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Es kam keine Antwort. Die Wände saugten die Worte an. Gierig. Als ob es darauf ankäme, sie möglichst schnell unsichtbar zu machen.
Er strich sich entmutigt übers Gesicht. Wurde sich allmählich dessen bewusst, dass er bei einem um gut Wetter bat, der gar nicht daran interessiert war, etwas in Ordnung zu bringen. Er sah sich in der Küche mit den schäbigen Wänden um. Die Farbe war abgewaschen oder abgerieben worden, schon lange bevor Ingrid mit ihrem Schmierseifenwasser angefangen hatte. Die armseligen Möbel. Die abgetragenen Kleidungsstücke am Haken neben der Tür. Der Geruch eines Hauses, in dem viele Menschen lebten. Die Türen konnten neugierige Augen und Ohren nicht ausschließen. Wahrscheinlich klebten Ohren im Treppenhaus an den Wänden. Um zur Stelle zu sein, wenn etwas los war. Die Ohnmacht gegenüber dem eigenen Schicksal konnte dadurch gelindert werden, dass man miterlebte, wie das Leben anderer Menschen zerbrach. Einen Augenblick sah er Rakels Familie vor sich, dann erhob er sich müde und machte sich fertig zum Gehen.
Henrik und Ingrid folgten ihm stumm mit den Augen. Getrennt, ohne Kontakt zueinander. Simon empfand es als eine Erleichterung, seine eigenen Schritte auf dem abgetretenen Holzfußboden zu hören.
»Du – ihr könntet schon erzählen, was in der Hütte gesagt worden ist.« Ingrid sah endlich von einem zum anderen. Es rauschte wütend in den Rohren über ihren Köpfen. Eine Art Signal, dass die Welt sich drehte – noch.
Simon blieb stehen – und versuchte dankbar, die Worte, die Henrik in der Tobiashütte gebraucht hatte, wiederzugeben. Was Einar geantwortet hatte. Den Schlag. Die Schlägerei.
Henriks Gesicht war eine nicht gestrichene Bretterwand.
»Die Rakel ist in Breiland, um nach der Tora zu sehn, das wisst ihr doch?«, fügte er hinzu.
»Warum denn? Wie meinste das?« Ingrid wurde unruhig. War auf dem Sprung. Knickte in der Mitte etwas zusammen.
»Die Rakel hat angerufen und gesagt, dass sie vor morgen nicht nach Haus kommt. Denn der Tora geht’s nicht besonders gut.«
»Hat sie nicht gesagt, was ihr fehlt?«, fragte Ingrid.
»Nein. Nur, dass sie noch bleibt. Ich dachte, ihr wüsstet …«
»Nein«, sagte Ingrid. Sie zog sich mit steifen Händen die verschlissene geblümte Schürze aus. Legte sie auf dem Tisch ordentlich zusammen. »Ich geh jetzt mit dir nach Haus, Simon, und dann ruf ich in Breiland an. Ich muss was Genaueres erfahren.«
Henrik hob endlich den Kopf. Die Schwellungen von den harten Schlägen wurden immer bedenklicher. Er sah ziemlich fertig aus.
»Du gehst nirgendwo mit ihm hin!«
Beide drehten sich zu Henrik um.
»Ich ruf nur kurz an und frag, wie es aussieht, verstehste das nich?«
»Ich will nicht, dass du nach Bekkejordet raufläufst wie ein Flittchen!«
Die Stimme klang wie alte dürre Kiefernstämme, die im Sturm brachen. Einer nach dem anderen. Ein einsamer Ruf. Den Simon verstand. Im tiefsten Herzen. Er wusste nicht, warum. Es war einfach so. Endlich erkannte er die Eifersucht, die Gedanken und Reaktionen dieses Mannes antrieb.
»Geh du nur anrufen, Ingrid. Ich bleib solange hier unten und leiste dem Henrik Gesellschaft. Kochste Kaffee, Henrik?«
Über das Gesicht des Mannes in der Herdecke huschten Schatten. Scham? Ein Funken Trauer? Ein Eingeständnis? Ingrid sah ratlos aus, aber sie ging. Als die Tür hinter ihr zufiel, überkam Simon ein Gefühl des Unbehagens. Es schien alle seine Gedanken zu überdecken. Er zwang sich, Henrik den Rücken zu kehren, während er selbst Kaffee kochte. Holte die Kaffeedose und ließ Wasser in den Kessel laufen. Heizte ein. Alles in der verkehrten Reihenfolge. Aber der Kaffee kam zum Kochen. Und die Geräusche im Haus erinnerten ihn daran, dass er mit Henrik nicht allein war. Zu guter Letzt zwang er sich auf den Stuhl, der Henrik am nächsten stand, und sah den Mann abwartend an.
»Du redst nicht viel, Henrik. Aber du sagst jedenfalls Bescheid, so dass du’s immer so hinkriegst, wie du’s haben willst.«
»Das schert mich den Teufel, was ihr glaubt.«
»Ja, das wissen wir.«
Simon sagte mit Absicht wir. Überlegte, wie er es anfangen sollte.
»Glaubste wirklich, Henrik, dass Ingrid und ich was miteinander haben, so dass wir nicht zusammen nach Bekkejordet gehn dürfen? Man hat dauernd den Eindruck, dass du nicht ganz richtig im Kopf bist, mein Junge.«
»Ich scheiß darauf, was du denkst. Aber du sollst zum Teufel noch mal meiner Frau nicht nachstellen.«
»Ich glaub, du spinnst. Andrerseits ist es ein Wunder, dass sie dich immer noch hierhaben will, so wie du dich benommen hast – mit dem Brand und dem Alkohol. Aber das geht ja niemand was an.«
»Halt’s Maul!«
»Na schön.«
Simon passte auf den Kessel auf. Dann machte er den Kaffee fertig. Langsam und umständlich. Rakel hatte es ihm beigebracht. Nahm zwei Tassen heraus und schenkte ein.
»Du bist sehr vertraut hier, wie ich seh«, stichelte Henrik mit einem Grinsen. »Du warst wohl öfters hier, während ich gesessen hab? Was?«
»Hör mal zu, jetzt reicht’s mir bald. Lass uns von was anderm reden. Warum haste meinen Betrieb angesteckt, Henrik? Ich hätte nie geglaubt, dass sich mal die Gelegenheit bieten würde, dich zu fragen. Aber jetzt tu ich’s. Warum, Henrik?«
»Ich hab nie gesagt, dass ich’s getan hab!«
»Aber du hast’s getan!« Simons Herz hämmerte. »Du hast’s getan!«, wiederholte er. Die Stimme war leise und atemlos.
»Ja. Es ist so …«
Simon sah die ganze Zeit dem Mann direkt in die Augen. Jetzt schien der Blick dort hinten in der Ecke zu bersten. Kam und ging. Hatte keinen Anfang. Kein Ende.
Das Wort Ja – bedeutete nichts. Aber das Gesicht des anderen!
Der Mann schielte zur Tür, als ob er darauf wartete, dass jemand hereinkäme. Um im nächsten Moment die Augen wieder auf Simon zu richten. Es lag etwas wie eine Bitte in ihnen.
»Aber warum?«, flüsterte Simon. Fenster und Türen hatten Augen und Ohren. Das ganze Haus hielt die Luft an.
Simon schlürfte den glühend heißen Kaffee, aber er ließ Henrik nicht aus den Augen.
»Ich weiß nicht …«
Simon hatte schon den Mund geöffnet für den nächsten Schachzug, aber er hielt inne.
»Ja, vielleicht bin ich gemein. Und wenn schon. Ist doch egal. Aber jedenfalls weiß ich, was die Hölle ist! Verstehste? Ich weiß es.«
Henrik erhob sich. Stand zusammengesunken da und sah vor sich hin. Dann bewegte er sich seitwärts bis zur Mitte des Raumes. Wie ein verletzter Krebs scharrte er über den Boden.
»Vielleicht muss ich ja so sein. Gemein!« Sein Lachen klang heiser und gepresst.
»Erzähl mir, Henrik, von deiner Hölle.«
Es war noch immer Karfreitag. Der schwarzgebrannte Fusel steckte ihm noch immer im Körper.
Henrik griff nach Simons Hand. Er schwankte wie ein großer, unförmiger Stamm, den jemand vergeblich aufzurichten versucht hatte. Dann sank er über Simons Schulter in sich zusammen.
»Keiner hat mit mir geredet. Kein Mann hat bisher mit mir geredet. Weißte das, du Blödmann? Weißte, was es heißt, nie mit dabei zu sein? Nie den Respekt zu bekommen, den man zum Leben braucht?«
Simon wurde es übel, aber er schluckte die Übelkeit herunter. Er hörte sich alle Vorwürfe gegen jedermann an. Hörte sich an, was für eine leichtfertige Frau Ingrid war, was für ein anspruchsvolles Mädchen Tora. Was für eine Kindheit Henrik gehabt hatte. Wie alle versagt hatten. Der Krieg. Die Torpedierung. Das Gefängnis.
Simon fühlte sich allmählich besser. Aber die Leere war schlimmer. Dieser Mann war blind gegenüber sich selbst. Er hatte sich nie selbst scharf angesehen.
»Ist dir nie aufgegangen, dass du vieles von dem Missgeschick, das dir widerfahren ist, selbst verschuldet hast?«, fragte Simon schließlich. Henrik stand da mit gesenktem Kopf. Der rechte Kiefer kippte gleichsam unsicher nach unten. Ein armer Hund. Das war er.
Simon wusste nicht, was er von diesem Besuch erwartet hatte. Sein Gewissen zu erleichtern? Und jetzt stand er bis zu den Knien in Henriks verspieltem Leben. Die Stimme des Mannes schwamm wie altes Laub im Hochwasser. Runter in den Graben damit. Als Simon ging, wusste er nicht, ob er mit einem Feind Frieden geschlossen oder ob die Feindschaft sich noch verstärkt hatte. Aber er wusste zwei Dinge, als Ingrid zurückkam. Niemand ging bei Frau Karlsen in Breiland ans Telefon – und: Er hatte sein eigenes Gewissen wegen des Geschehens in der Tobiashütte so erleichtert, dass er Rakel davon erzählen konnte.
Er hoffte nur, dass Henrik nicht alles an Ingrid ausließ, wenn sie allein waren. Der Bursche schaute schon wütend drein, als sie nur die Treppe heraufkam. Simon verstand die Menschen nicht. Natürlich hatte er auch manchmal Wut auf Rakel. Aber er konnte seine Wut nicht an ihr auslassen. Wenn er sie ansah, wurde er ganz weich. Wie ihr Strickgarn. Die Wolle, die sie von den Schafen schoren. Wenn Rakel ihn umarmte, spürte er erst richtig, dass sie ihm immer gefehlt hatte. Sie machte ihn stark. Gab den Tagen, zu denen er aufstand, Farbe. Sie!
Vielleicht, weil er immer so sicher gewesen war, dass er der Mann war, den sie haben wollte.
Es wehte ein scharfer Wind von der Bucht. Der Frühling setzte sich fest. Simon stand auf dem Hügel und sah über die Landschaft. Das tat er oft. Hatte das Fahrrad zum zweiten Mal an diesem Abend hinaufgeschoben. Draußen leuchtete der Horizont. Die Inseln lagen in einer Art schimmernder Dämmerung. Simon gehörte nicht zu den Menschen, die Visionen und ein außergewöhnliches seelisches Erlebnis hatten, wenn sie eine so schöne Natur sahen. Er lebte in ihr und mit ihr. Aber manchmal machte er seine großen blauen Augen weiter auf als sonst – und sah. Das weckte einen gewissen Widerhall in ihm, bei dem er sich sehr wohlfühlte. Genauso wie nach einer guten Mahlzeit mit Rakel, die ihm bei Tisch gegenübersaß. Aber er grübelte es nicht weg. Ließ nicht zu, dass es Besitz von ihm ergriff.
Jetzt stand er da oben und schaute auf seinen neuen Betrieb. Er hob sich in der Dämmerung ab. Mit dem weißen Anstrich stach er aus all dem Grauen und Blauen hervor. Schob sich von selbst in jedermanns Blickfeld.
Simon besaß. Er verwaltete. Er war nicht besonders hochmütig. Er hatte im Tausendheim für klare Verhältnisse gesorgt, auch wenn Rakel nicht da war. Er stand in der Dämmerung und war froh. Das war alles.
Trotzdem brannte eine gewisse Unruhe in ihm. Warum kam sie nicht nach Hause? War Tora wirklich krank? Oder wollte sie von der Insel fort – von ihm? War es zu eng für sie in Simons Reich? Hatte er während seines ganzen Erwachsenenlebens auf die Katastrophe gewartet, die ihn in den Abgrund stürzen würde? Weil Simon, der uneheliche Junge aus Bø, von einem Leben wusste, in dem man sich immer überflüssig fühlte und allen Leuten im Weg war. In dem man immer zu viel aß, zu viel herumlungerte. So war es bei den Pflegeeltern gewesen. Bis er als junger Kerl auf die Insel gekommen war, weil der Onkel kräftige Fäuste für die Arbeit brauchte.
Und dann war der Onkel ebenso passend und zuverlässig gestorben, wie im Herbst die Johannisbeeren gepflückt werden. Und Simon wurde über Nacht König. Er hatte um einen Onkel, den er kaum gekannt hatte, nicht getrauert. Hatte nur ein paar von den schlechtesten Möbeln in die Scheune befördert und war die Buchführung durchgegangen. Er verstand nicht allzu viel davon und fuhr damit zum Steuerberater nach Breiland, der ihm sagen konnte, dass Geschäft und Gebäude und Boot sozusagen schuldenfrei waren. Ebenso Wohnhaus und Hof. Dreitausend Kronen sollten an die Mission gehen, aber alles andere – Grundstücke und Bankkonto – gehörte ihm. Simon war zwanzig Jahre alt. Er vergaß nie, wie leicht es gewesen war. Und er hatte eine tief verwurzelte Angst, dass er ebenso leicht alles wieder verlieren könnte. Der Brand war eine Warnung gewesen.
An dem Tag, nachdem der Onkel unter die Erde gekommen war, hatte er sich Felder und Wiesen und das ganze Umland, Wohnhaus und Ställe angesehen. Mit den Händen in den Hosentaschen. Als ob er Angst hätte, es könnte etwas vor seinen Augen verschwinden, wenn er es anfasste. Nach ein paar Tagen ging er in den Fischereibetrieb, machte heimlich Skizzen und plante Verbesserungen und Modernisierungen.
Ein Wunder löste das andere ab. Rakel war das größte. Sie zog mit ihren drei Schafen zu ihm herauf und blieb. Anfangs ging sie noch jeden Abend von Bekkejordet in das kleine Fischerhaus zu ihren Eltern, weil der Vater es so wollte. Aber ihre roten kräftigen Haare waren überall zu finden. Im Schafstall, in der Ofenecke, in der Speisekammer und im Dachgeschoss. Sogar in Simons Bett. Und ihr Geruch blieb zurück wie der Geruch von getrockneten Blumen, die im Herbst in dem kleinen Nebenraum hingen. Sie waren so jung. Es fehlte ihnen nichts. Zunächst.
Simon und Rakel hatten ihre Hochzeit selbst ganz groß ausgerichtet. Ohne jemanden um Rat zu fragen. Und die Braut war nicht schwanger.
Der Schafstall war in jedem Frühling voller Lämmer. Ebenso sicher, wie das Licht über den Inseln in die Bucht kam. Aber Rakels Leib blieb flach. Der Segen wolle sich in diesem Haus nicht einstellen, hieß es. Jedoch Simon wusste. Auch wenn Rakel nach Breiland fuhr und zurückkam und ihm erzählte, dass sie keine Kinder bekommen könne, Simon wusste. Manchmal weinte es in ihm deswegen. Aber er konnte es nicht ertragen, dass Rakel weinte. Deshalb wagte er nicht, es ihr zu zeigen.
Er war unfruchtbar, nicht Rakel. Er wusste es seit der Zeit, als er ein armer Kerl gewesen war, der sich seine Freude holte, wo er sie bekommen konnte, ohne dass ihn das Gewissen sonderlich plagte, wie wohl das Schicksal des Mädchens aussehen werde. Aber es kam nie ein Kind. Darüber hatte er sich ab und zu gewundert.
Sie waren einander Kinder, Geliebte, Gesinde und Träume. Sie spielten wie Tierkinder, drinnen und draußen. Bis die Freude herausbrach wie heißblütige junge Pferde. Gelegentlich ließen sie Zorn und Angst aneinander aus, um sich im nächsten Augenblick zu gegenseitigem Trost aneinanderzuschmiegen. In Haus und Hof wuchs und gedieh alles.
Simon stand auf dem Hügel und sah nach Været hinunter und über den Fjord. Und er vermisste Rakel so sehr, dass sein Blick getrübt war und die großen, starken Hände unruhig und schutzlos auf dem Fahrradlenker lagen.
8
Rakel wusste nicht, wie viele Stunden vergangen waren.
Jetzt lagen Tora und sie jedenfalls in dem großen Hotelbett. Die Dunkelheit hatte sich wie eine nasse Plane über sie ausgebreitet. Toras Geschichte hatte sie beide so eng miteinander verbunden, dass sie wohl nie mehr voneinander loskommen würden. Es war eine Geschichte, wie Rakel sie noch nie gehört hatte. Nicht in den Fischerhäusern, nicht auf der Straße, und auch in ihrer wildesten Phantasie hätte sie sich so etwas nicht vorstellen können. Sie würde sie bestimmt niemandem erzählen. Die Geschichte war jetzt zu ihrer Last geworden. Weil Tora überleben musste. Das sah Rakel deutlich.
Als sie auf dem Fußboden saßen, war die Wirklichkeit mehr gewesen, als Rakels Verstand fassen konnte, auch wenn sie ihr als Gleichnis von einem Vogeljungen präsentiert wurde. Rakel brachte es bis zu einem gewissen Grad fertig, den nächsten Tag zu verdrängen. Die Gesichter, denen sie begegnen musste. Die Situationen, die sie auf die Probe stellen würden – jeden Tag.
Sie sah auf das schlafende Mädchen neben sich im Bett und gestand sich ein, dass sie den Gedanken nicht denken konnte: Henrik! Ein jammervolles Gefühl, Tora nicht erlösen zu können. Alles ungeschehen zu machen.
Tora hatte tiefe Ringe unter den Augen. Sie glich der Großmutter, als diese im Sterben lag. Die gleiche straffe Haut über den Backenknochen. Aber es zuckte und lebte in dem Gesicht und im ganzen Körper. Sie kämpfte. Wollte nicht aufgeben. Tief im Schlaf befangen.
Während Rakel das Gesicht auf dem Kissen betrachtete, überfiel sie ein so leidenschaftlicher Hass, dass er das Mitleid für Tora erstickte. Jeden vernünftigen Gedanken erstickte. Sie nahm den Hass auf sich. Spürte, wie stark sie davon wurde. Ingrid würde die Wahrheit nie überleben – und »Henrik konnte nicht sterben«. Tora hatte recht. Er war verflucht, er hatte sich in eine Situation gebracht, in der es ihm nicht vergönnt war zu sterben. Sonst wäre er ertrunken oder vor langer Zeit vom Blitz erschlagen worden! Rakel gelobte, dass sie die Rechnung für alles begleichen würde, was der Herrgott versäumt hatte. Dafür war sie geboren worden.
Dieses Kind zu beschützen, dem das Leben gerade die Haut abzuziehen versuchte. Gott mochte ihnen allen helfen. Sie hatte es noch nicht klar vor Augen, wie sie das schaffen würde. Aber schaffen würde sie es.
Und mit diesem Gedanken glitt sie in einen leichten Schlaf.
Im Halbschlaf tasteten sie nacheinander. Die eine hatte jemanden bekommen, mit dem sie ihre Angst teilen konnte. Tora bekam eine Hälfte ihres Ichs zurück. Eine leere Hälfte, um alle Dinge darauf aufzubauen. Sie fing an zu träumen.
Rakel und sie ruderten im Sturm. Sie waren seekrank. Erbrachen sich über das ganze Boot, das gleichzeitig das Bett war. Aber dann wurde das Meer außerhalb des Lichtkegels der Lampe ruhig, dort, wo das Meer sonst tobte, und die Bucht machte eine Biegung und verschwand hinter der Landzunge. Sie lagen im Wasser und planschten und wuschen sich rein. Schwammen nur im Sonnenschein. Das tat so gut. Sie spürte, wie der ganze Körper sich dort im Wasser ausruhte.
Aber Rakel hatte die Hälfte der Angst bekommen, die sie nicht zu tragen gewohnt war. Sie war anders als die Angst vor Krebs oder Brand. Sie hatte jetzt die Verantwortung für Tora, deren Kopf sich zu verwirren drohte. Rakel sah das Grab oben in der Geröllhalde vor sich. Sie mussten beide dorthin. Sie dachte an all die Monate, in denen Tora mit dieser Sache allein gewesen war. Monate? Sie maß die Dunkelheit mit den Augen. Ob es wohl mehr als nur Monate gewesen waren? Ob es sich über einen langen Zeitraum erstreckt hatte? Übelkeit breitete sich aus. Kochte hoch. Sie musste sich im Bett aufsetzen, um den Mageninhalt bei sich zu behalten. Wand sich behutsam aus den dünnen Mädchenarmen. Blieb lange sitzen, ließ die Beine über die Bettkante hängen. Den Kopf nach unten, das rote Haar glühte, ohne dass jemand es sah. Dann beschwor sie den Hass herauf, um sich zu schützen. Bitter und gut. Sie würde ihn schon erledigen. Ihn erledigen. Ihn erledigen! Und wenn sie Jahre dafür brauchen sollte!
Es rührte sich neben ihr. »Schläfste nich, Tora?«
»Nein.«
»Denkste an alles, was du mir gesagt hast?«
»Ja.«
»Das darfste nich. Ich hab’s auf mich genommen. Es ist meine Angelegenheit. Und es bleibt unter uns. Wenn du glaubst, dass ich zu irgendwem hinlauf, damit der Henrik hinter Schloss und Riegel kommt, dann kann ich dir nur sagen, dass ich das nich tu. Ingrid würde mit demselben Boot untergehn, fürcht ich … Das haste auch gedacht, was, Tora?«
»Ja.«
»Wir werden jetzt Pläne machen, du und ich. Du musst mir vertrauen, und du musst darauf vertraun, dass das, was ich sag, richtig für dich ist. Glaubste, dass du das schaffst, Tora?«
»Ja, Tante Rakel.«
Die Stimme war ein leises Schwirren, wie wenn man Zucker auf eine Scheibe Brot streut. Sie hatte die Erlaubnis, ganz klein zu sein in Tante Rakels Bett. Die Dunkelheit war außerhalb des Bettes und schloss sie gemeinsam ein. Tora legte den geschundenen Körper und den leeren Kopf ganz nah an Rakels Körper. Sie wurde aufgefangen als das Bündel, das sie war. Der Tante Stimme rieselte auf sie wie lauwarmes Wasser. Sie war noch nie in ihrem Leben so erleichtert gewesen. Und sie hatte den flüchtigen Gedanken, dass, wenn man nicht wusste, wie es war, durch die Glut zu waten, man vielleicht auch nicht wusste, was Linderung war.
Rakel knipste die Nachttischlampe an. Dann holte sie am Waschbecken ein Handtuch und trocknete ihre Gesichter ab. Behutsam und gründlich. Nahm sich Zeit. Legte die Steppdecke gut um sie beide und sagte: »Du brauchst ein andres Zimmer. Das ist mal das Erste.«
»Warum denn?«
»Weil das Zimmer das ungemütlichste ist, das ich je gesehn hab. Allein die Tapete ist so, dass man am liebsten gegen die Wand rennen möchte. Da kannste nich bleiben.«
Sie sagte nicht: Dort ist es passiert.
»Aber Frau Karlsen?«, murmelte Tora.
»Sie kann ja an andre vermieten. Komm mir doch nicht mit solchen Fragen. Wir brauchen uns um die Frau Karlsen keine Sorgen zu machen!«
»Nein …«
»Glaubste, dass du’s schaffst, nach Ostern wieder in die Schule zu gehn?«
»Ja, ich geh schon über eine Woche wieder in die Schule. Es ist lang her, dass ich … krank war …«
»Wie ging’s … wie haste dich gefühlt? Ich mein – hattest du irgendwo Schmerzen, nachdem … nach allem, was geschehn ist?« Rakel sah Tora hilflos an.
Tora schlug die Augen nieder. Es tropfte und lief unter den Wimpern hervor. Unablässig.
»Ja. Aber jetzt ist’s vorüber. Ich blute nur noch. Das war anfangs am schlimmsten. Hier auch. Es hat so gedrückt.«
Sie machte eine schnelle Bewegung über die Brüste. Rakel reichte ihr das Handtuch. Sie trocknete sich das Gesicht ab. Dann waren sie eine Weile still. Aber sie waren die ganze Zeit mit den Gedanken beieinander. Irgendwo im Haus schlug eine Uhr fünf schwere Schläge. Das Licht kroch unmerklich zu ihnen herein.
»Wir tragen jede unseren Teil zu dieser Arbeit hier bei, Tora. Ich werd alles, was nötig ist, auf der Insel in Ordnung bringen, bei deiner Mutter. Ich verschaff dir ein andres Zimmer. Und du versuchst, dein eignes Leben zu leben, als ob nichts geschehn wäre. Verstehste? Nichts ist geschehn. Für alles hab ich jetzt die Verantwortung. Genauso wie es vorher seine Verantwortung war. Gott helfe ihm!«, murmelte sie.
»Aber, Tante Rakel?«
»Ja?«
»Ich fühl mich so kaputt. Wie tot.«
»Das musste in dich hineinfressen. Bissen für Bissen. Nich du bist kaputt, mein Kind. Er ist kaputt. Es ist seine Schande. Nich deine! Hörst du? Nicht deine! Sag dir jeden Tag: Es ist nich meine Schande. Du wirst sehn, es kann zu einem Segen werden, auch wenn wir’s jetzt noch nich erkennen können.«
Tora hörte Rakels Worte wie von der Kanzel in der Kirche. Die energische Pastorenstimme der Tante über allen Bankreihen, zwischen allen Kronleuchtern: »Es ist seine Schande, nich deine. Nich deine! Es kann zu einem Segen werden … Segen. Segen.«
Sie saßen eine Weile schweigend da.
»Weißte, Tora, ich glaub, ich hab noch nie jemand so bewundert, wie ich dich bewundre. Du hast für die ganze Familie was geleistet. Für deine Mutter, für mich, für Simon. Ganz allein. Ich kenn keinen Menschen, der eine so große Leistung vollbracht hat. Du musst nun auch noch den Rest schaffen. Das musste einfach um deinetwillen. Für dein eigenes Leben. Dein Körper gehört dir. Deshalb musste da durch.«
Tora saß mit gesenktem Blick da.
Sie hatte aufgehört, von dem Vogeljungen zu reden. Rakel merkte, dass die wenigen Worte, die sie sagte, normal klangen. Eine Erleichterung, an die sie sich klammerte. Rakel sandte ein drohendes Gebet nach oben. Stumm. Mit trotzigen Augen: »Lieber Gott, lass ihren Verstand keinen Schaden genommen haben, sonst weiß ich nich, was ich tu. Ich wetze alle Schlachtmesser in Bekkejordet und geh los auf diesen Teufel von Mann. Hörst du, Gott?«
Sie beschwor den Herrn zu erscheinen. Dort im Bett bei ihnen. Der Mund stand halb offen, und die Gedanken lagen wie Stacheldraht in ihrem Kopf. Wenn sie in die Welt gesetzt worden war, um zu hassen, dann war es jetzt Zeit, den Hass hervorzuholen.
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