wunde, bis der Schmerz weg war. So war es immer gewesen.
»Hier! Hier kam das Vögelchen raus. Und dann starb es einfach! Aber ich hab das Blut aufgewischt. Alles verbrannt, Tante. Nicht wahr, es ist jetzt schön hier?«
Zuerst zeigte sie mit einem zitternden Finger auf den Teppich unter ihnen. Dann machte sie eine weit ausholende Bewegung mit der Hand und schickte ein zerbrochenes Lächeln in den Raum.
»Niemand hat’s gesehn, Tante Rakel.«
7
Es ruhte ein blasser Feiertagsfriede über Været. In der Woche vor Ostern war es ihnen gegangen wie einer Henne, die ein Ei legen will. Aber sie gackerte nicht viel. Stakste nur hierhin und dahin, während die Zeit verging. Und das Nest blieb leer.
Die Fischer sahen verhärmter aus als sonst. Einige sagten ganz offen und sehr verbittert, dass das Zugnetz der Fischerei mehr schade als das Grundnetz. Sie blieben bei Laune, indem sie sich gegenseitig herausforderten, wie Tigerjunge in einem ernsthaften Spiel um eine Beute, die sie nicht zu töten schafften.
Normalerweise fischten sie bis Mitte April. Aber nicht in diesem Jahr. Die Zugnetzfischer leugneten, dass sie daran schuld seien, obwohl es sogar in der Zeitung stand, dass der Fischfang bis zum »Zugnetz-Tag« gut gewesen sei. Zusätzlich fischten die verdammten Krabbenkutter alle kleinen Fische in der Barentssee bis hinunter zur norwegischen Territorialgrenze weg. Piratenpack! Man musste es nach Ostern in Finnmark probieren. Über eines waren sie sich einig in den Fischerhütten, bei Tabaksrauch und Schwarzgebranntem: die Zwölfmeilenzone! Das wäre für sie die Rettung.
Simon hörte an diesem Karfreitag den Männern zu. Sonst kam er nicht oft her. Er konnte, um die Wahrheit zu sagen, den Gestank nicht aushalten. Aber das sagte er nicht laut. Deshalb hieß es auch, er hänge seiner Frau am Rockzipfel. Es konnte ihm egal sein, was die Leute redeten. Simon mochte keine Erklärungen abgeben. Er vergab den Leuten gerne jede Dummheit, nur nicht, dass sie stanken. Das sagte er aber nur zu Rakel. Sie lachte und meinte, er sei verwöhnt. Runzelte die Stirn und ermahnte ihn, seinesgleichen nicht zu verachten. Ein Fischer musste riechen, wenn er zu seiner Frau kam! Ja, ja. Sogar Simon konnte gewisse Dinge, die er nicht mochte, mit Wohlwollen betrachten, wenn Rakel sie in Schutz nahm.
An diesem Abend war Simon Strohwitwer. Er war zu Hause in Bekkejordet im Kreis herumgelaufen und hatte Daumen gedreht. Zu guter Letzt hatte es ihn nach Været und in die Tobiashütte gezogen. Dort war nicht viel von Karfreitag zu spüren. Die einheimischen Fischer waren nach Hause gekommen, und die auswärtigen waren weggefahren. Der Tabaksqualm von den Heimkehrern war ebenso grau wie der von den Fremden, auch wenn die Einheimischen etwas hellere Kleider anhatten. Sie hatten Frauen auf der Insel, die alles in Ordnung hielten.
Die Köchin hatte eine liebevolle Hand gehabt und einen Kätzchenzweig in einer Flasche auf den Tisch gestellt. Die Flasche wackelte jedes Mal gefährlich, wenn die Männer den Ellenbogen wechselten, um das feiertäglich gesäuberte Haupt zu stützen, oder eine Karte auf den Tisch knallten und den Stich mit einer ausholenden Armbewegung einholten.
»Die Heimen mit Netzen und dem ganzen Kram, Echolot und übriger Ausrüstung, kommt nach Ostern zur Zwangsauktion«, verkündete einer der Männer und strich sich ernst übers Kinn. Als ob er erstaunt wäre, dass dort ein Bart wuchs, strich er ungläubig noch ein paarmal darüber. Dann begann er an den Stoppeln zu zupfen, um sie mit der Wurzel auszureißen.
»Pul dir nicht im Gesicht rum, Mann, du bist hier nicht allein. Es wird wohl noch mehr passieren als nur das, nach dieser Saison!«, sagte eine bissige Stimme.
Simon hatte immer ein ungutes Gefühl, wenn das Gespräch diese Wendung nahm. Früher oder später würde ein Sündenbock für die schlechten Zeiten gefunden werden.
Henrik saß mit gesenktem Kopf beim Ofen. Er hatte die Stiefel ausgezogen und war in sich zusammengesunken, als ob er schliefe. Aber alle wussten, dass er leidlich nüchtern war und dass er das Gespräch wie ein Habicht verfolgte, auch wenn er sich kaum einmischte.
»Biste lange auf dem tollen Schiff gefahren?«, fragte Håkon, einer von denen, die man sehr oft in der Tobiashütte hören konnte.
»Zwei Jahre. Weiß der Teufel, wie es jetzt weitergeht, es ist nicht mehr viel übrig, wovon wir nach Finnmark fahren können, wenn die Fischerbank ihr Geld bekommen hat.«
»Sie sind wie der Teufel, wenn man ihnen den kleinen Finger reicht, nehmen sie gleich die ganze Hand!« Einar spuckte auf den Boden. »Man sollte beim Simon anheuern«, fügte er hinzu und schielte gleichzeitig zu Simon hin.
»Meine Mannschaft ist komplett«, sagte Simon. »Aber es gibt wohl eine Möglichkeit. Sie können ja nicht einfach die Boote nehmen. Das wäre doch, wie die Leute in den Schuldturm zu werfen. Es ist doch klar, ohne Arbeitsplatz kann keiner seine Schulden bezahlen.«
»Du redst wie ’n Pastor«, fauchte Einar.
»Pastor kannste selber sein«, meinte Simon gutmütig.
»Wo ist übrigens die Rakel zu Ostern?«
»In Breiland, soviel ich weiß.«
»Habt ihr da Verwandte?«
»Nein.«
Henrik richtete sich in seiner Ofenecke auf. »Manche sind so stinkvornehm, dass sie Ostern nicht mehr zu Haus feiern können. Sie wohnt wohl im Hotel, die Rakel? Und strickt Osterhäschen, was?«
Simons Gesicht verdunkelte sich. Er brachte keine Antwort heraus. Es wurde still um den Tisch. Die Männer senkten den Kopf und vermieden, Simon anzusehen.
Da war der schroffe Håkon, der ein böses Maul hatte, der aber eher weinte als eine Frau und half, wo er nur konnte. Da war der sture, naive »Himmelsnarr«, den die Leute nicht für einen ordentlichen Menschen hielten, weil er schielte und mit dem Kopf wackelte. Da war Nas-Eldar, der den Lastwagen vom Dahl fuhr, der überall war, nur nicht da, wo er sein sollte. Da war Einar von der Veranda-Dachstube, der einst vom Pfarrhof vertrieben wurde, weil er es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, Speck aus dem Vorratshaus des Pfarrhofs mitzunehmen – und der plötzlich ein Dieb war, als der neue Pastor kam. Er las Bücher und kam wie ein Prophet mit Warnungen über die allen Dingen innewohnende Teufelei. Der Grünschnabel war auch da. Er war viel zu jung, um mit den alten Männern in der Hütte zu sitzen, aber er wurde trotzdem geduldet, weil er solche Schwierigkeiten hatte, eine Frau zu finden, und weil sich doch irgendwer um ihn kümmern musste. Schließlich war da noch Kornelius, der keinen Spitznamen und keine Besonderheit hatte, der es aber auch nie sehr eilig hatte, nach Hause zu gehen. Und noch zwei andere. Alle waren gleichermaßen verlegen.
Einar, der sonst den Mund als Letzter aufmachte. Leise, während er an einem Loch im Zahn lutschte: »Du sollst jetzt Ruh geben, Henrik. Du weißt, es ist noch so zeitig im Jahr, dass der Mist friert, wenn man ihn ausstreut.«
»Du hast ein ziemlich scharfes Maul, wie ich hör. Was meinste damit?«, fragte Henrik. Er war sauer wie ein Seemannshandschuh, der wochenlang benutzt worden war.
»Wenn du dich nicht anständig benimmst, dann schmeißen wir dich raus. Wir beziehen Stellung. Ist das klar? Für den Simon. Du hast mal im Gefängnis gesessen, reicht das nicht? Ich versteh nicht, dass der Simon es nach der Brandgeschichte noch über sich bringt, mit dir in einem Raum zu sitzen.«
Niemand hatte es für möglich gehalten. Trotzdem geschah es. Henrik fuhr hoch, erstaunlich schnell. Dann saß seine gesunde Faust mitten in Einars Gesicht. Der alte Mann zuckte ein bisschen, ehe er vom Stuhl glitt.
Henrik stand mit wilden Augen mitten im Raum. Der Alte lag wie ein Sack vor dem Ofen. Die Männer waren aufgesprungen. Hocker und Lederstiefel. Sonderbare Kehllaute. Eine Art Fauchen. Wie auf Kommando fielen sie über Henrik her. Endlich! Sie hatten lange darauf gewartet. Jetzt war die Gelegenheit da. Simon war mittendrin, ohne es selbst zu wissen. Alle schlugen drauflos, als ob das ganze Leben, die Gefahr eines Konkurses, der fehlgeschlagene Fischfang, unbezahlte Rechnungen – alles sich in ihren Fäusten konzentrierte. Die Arme flogen wie Windmühlenflügel und trafen das Ziel wo auch immer.
Schließlich nahmen die Männer wahr, dass zwei Körper am Boden lagen. Einar und Henrik. Sie standen mit hängenden Armen im Kreis um die beiden herum und atmeten schwer. Der Karfreitag schlich sich barfuß zu ihnen herein, aber es gab keine andere Möglichkeit. Der Mann musste fertiggemacht werden. Endlich! Der Schächer kam ans Kreuz. Um die Wahrheit zu sagen, es waren bestimmt viele Schächer. Aber Christus war nicht da. Deshalb nahmen sie Strafe und Vergebung in die eigene Hand. Es war nicht zu ändern.
Håkon weinte ein wenig, als er sah, wie übel es um Einars Nase stand. Er verfluchte und beschimpfte einen am Boden liegenden Henrik, der überhaupt nicht imstande war, einen Laut zu hören. Jemand holte eine Schüssel Wasser und fing unbeholfen an, das Elend in Ordnung zu bringen.
Simon sah lange zu. Sein Oberkörper war ganz steif, aber er spürte, wie gut es getan hatte draufloszuschlagen. Gleichzeitig wurde ihm bewusst, wie wenig es von den Problemen, die zwischen Bekkejordet und dem Tausendheim bestanden, gelöst hatte. Dennoch: Was für eine Erleichterung war es gewesen! Die Männer hatten mitgemacht. Es gab keinen Zweifel daran, wer Simon war – und wer Henrik! Aber beim Weiterspinnen dieses Gedankens: Wusste Henrik, warum Rakel in Breiland blieb? Während Simon es nicht wusste? Da schoben sich rote Wolken vor seine Augen. Er stieß mit dem Stiefel gegen den leblosen Körper, ganz kurz. Hart.
Simon wollte nicht dabei sein, wenn sie Henrik nach Hause zu Ingrid brachten, nachdem sie ihn mühsam wieder zum Leben erweckt hatten. Er war feige. Außerdem war er verwirrt über die süße Rache, die in den wütenden Schlägen gelegen hatte.
Simon erinnerte sich an Situationen, in denen er geprügelt hatte. Es waren nicht viele. Ein paarmal in seiner Jugend. Als er noch seine Männlichkeit beweisen musste. Dann den jungen Burschen bei dem Tanz auf dem Kai, der sich an Tora gehängt hatte. Henrik. Was war mit diesem Mann los? Henrik schien gewissermaßen Simons Leben zu steuern. Wusste, wann er zupacken musste. Wusste, wo Simon verwundbar war. Er hatte den seltsamen Gesichtsausdruck gesehen, als Henrik nach der Schlägerei aufgewacht war. Die Augen waren beinahe froh gewesen. Erleichtert. Als ob er um die Prügel gebeten hätte. Glücklich wäre über die Schläge … Und die Männer – beschämt. Gute Männer. Waren dennoch viele gegen einen gewesen. Eine schlimme Sünde.
Einar wurde es schlecht von dem Schlag. Er kotzte ein bisschen. Auf diese Weise wurde die Bestrafung gerechtfertigt.
So erklärten sie es auch Ingrid. Henrik hatte den alten Einar geschlagen. Sie malten es nicht weiter aus. Und Ingrid war es nicht gewohnt, dass man ihr erklärte, was vorgefallen war, deshalb sagte sie nichts.
Bei Einar gab es keine Frau. Man konnte ihn nur ins Bett legen und das Beste hoffen. Ingrid versprach, nach ihm zu sehen. Das sei ja das Wenigste, was sie tun könne, meinten die Männer – mit so einem verdammten Kerl im Haus wie Henrik. Trotzdem waren sie nicht sehr fröhlich gestimmt, als sie sich trennten und jeder nach Hause ging. Der Nachmittag und der Abend waren nicht so geworden, wie sie sich das gedacht hatten. Und sie erzählten zu Hause nicht viel. Um bei der Wahrheit zu bleiben, sie erzählten gar nichts.
Aber alles wurde in gewisser Weise in Ordnung gebracht. Die Leute, die ins Tausendheim gehörten, wurden dahin verfrachtet, die anderen gingen dorthin, wohin sie gehörten. Alle wurden in die richtige Schublade sortiert. So hielten sie es seit Generationen.
Um die Fischgestelle am Wegrand stank es schon nach Frühling. Der scharfe Geruch nach Fisch, der vor dem hellen Himmel zum Trocknen aufgehängt war. Gegen Mittag taute der Schnee um die Steine ein wenig auf. Abends fror es wieder, und es bildeten sich Eisnadeln auf den Wegen und an den alten Grashalmen vom Vorjahr, die im Wind schwankten.
Simon ging, die Hände auf der Lenkstange, den Hang hinauf und verfluchte den Schnaps. Alles lief verkehrt. Er hätte sich nicht auf den angebotenen Schnaps einlassen sollen.
Er hatte sich wie ein Kind aufgeführt! Kurz vor dem Gartenzaun von Bekkejordet traf ihn die Erkenntnis wie ein Pfahl. Dass dieser Abend sie alle rammen würde. Nicht in erster Linie Henrik. Aber ihn selbst, Rakel und vielleicht am meisten: Ingrid.
Auch wenn er nicht verstand, was in Ingrids Kopf vor sich ging, so würde er es doch ungern sehen, wenn ihre Situation sich verschlimmerte.
Er brauchte nicht lange für den Rückweg. Bald stand er vor Ingrids Küchentür und klopfte an. Zögernd. Er wusste nicht, wie man ihn empfangen würde. Aber es sollte gehen, wie es wollte. Es war doch alles falsch. Die Stimme von drinnen klang dünn. Aber sie trug erstaunlich gut. Wie ein Ruf über das Wasser bei dichtem Nebel.
»Herein!«
Sie war mit irgendetwas hinten am Küchenschrank beschäftigt. Drehte sich nicht gleich um, als er eintrat. Aber Henrik richtete die tiefen, dunklen Augen sofort auf ihn. Er zog sich gerade die Stiefel aus. War im Gesicht übel zugerichtet.
»Guten Abend«, sagte Simon, nahm die Mütze ab und blieb stehen.
»Setz dich!«, sagte Ingrid leise, ohne ihn anzusehen. Wandte sich dann aber um und kam bis an den Lichtkegel beim Tisch. Sie hatte eine Mullbinde und Jod in den Händen.
Simon setzte sich in ihrer Nähe an den Tisch. Als ob sie eine Art Verbündete wäre. Er wusste nicht, ob er Angst vor Henrik hatte, jetzt, da er allein war. Jedenfalls war es so etwas wie eine Prüfung, durch die er hindurchmusste, um sich selbst wieder in die Augen sehen zu können.
»Henrik hatte Probleme«, sagte sie bemerkenswert neutral. Wie die Stimme, die im Radio den Wetterbericht vorlas. Sie feuchtete ein Stückchen Mull mit Jod an. Ging fünf kleine Schritte zum Herd, neben dem der Mann saß. Reinigte die Wunde. Holte rasch zwei Heftpflaster aus der Schürzentasche und klebte sie über Kreuz auf das Stück Mull. Henrik rührte sich kaum. Schnitt nur Grimassen wie ein kleiner Junge, als das Jod ihn traf.
»Ja, ich war auch dabei«, sagte Simon und räusperte sich.
Sie drehte sich um. Blitzschnell. Als ob sie ihren Ohren nicht traute. Ihre Blicke hielten einander stand.
»Ich fürchte, ich hab mich auch an der Schlägerei beteiligt …« Simon spürte plötzlich, wie warm es in dem Raum war. Das Gefühl zu ersticken lähmte den Rest seiner Rede, die er sich überlegt hatte.
»Warum das denn?«, flüsterte Ingrid wie betäubt. Sie sah wie von weit her auf Henrik und legte automatisch Schere, Pflaster, Jod, Mullbinde zu einem unordentlichen Haufen auf den Tisch.
»Er hat schlecht über Rakel gesprochen, und ich bin nicht der Mann, so was hinzunehmen«, erklärte Simon, als ob nur Ingrid und er im Raum wären.
Ingrid sah von einem zum anderen. »Schlecht? Wieso schlecht?«
»Nun, es war wohl nicht so bös gemeint, oder?«, räumte Simon ein und sah Henrik fragend an. Wollte ihn mit hineinziehen.
»Was haste gesagt?«, fragte Ingrid und sah Henrik an.
Die Möwen da draußen hatten etwas gefunden, worum sie sich zankten. Sie schrien, als ob auch sie den Sachverhalt erklären wollten.
»Das ist alles Unsinn.« Henrik stand auf und schleuderte seine Stiefel unter den Herd.
»Ja, was nun war oder nicht war, wir hätten’s auf eine andre Art und Weise bereinigen sollen, Henrik. Ich hätt mich nicht in die Schlägerei in der Tobiashütte einmischen sollen. Aber du bist nun mal so, dass selbst ein Stein vor Wut zerspringen könnte. Ja, ich hab’s bisher nicht gesagt. Wir haben wohl seit dem Brand überhaupt nicht mehr miteinander geredet … Aber wie dem auch sei, ich möcht jetzt einen Schlussstrich ziehn. Ich kann die Menschen nicht argwöhnisch anschaun und mich fragen, wie sie zu mir stehn. Unsre Frauen sind Schwestern … Wir können das Leben unsrer Frauen nicht durch unsre Feindschaft zerstören. Das war nicht richtig.«
Die lange Rede hatte er nun doch losgelassen. Simon fühlte sich erleichtert und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Die Kugellampe über dem Tisch ergoss ihr Licht über seine blonden Haare.
Hinten in der Ecke beim Herd war es warm. Aber das Licht hielt sich von dort fern. Henrik war ein Tier, das sich da hinten rührte. Bewegte ein bisschen den gesunden Arm. Ein Schatten.
Ingrid wusste nicht, was sie von dem Ganzen halten sollte.
»Es gibt kaum was, worüber wir zu reden hätten, mein ich«, fing Henrik an. Aber die Stimme verriet ihn. Sie taugte nicht viel. Es war nicht üblich auf der Insel, dass Feinde in der Küche zusammensaßen, um alten Groll aus der Welt zu schaffen. Die Worte waren eingeschlossene Stiefkinder.
»Na schön, es könnte so aussehn. Aber ich glaub nicht, dass du so gemein bist, Henrik.«
»Gemein!«, schrie Ingrid. Ihr Schrei zerriss die Luft, und Simon konnte kaum noch atmen. »Gemein? Warum sagste so was, Simon?«
»Weil ich nicht weiß, was ich sagen soll! Weil ich ihn nicht zu fassen krieg, den Mann, mit dem du zusammenlebst!«
Simon verlor die Fassung, aber hatte sich schnell wieder in der Hand. Er sah klar Henriks Fähigkeit, die Menschen zum Kochen zu bringen, während er selbst am Rand saß und einfach nur anwesend war. Die Wut pochte wieder hinter Simons Stirn. Die Lust, noch einmal auf diesen Burschen loszugehen!
»Ich begreif nicht, was du gegen Rakel und mich hast, Henrik. Versteh nicht, was wir dir eigentlich getan haben. Verstehst du’s selbst?«






