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Die kleine Schwester hat gelernt, dass Quengeln nichts bringt, aber an den feuchtesten und kältesten Stellen macht sie doch einen Versuch. Die Mutter trägt sie einige Schritte, dann setzen sie sich hin, ein Stück von den anderen entfernt. Die Schwester weint leise und putzt sich die Nase mit den kastanienbraunen Korkenzieherlocken. Die Mutter drückt sie an sich, drückt sie an sich. Bis sie nicht mehr weinen kann und aus der Umarmung schlüpft.
Sie haben die nassen Sachen zum Trocknen über die Rucksäcke gehängt und setzen in der Unendlichkeit einen Fuß vor den anderen. Nicht einmal er sagt noch etwas. Aber er atmet. Atmet und atmet und geht mit schweren Schritten weiter.
Der Vater steht der Welt immer im Weg. Und den Menschen, denen sie begegnet. Den Geschehnissen. Der Vater ist ein Schatten, den sie immer wegzuwischen versucht, aber das geht nicht. Sie weiß ja, dass es nicht geht. Er hat die Macht, in ihre Träume einzubrechen, so dass sie mitten in der Nacht plötzlich irgendwo im Zimmer steht. Er sendet stinkende Abscheu quer durch alles hindurch. Selbst wenn sie in der Kirche sitzt, ist sein Schatten überall, in allen Winkeln.
Wenn er jetzt umfällt, tot, müssen wir ihn liegen lassen. Ich brauchte ihn dann nie wiederzusehen, denkt sie. Dann kommen Raben und Füchse und freuen sich über diese Mahlzeit. Und nach ihnen Mäuse und kleine Nagetiere. Die ganze Zeit Mücken aller Art und Schmeißfliegen. Die ganze Zeit. Am Ende liegt sein Gerippe weiß und poliert im Sonnenlicht. Und alles ist geläutert und aus der Welt, denkt sie. Ich will auch geläutert sein, aber in der Welt.
Und ohne es verhindern zu können, hat sie ein Stoßgebet zu Gott dem Herrn gesandt: Hol ihn weg! Jetzt! Bitte!
Als ihr dieser Gedanke bewusst wird, ist ihr klar, wie schlecht sie ist. Wie unendlich schlecht sie ist. Dennoch kann sie nicht bereuen. Sie hakt die Daumen in die Rucksackträger, um ihre Blasen zu schonen, und zwingt sich, an die einzigartige Beschaffenheit des Bösen zu denken. Das die Macht besitzt, sie am Leben zu erhalten. Ohne dieses Böse wäre sie schon längst verschwunden.
Als sie endlich bei Menschen ankommen, einer kleinen roten Hütte, wo aus dem Schornstein Rauch aufsteigt, glaubt sie nicht, dass es die Wirklichkeit ist, sondern etwas, das sie sich nur einbildet. Ein kleines Märchenhaus im Schutz hoher Kiefern, umgeben von Hagebutten. Man kann damit rechnen, dass die Hexe herauskommt, um sie zu fangen und zum Abendbrot zuzubereiten.
Sie glaubt, die anderen vorgehen zu lassen, um ein wenig allein zu sein. Aber die Knie geben unter ihr nach. Und als Letztes nimmt sie den frischen Geruch von Sauerampfer wahr. Dann füllt sich ihr Mund und alles verschwindet.
Sie erwacht zur Geschichte ihres Vaters, wie sie sich im Nebel verirrt haben und wie er dennoch mit Hilfe von Karte und Kompass die Richtung gefunden hat. Die Wörter strömen aus der Übelkeit. Die Erleichterung, Menschen erreicht zu haben, wird einsam wie ein Moor im wilden Gebirge.
Später erinnert sie sich an den Geruch der Hagebuttensuppe und an den Klang der nordschwedischen Sprache.
Alles kommt an den Tag
Sie muss sie glauben machen, sie habe ihren Spaß, sie dürfen die Wahrheit nicht entdecken. Sie hört selbst, dass ihr Lachen so schrill ist wie eine ungeölte Fahrradbremse an einem steilen Hang. Aber sie bringt die anderen zum Lachen. Laut.
Die Mutter freut sich, wenn sie Freundinnen zu Besuch hat, und ist immer nett. Alle essen Brote und trinken Kakao. Die Mädchen aus der Schule und sie. Tanzen in dem großen leeren Wohnzimmer im Erdgeschoss, denn das ist im Moment unbewohnt. Sie haben einen Plattenspieler mitgebracht. Sie hören Tango, Walzer und Rock. Vor allem Rock. Sie kann sich nicht daran erinnern, wie die Stücke heißen oder wer singt. Mit einer Ausnahme. Elvis. »Blue Suede Shoes«. Ihr ist schon schlecht, noch ehe sie anfangen, und ab und zu fällt sie. Nicht nur beim Tanzen.
Setz dich, sagt die Mutter mit sanfter Stimme.
Die Schwester ist schlafen gegangen und sie sind allein.
Du hast überall zugenommen, fügt die Mutter hinzu. Sie hat es gesehen. Verstanden. Mit dem Elektrikerlehrling hat es nicht nur Rock ’n’ Roll und Tanz gegeben.
Dann kommt es an den Tag, wie man sagt. Alles kommt an den Tag. Der einzige Vorwurf, den die Mutter ihr macht, ist, dass sie so unvernünftig war, durch die Berge zu gehen, ohne etwas zu sagen.
Wusst ich doch nich, glaubt ich doch nich, konnt ich doch nich glauben, behauptet sie mit brüchiger Stimme, ehe sie zusammenbricht.
Zuerst ist es still. Entsetzlich still. Man kann sich vorstellen, dass mehrere Tage vergehen, ehe die Mutter endlich etwas sagt.
Aber sie kann hören, dass sogar die Mutter ihre Zweifel hat.
Der große runde Ofen im Wohnzimmer ist kalt. Mit seinen eisernen Rändern und Figuren reicht er fast bis an die Decke. Die Mutter hat ihn soeben geschwärzt und sich die Hände gewaschen. Jetzt reicht sie ihr ein Handtuch, damit sie sich die Nase putzen kann. Schwarze Farbe und Lappen liegen in einem Pappkarton neben dem Kokskasten.
Machst du den Dreck für mich weg? Dann koch ich jetzt, sagt die Mutter und steht auf.
Sie hat die Schande im Bauch. Wenn sie keine Lösung findet, kann sie nur noch sterben. Alles eilt, aber sie begreift nicht, was sie tun soll. Das Leben zerfällt jetzt in Monate. Nur noch siebeneinhalb Monate übrig. Sie lacht laut, egal mit wem, und bereitet sich vor. Ab und zu geht sie zu der hohen Brücke über dem Fluss. Tief unten gibt es Steine und dunkles Wasser. Es dauert nicht viele Sekunden. Das weiß sie ja.
Der Elektrikerlehrling kommt und will sich mit ihr verloben. Sie stehen im Treppenhaus und er ist plötzlich ein Fremder, ohne dass sie weiß, wie das passiert ist. Sie muss es ihm offen sagen, sie kann sich nicht verloben.
Warum nicht, will er wissen.
Sie kann keinen vernünftigen Grund finden und schüttelt nur den Kopf.
Er nimmt ihre Hand und sagt, es sei in Ordnung, dann geht er. Am Hang zur Straße dreht er sich noch einmal um und lächelt.
Am Tag darauf kommt seine Mutter und sagt, sie müssten heiraten. Das sei nur recht und billig, sagt seine hübsche kleine Mutter.
Sie ist zu Besuch bei ihnen gewesen und hat Eintopf gegessen. Es hat die ganze Zeit geregnet und sie saßen im Haus und spielten Karten. Seine Mutter lächelte ununterbrochen und ließ die beiden gewinnen. Als ob sie kleine Kinder wären.
Ihre Mutter steht am Küchentisch und knetet weiter den Brotteig, obwohl sie Besuch haben. Ein Brotteig kann niemals warten. Das weiß auch der Besuch. Die Mutter dreht sich um und wischt sich an der Schürze die Hände ab. Langsam. Dann breitet sie ein sauberes Geschirrtuch über den Teig im Holzbottich.
Die sind doch noch Kinder. Ist schwer genug, dass die das Kind kriegen, da müssen die nich auch noch so ’ne Ehe auf sich nehmen. Die sollen lieber überlegen, wie sie ihr Brot verdienen und das Kind und sich selbst versorgen könn’. Wenn die heiraten wolln, könnse das machen, wennse erwachsener sind, sagt die Mutter und setzt Kaffeewasser auf.
Für die Mutter war das eine lange Rede.
Sie sieht Jesus in den Armen der Mutter liegen und lächeln. Er trägt die Dornenkrone und hat mollige Ärmchen. Über dem Kopf der Mutter hängt der Vollmond wie ein Heiligenschein. Jesus tröstet die Mutter damit, dass alles gut gehen wird. Er reckt sich und stellt die Füße auf den Boden.
Dann stehen sie da nebeneinander und lächeln sie an. Die Mutter und Jesus. Als ob sie Geschwister wären. Die Mutter streichelt Jesus über die Dornenkrone und sticht sich. Jesus zieht ein Pflaster aus dem Kittel und klebt es auf ihren Finger.
Es sieht aus, als ob die beiden mit sich selbst beschäftigt sind und sie vergessen haben.
Im Fenster der Schande
In der ersten Zeit, nachdem die Übelkeit sich gelegt hat, isst sie dicke Scheiben Brot mit kaltgerührter Himbeermarmelade. Trinkt Milch wie ein Kalb und wird rund und üppig. Das passt sehr gut, um ihren Zustand zu verbergen.
Dennoch wird sie zum Schularzt befohlen. Als ob sie eine schrecklich ansteckende Krankheit hätte. Der Arzt untersucht und stellt eine Menge Fragen, die sie vergisst, noch ehe sie sie beantwortet hat.
Die Eltern bekommen mit der Post einen Brief.
Sie geht von der Realschule ab und lernt allein weiter.
Die Menschen, die ihr unterwegs begegnen, starren sie mit leerem Blick an, ohne etwas zu sagen. Als wäre sie gar nicht da. Sie schlägt die Augen nieder oder schaut zur Seite. Wenn es mehrere sind, fangen sie sofort an zu tuscheln, sowie sie vorüber ist.
Dann geht sie nicht mehr aus dem Haus, solange es noch hell ist.
Der Vater weint und sagt, sie habe furchtbare Schande über die Familie gebracht. Seine Mutter kommt mit Rosinenkuchen in einem Spankorb. Sagt, sie sei nicht die Erste und werde nicht die Letzte sein, die ein Kind bekommt, ohne verheiratet zu sein. Das ist dem Vater kein Trost. Er nennt sie nur noch »die Schande«.
Der Vater geht ins Büro, ehe sie aufgestanden ist. Wenn er nach Hause kommt und sich in den besten Sessel setzt und seufzt, ist sie bereits in dem Zimmer, das sie mit der Schwester teilt. Sie hofft, dass er dann die Mutter in Ruhe lassen wird.
Schließlich fängt er an, auf dem Flur darüber zu reden, dass »dieses Mädchen« der ganzen Familie Schande gebracht hat. Die Mutter erinnert ihn daran, dass die Schande darin liegt, von den anderen im Haus gehört zu werden. Die leise, gebieterische Stimme dringt durch die Wände zu ihr durch.
Nun geht der Vater in das ockergelbe Haus und zu seiner Verwandtschaft. Dort darf er weinen und schreien. Und die Mutter kann in Ruhe alles erledigen, was erledigt werden muss.
Es wird jetzt früh dunkel. Sie trägt einen weiten Anorak mit Kapuze. Eines Abends tut sie das, was sie sich vorgestellt hat. Klettert hinauf. Das Brückengeländer ist eiskalt. Der Fluss zischt »komm!«. Die Strömung ist reißend.
Sie verspürt eine Angst, die fast so groß ist wie die Schande in ihrem Bauch. Es ist unmöglich zu sagen, wovon ihr mehr schlecht wird. Sie wartet darauf, dass sie ohnmächtig wird, um es nicht selbst tun zu müssen. Es ist offenbar eine furchtbare Sünde, es selbst zu tun. Aber was sein muss, muss nun einmal sein. Gott kann sie nicht strenger bestrafen als ohnehin schon. Und die Auferstehung ist sowieso nicht für solche wie sie gedacht.
Sie hat sich oft gefragt, wer sie wohl vermissen wird. Viele sind es nicht. Die kleine Schwester ist vielleicht die Einzige. Sie wird ja nichts von alldem verstehen. Die Mutter der Mutter, vielleicht, aber die hat ja so viele. Sie hat ihr Leben lang Menschen verloren und ist daran gewöhnt. Die andere Großmutter wird weinen. Jedenfalls im ersten Augenblick. Die alte Tante wird wohl trauern und seufzen, aber wird sie ihr fehlen? Die Familie wird ein großes Problem weniger haben. Das weiß sie ja. Nach der Beerdigung werden sie auf andere Gedanken kommen. Sogar die Mutter. Sie hat das Leben der Mutter fast unerträglich gemacht. Hat ihr Gesicht gesehen, wenn sie aus dem Laden kam und anderen begegnen musste. Gequält. Leer. Wie ein vergessenes Bild in einem Malbuch. Wird sie erleichtert sein?
Sie können sagen, sie sei immer so leicht gefallen, sie hätten eigentlich schon drauf gewartet. Es ist ja vorgekommen, dass sie auf dem Boden gelegen hat, verkrümmt und mit Schaum vor dem Mund. Vielleicht ist es so passiert? Dass sie sich aus irgendeinem Grund über das Geländer gebeugt und einen Anfall erlitten hat? Dann war es ja keine vorsätzliche Tat.
Der Vater wird erleichtert aufseufzen und weinen, wenn andere ihn ansehen. Er wird allen, die es sich anhören mögen, eine dramatische Geschichte erzählen über etwas, das er nicht miterlebt hat. Froh wie eine Lerche im Frühling. Er hat schon längst begriffen, dass er nicht wissen kann, was ihr alles zuzutrauen ist. Jetzt sitzt sie da und klammert sich an ein eiskaltes Geländer und tut sich selbst leid. Das hat sie sicher vom Vater, überlegt sie.
Tief dort unten scheinen die Wassermassen kehrtzumachen. So ist es nun einmal. Bei Flut kommen die Wassermassen durch die schmale Öffnung und in die verschlossene Bucht. Sie hat dem Onkel mehrmals geholfen, das Boot hindurchzurudern, genau zwischen Ebbe und Flut, wenn die Strömung weniger reißend ist. Manchmal schäumt das Wasser auf. Jetzt aber nicht. Die Strömung hält den Atem an und wartet auf sie.
Zwei Eiderenten tauchen zwischen den Felsen auf und gleiten durch die Wirbel, als sei alles nicht weiter wichtig. Die Laternen auf der Brücke lassen die dunklen Federn des Erpels aufleuchten. Das Weibchen ist einfach nur graubraun. Die Häuser hinten auf der Odde haben schwarze Umrisse, als ob sie sie gezeichnet hätte.
Wird sie schon tot sein, wenn die Strömung sie ins offene Meer reißt? Wie lange braucht man zum Ertrinken? Warum weiß sie dermaßen wichtige Dinge nicht?
Zu ihrer Demütigung kommt jetzt jemand. In der Dunkelheit kann sie nicht sehen, wer es ist. Es ist beschämend und kindisch, dass sie so nutzlos dort herumsitzt. Also klettert sie schnell wieder herunter.
Als der Mensch ihr mit dunkler Stimme einen guten Abend wünscht, erwidert sie diesen Gruß. Er sagt nichts darüber, dass er sie gesehen hat. Als ob das einfach ab und zu nötig wäre: auf einem Geländer zu sitzen und in die Ewigkeit hinunterzuschauen. Er geht einfach an ihr vorbei. Wie an einem Pferdeapfel. Oder einem Menschenschatten.
Vermutlich ist das das Problem. Dass sie eigentlich nur der Schatten von etwas ist. Oder der Abfall. Etwas, das jemand weggeworfen hat. Sie lehnt sich an das Geländer und hat ein seltsames Gefühl im ganzen Leib. Eine Art Lähmung. Es ist nicht das erste Mal. Aber es war noch nie so stark. Das Gefühl sagt, dass sie nicht hier auf der Erde ist. Dass sie nur so tut. Und sie muss eben weiter so tun, solange das geht, denkt sie.
Die Menschen wünschen trotz allem keinem Pferdeapfel einen guten Abend.
Sie bringt es nicht einmal über sich, wieder auf das Geländer zu klettern.
Diese Fremdheit.
Der Riss in ihrer Brust ist mit Stacheldraht genäht.
Es gibt Menschen, die eine solche Schande sind, dass man sie nicht zur Schule gehen lassen darf. So ein Mensch ist sie. Sie darf nicht gesehen werden. Jetzt, wo alle es wissen und wo sie von der Schule abgegangen ist, kann sie nichts mehr hinunterbringen. Was, wenn es so einfach ist? Einfach mit Essen aufzuhören? Aber die Mutter hat ihre Gedanken offenbar erraten.
Wennde nix isst und krank wirs, wird alles für mich auch noch schlimmer, kapierste das nich?
Zum ersten Mal erwähnt sie, dass ihr Leben nicht gut ist. Aber sie kocht Bouillon und die trinken sie zusammen, am Küchentisch. Danach isst sie eine halbe Schnitte Brot mit Himbeermarmelade, während die Mutter ihr schweigend zusieht.
Von nun an beobachtet sie ihre Mutter, um zu wissen, wie schlecht es der geht. Je bleicher und erschöpfter die Mutter aussieht, umso mehr versucht sie zu essen. Aber es kommt wieder hoch.
Die Schande will nicht zwangsernährt werden.
Zwei Lehrer kommen zu ihr nach Hause, um ihr beim Lernen zu helfen. Die Mutter hat sie darum angefleht. Die Schule hat keine Examensberechtigung, deshalb müssen alle privat zum Examen antreten. In dieser Hinsicht ist sie nicht die Einzige. Sie lernt und löst Aufgaben, obwohl sie weiß, dass sie vor dem Examen sterben wird. Schon im Januar wird sie sterben. Und das Examen findet erst im Mai und Juni statt.
Die Mutter geht zu der alten Hebamme, die die nächste Nachbarin ist, und bittet sie, nach ihr zu sehen. Vielleicht kann sie das Kind holen, wenn es so weit ist, dann braucht sie, so jung, wie sie ist, nicht in der Ferne im Krankenhaus unter Fremden zu liegen.
Die alte Hebamme sieht nach ihr und tastet sie ab. Verspricht nichts, sagt aber auch nicht nein.
Es ist doch klar, wenn das Mädchen einen Blutsturz erleidet oder das Kind falsch liegt, krieg ich die Schuld, ich altes Weib, sagt die Hebamme und seufzt.
Aber sie scheint keine besondere Angst zu haben und schließt mit einer Mahnung. Eine Schwangere muss ordentlich essen, sonst geht es schief, droht sie.
Der Bauch wächst, auch wenn sie nur ab und zu ein Brot hinunterbringt. Sie geht nicht mehr aus dem Haus. Sie liest nur noch. Liest und liest. Vor allem für die Schule. Aber sie scheint ein Loch im Kopf zu haben, denn alles, was sie abends zu wissen glaubte, ist verschwunden, wenn sie aufwacht. Die Nacht hat es durch Ohren, Nase und Augen entweichen lassen. Sie ist undicht wie ein Sieb und ihr Bauch wächst.
Die kleine Schwester begreift nicht, dass es eine solche Schande ist, dass sie ein Kind erwartet. Sie will lernen, dafür etwas zu stricken, sagt sie. Die Mutter sagt, es sei kein das, sondern ein Mensch.
Sie suchen hellgrüne Wolle heraus und fangen an. Sie fängt die Maschen auf, die die Schwester immer wieder fallen lässt. Es geht langsam. Wenn die Schwester schläft, strickt sie ein wenig weiter, um ihr zu helfen. Das ist das Mindeste, was sie tun kann.
Wem wird das Kind wohl ähnlich sehen?, fragt die Schwester munter.
Sie sagt, sie hoffe, es werde ihr ähnlich sehen, sie sei doch die Tante.
Die Schwester kostet das Wort »Tante« aus und fragt, warum sie das glaubt. Weil ich noch nie so ’n schönes Kind gesehen hab wie dich, antwortet sie ernst.
Die Kleine nickt energisch und lächelt zufrieden.
Die Mutter kommt mit einem Buch aus der Bücherei. Es geht um einen Embryo im Bauch einer Frau, die ohne einen einzigen Blutfleck in zwei Teile zerschnitten worden ist. Es ist natürlich nur eine Zeichnung. Man sieht alles darinnen. Einige Bilder zeigen, wie das Kind herauskommt. Total unnatürlich und nicht zu fassen. Sie will es gar nicht sehen. Aber das muss sie. Blättert im Buch und fühlt sich elend. Jetzt weiß sie, wie Menschen zumute ist, die in einem Berg gefangen sind. Schlimmer. Sie hat einen Berg, der ihren Körper verlassen muss.
Wieder weiß die Mutter, was sie denkt, und erzählt, dass sie und die Großmutter leichte Geburten hatten und dass sie vermutlich auf die beiden kommen wird. Sie nickt verängstigt.
Ich bin ja da, wenn es passiert. Und die alte Hebamme auch, sagt die Mutter.
Dann sitzen sie eine Weile da und haben nichts mehr zu sagen.
Wir dürfen nicht vergessen, dass es kein Unglück ist, sondern ein Mensch, der uns wichtig ist, sagt endlich die Mutter mit blanken Augen.
Ihr geht auf, dass die Mutter noch nicht vor ihren Augen geweint hat. Sie senken den Kopf und weinen ein bisschen zusammen. Von Schluchzen kann nicht die Rede sein. Es ist eher ein Schnaufen, zum Beweis dafür, dass sie einander verstehen. Die Mutter bringt das Buch mit der halben Frau und dem Embryo im Bauch weg, damit es nicht nass wird. Es gehört doch der Bücherei und nicht ihnen.
Die alte Hebamme, die eigentlich schon in Rente ist, trägt eine große weiße Schürze und redet mit ruhiger Stimme, während sie hinter ihrer Brille die Augen zusammenkneift. Atmen!, sagt sie. Zwischen den Wehen erzählt sie von dem letzten Kind, das sie in diesem Zimmer geholt hat. Vor vielen, vielen Jahren.
Das ’s jetzt schon ’n erwachsener Mann. Das war das Kind von der armen Marie, die ist jetzt mit allem allein. Der selber saß zum Schreiben da draußen im Pavillon und durfte nicht gestört werden. Der war kein erwachsener Mann, der Kerl, egal, wie berühmt er war. Es ging nicht darum, dass er unbedingt schreiben musste, der konnte einfach kein Blut sehn! So sind die Männer oft, verstehst du. Ich kenn einen Bauern in Nordbygda, aber ich sag keinen Namen, der kann seine eigenen Lämmer nicht holen. Männer … jagen und schlachten, Krieg führen und morden, aber kein Blut sehn können, wenn’s ernst wird. Das verstehe, wer will! Sie hat furchtbar kämpfen müssen, die Marie, aber wir konnten das Kind doch rausholen, sie und ich zusammen. Das war eine liebe Frau! Ihm hat der Ruhm ja nicht gutgetan, das kann ich dir sagen. Dachte, er wär was anderes als andere. Das ist das Problem von diesen Burschen, die glauben, der Herrgott hätte sie erhöht. Aber dem Herrgott ist das alles egal, das kann ich dir sagen, mein Kind. Du und dein Kleines, ihr seid genauso viel wert wie der Dichter!
Sie denkt nicht darüber nach, was sie wert ist. Hat genug damit zu tun, in Stücke gerissen zu werden, in Fetzen, mit Gerippe und Muskeln und allem anderen. Zwischen den Wehen denkt sie, das hier sei schlimmer, als von einer Brücke zu springen. Sie hat nicht einmal Zeit, sich zu fürchten. Sie will es nur hinter sich bringen. Die ganze Zeit war klar, dass sie in ihrem eigenen Blut im Bett der Mutter sterben würde, während die Hebamme über die Schlafzimmermöbel des Dichters plappert, in denen die Entbindung leichter ging. Höhere Betten, aber natürlich nicht so modern.
Einmalig schöne Farbe ham die Möbel hier, sagt die Hebamme beifällig, als die Mutter saubere Laken bringt. Jetzt nicht einschlafen, das Kind muss satt werden, du musst mithelfen.
Nur mit dem Nachthemd bekleidet vor einem großen offenen Fenster. Der Himmel ist voller stechender Sterne. Die zielen auf sie. Unter ihr bewegen sich Menschen. Einige drohen mit den Fäusten und rufen etwas, das sie nicht hören will. Sie haben keine Gesichter. Dennoch kann sie verstehen. Die Verachtung dieser Menschen füllt alle Hohlräume und fängt an, sie von innen her zu zerfressen. Ihr das schweißnasse Nachthemd vom Leib zu reißen. An ihren Sehnen zu zerren. Einen Knochen nach dem anderen zu brechen. Ihre Hüften werden losgerissen. Die Kiefer. Steht sie trotzdem aufrecht? Nein, sie hängt. Hängt mit dem Kopf nach unten. Dann merkt sie, dass auch der Dichter dort hängt. Er ist immerhin bekleidet, seine Weste ist zugeknöpft. Aber er zappelt und will zu ihr. Das Nachthemd fällt über sie, über Waden und Schenkel. Über den Bauch. Dann ist sie nackt. In Eis gehüllt. Plötzlich spricht der Dichter, wie sie ihn im Radio gehört hat, mit schnarrender Stimme, gebieterisch.
Sei ganz ruhig und denk deine Gedanken fertig, dann geht es vorbei, sagt er. Sie haben gut reden, möchte sie antworten. Aber das schafft sie nicht. Schmerz hat seinen eigenen Klang. Aber der Dichter lässt sich nicht beirren. Er redet weiter.
Sie glauben, sie hätten dich, aber du musst ihnen zeigen, dass sie sich irren.
Die Frau des Dichters
Der Ort will den hundertsten Geburtstag des großen Dichters feiern. Dass er im Krieg auf der falschen Seite gelandet ist, wird nicht so eng gesehen. Dass er sogar einen Nachruf auf den Führer verfasst hat, versucht man zu verschweigen. Aber natürlich erwähnen einige es eben doch. So ist es ja immer. Immer gibt es welche, die Dinge tun, nur um Unfrieden und Diskussionen hervorzurufen. Aber ausgerechnet jetzt! Jetzt, wo sie feiern und froh sein wollen!
Der Bezirksrat, oder wer auch immer, hat die noch lebende Frau des Dichters eingeladen, um mit ihnen zu feiern. Und dann sollen alle sich gefälligst anständig benehmen. Man soll nicht schlecht über die Toten sprechen und sie nicht kleiner machen, als sie sind. Wir reden hier trotz allem über einen Dichter von Weltgeltung! Einen, der das Dorf im wahrsten Sinne des Wortes auf die Weltkarte gesetzt hat. Soll man sich da mit übler Nachrede und Schikanen abgeben? Bei einem, der als Kind in einem kleinen Dorf gewohnt hat und nach vielen Jahren mit seiner Frau zurückkehrte, um den Boden zu bestellen. Mit eigenen Händen auf eigenem Hof. Steht das stattliche Haus nicht noch immer da? Es ist zwar heruntergekommen und müsste neu gestrichen werden, aber es wohnen ja Leute darin. Und es ist das Haus eines Mannes, der den Nobelpreis bekommen hat. Eine Ehre, die nur verdienten Ausländern zuteilwird.
So reden und denken sie, wenn sie zusammenstehen und das Beste für den Ort wollen.
Die Großmutter holt zwei Bücher vom Dachboden und legt sie zur Feier des Tages aufs Büfett in der guten Stube. Der Onkel schnaubt verächtlich, lässt sie aber liegen.
Sie leiht sie aus und liest sie noch einmal. »Pan« und »Victoria« heißen sie. Ein Wort, das immer wieder in ihrem Kopf auftaucht, wenn sie über den Müllerssohn und Victoria liest.
Wunderbar.
Sie kann es nicht laut sagen, wenn andere es hören könnten. Aber es denken, das kann sie.
Sie war so furchtbar kindlich, als sie diese Bücher zum ersten Mal mit der Taschenlampe auf dem fensterlosen Dachboden gelesen hat. Als die Batterie leer war, schmuggelte sie die Bücher in ihr Bett. Das war, ehe sie ins Dorf gezogen sind, als sie nur in den Ferien bei der Großmutter war.






