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Jetzt ist sie erwachsen. Fast alt. Sie ist mit einem kleinen Jungen im Bauch nach Schweden gewandert. Bald wird sie ihn bei der Mutter zurücklassen, weil sie aufs Gymnasium geht. Sie muss etwas werden und sich selbst versorgen können.
Als Erste sieht die Mutter, wie die Frau den Hang herunterkommt. Sie stehen auf der Veranda und klopfen Teppiche aus. Eine stattliche Gestalt mit üppigem weißem Haar und einer Brosche am Revers. Die Mutter zieht ganz schnell die Teppiche hinter das Geländer und sagt, sie solle hinlaufen und die Frau zum Kaffee bitten. Dann stürzt sie ins Haus, um alles vorzubereiten. Und sie kann nur tun, was die Mutter ihr aufgetragen hat.
Die Frau des Dichters steht mit abgewandtem Gesicht unter einem Baum. Sie tritt langsam näher und fühlt sich schwerelos vor Schüchternheit. Zwei Schritte vor der Frau bleibt sie stehen. Die Fremde dreht sich zu ihr um und ein kleines Lächeln verwandelt ihr Gesicht in eine Sonne.
Wer bist du, Kind?, fragt sie mit leiser Stimme.
Sie antwortet, dass sie mit ihren Eltern im ersten Stock wohnt und dass die Mutter die gnädige Frau zum Kaffee einladen möchte.
Danke! Und wie heißt du?, fragt die Frau.
Als sie antwortet, hört sie, dass ihre Stimme kaum trägt.
Es ist nett von deiner Mutter, zum Kaffee zu bitten, aber ich würde gern hier draußen unter diesem Baum sein … Vielleicht ein Weilchen dort auf der Bank sitzen, sagt die Frau des Dichters und lächelt wieder.
Ich bring Ihnen den Kaffee, sagt sie eifrig und rennt los, ohne die Antwort abzuwarten.
Als sie mit dem Kaffee und den frisch gebackenen Hefewecken der Mutter herauskommt, sitzt die Frau auf der Bank und schaut auf die Landschaft hinaus. Sie putzt sich die Nase mit einem weißen Taschentuch und hat blanke Augen.
Hier konnte man das Meer sehen, jetzt ist alles zugewachsen …, sagt sie leise, wie zu sich selbst. Aber sie nimmt das Tablett entgegen. Kaffee in der Thermoskanne, Tasse, Untertasse und Kuchenschüssel.
Sie bleibt einfach mit hängenden Armen stehen, ohne zu wissen, wie sie sich verhalten soll. Die Frau des Dichters findet das sicher peinlich.
Richte deiner Mutter meinen herzlichen Dank aus, ich stelle das Tablett auf die Treppe, wenn ich gehe, sagt sie und möchte sicher allein sein. Aber sie beugt sich vor und reicht ihr die Hand. Es ist eine Überraschung, die anzufassen. Sie hat eine Arbeitshand.
Später, als die Frau des Dichters schon längst das Tablett auf die Treppe gestellt hat und wieder den Hang hochgegangen ist, denkt sie an das Gespräch, das möglich gewesen wäre. Sie läuft hinaus und setzt sich auf eine Bank in dem überwucherten Garten. Stellt sich vor, die sei noch warm, weil die Fremde dort gesessen hat. Dann stellt sie alle möglichen Fragen. Wie es war, als sie damals den Hof betrieben haben und sie mit ihren Kindern hier wohnte. Der Dichter selbst war natürlich im ganzen Land unterwegs und schrieb seine Bücher.
Sie fragt, ob er ihr etwas darüber erzählt hat, was er schrieb, ehe es gedruckt wurde. Irgendwann hat sie das Gefühl, die Antworten der anderen zu hören, in ihrem eigenen Kopf. Die Stimme ist deutlich, genau wie in Wirklichkeit. Sie erzählt von Einsamkeit, ohne das direkt zu sagen. Nicht klagend, eher als ob sie aus einem Buch vorliest. Darüber, in den Augen der Leute anders zu sein, weil sie aus einem anderen Landesteil stammt. Darüber, mit einem Mann zu leben, aus dem niemand schlau wird. Die zu sein, die zwischen Dorf und Dichter steht und alle praktischen Probleme klären muss. Wie es ist, zurück an diesen Ort zu kommen, dieses Haus zu sehen, in dem sie gelebt und Kinder geboren hat, und den Hof, den sie meistens allein mit dem Gesinde bewirtschaften musste. Es ist wehmütig. Sie benutzt dieses Wort, wehmütig. Und wieder werden ihre Augen blank. Sie ist nicht traurig, die Wehmut ist schuld daran.
Sie wird sich für immer an dieses schöne Wort erinnern. Wehmut. Aber sie wagt nicht zu fragen, wie es war, die Frau eines berühmten Mannes zu sein. Der dann Schande und Elend über die ganze Familie gebracht hat.
Stattdessen vertraut sie sich an, erzählt, dass sie im selben Zimmer ein Kind geboren hat, mit derselben Hebamme wie die Frau des Dichters. Und die Frau des Dichters schlägt die Hände zusammen und seufzt, so dass ihr üppiger Busen sich mehrmals hebt und senkt.
Und noch so jung, sagt sie. Aber du brauchst dich nicht zu schämen. Du bist doch kein Nazi. Nicht verzweifeln, sagt die Frau des Dichters und weiß sehr viel über die Nazis. Vieles, das sonst niemand weiß.
Freimütig gesteht sie der Fremden, dass sie sich vor dem Gymnasium fürchtet, sich aber darauf freut, von zu Hause wegzukommen. Sie fragt ganz offen, ob sie ein schlechter Mensch ist, weil sie ihr Kind verlässt, wie der Dichter es ja auch immer wieder getan hat.
Nicht doch, sagt die andere. Du bist alt genug, um zu wissen, dass solche Dinge dich nicht zu einem schlechten Menschen machen.
Sie erzählt, dass sie vom Pastor ein Leumundszeugnis einholen musste, um sich an verschiedenen Gymnasien bewerben zu dürfen.
Und wie ging das?
Er hat geschrieben, mein Leumund sei tadellos und über meinen ethischen und moralischen Wandel sei nichts hinzuzufügen.
Dem Pastor musst du unbedingt glauben, er hat sicher in seinem Amt alles Mögliche erlebt, sagt die Frau des Dichters. Es ist eine Erleichterung, dass sie genau das sagt, was sie selbst gedacht hat.
Und dann bleiben sie einfach so sitzen, in tiefem Gespräch über alles, was sie weder der Mutter noch jemand anderem erzählen kann. Fast jeden Tag, den ganzen August über, bis sie dann zum Gymnasium fahren muss, sitzen sie so da.
Damit niemand glaubt, sie verschwende ihre Zeit, hat sie immer ein Buch vor sich liegen. Wenn sie aus Versehen etwas laut sagt oder gestikuliert, können die anderen einfach glauben, sie versuche, den Lehrstoff auswendig zu lernen.
Der Preis des Wissens
Die unverheiratete Tante des Vaters passt auf den Jungen auf. Die Mutter und sie nehmen Bus und Fähre in die kleine Stadt, die nach Fisch riecht und über der mehr Möwen fliegen, als irgendwer glauben kann. Sie muss allein zum Büro des Rektors gehen. Aber das muss sie eben hinter sich bringen.
Der Rektor ist ein großer Mann mit breiten Schultern, immer beugt er sich ein wenig vor, als habe er beschlossen, dass der Kopf vor dem Körper kommen muss. Erst geht er hinter einem Schreibtisch mit Papieren in den Händen immer hin und her. Er hat lange knochige Finger und sieht bedrohlich aus. Sie schwitzt. Am Ende setzt er sich und liest ihre Noten laut vor, als ob sie nicht wüsste, was da steht. Die schlechten prallen von den Wänden ab wie hässliche Echos aus dem Totenreich.
Nuuun, nuuun, sagt er langsam und mustert sie bedrohlich. Es gibt hier Möglichkeiten, natürlich. In Norwegisch zum Beispiel. Nicht schlecht, nicht schlecht … Aber eine Mathematikerin wird wohl nicht aus dir. Was meinst du selbst? Fast hätte sie ihre Zunge verschluckt, als wäre das die einzige Möglichkeit, nichts sagen zu müssen.
Was meinst du selbst, fragt er noch einmal und lächelt plötzlich, wie um sie zu schockieren.
Ich sollte wohl eher auf Lesen und Schreiben setzen, murmelt sie atemlos.
Vernünftig! Dann bist du an dieser Schule angenommen, sagt er fast wütend, während er von einem Ohr zum anderen lächelt.
Sie hat Angst vor ihm, fühlt sich aber erst einmal sicher, dass sie einen Menschen mit Macht auf ihrer Seite hat.
Es fängt so licht an. Leicht. Als ob sie sich selbst mit Pastellkreide in die Welt zeichnen könnte. Das Mädchen, das mit ihr befreundet sein will. Die vielen kleinen Freuden. Die alten Schuhe so blank putzen, dass sie ganz neu aussehen. Sich Schulbücher besorgen. In der duftenden Bäckerei ein halbes Brot kaufen. In das Klassenzimmer gehen, das nach Kreide, Staub und grüner Seife riecht. Sich an ihren Tisch setzen und wieder ein Teil von etwas sein. Mit den anderen in der Klasse über alles Mögliche reden.
Vor allem aber hören, dass jemand lacht.
Der Vater ist nicht da.
Aber ihr Junge auch nicht.
Schon als sie das erste Mal den Fjord überquert, nachdem sie bei den Eltern gewesen ist, nagt etwas an ihrem Gehirn. Es führt sich auf wie bleischwere Insekten. Sie hat da drinnen einen riesigen Schwarm. Der surrt. Sogar nachts. Vor allem nachts.
Sie hat ein Zimmer gleich beim Friedhof. Zwei große Fenster und rot angestrichene Möbel. Klo und Waschbecken in einem Verschlag auf dem Gang, den sie mit den Vermietern teilt. Das Badezimmer ist im Keller, aber sie darf es benutzen, wenn sie vorher fragt. Sie darf nicht vergessen, die Zahnpastareste aus dem Waschbecken zu wischen, sonst grämt sich die Vermieterin.
Die Vermieterin hat ein Ekzem. Sie redet darüber und kratzt sich. Ein Teil der Einsamkeit der Vermieterin scheint vom Ekzem herzurühren. Sie ist freundlich und lädt zum Essen ein. Dabei kommt heraus, dass sie ihr Zimmer ihrem Nähkränzchen zeigt, wenn sie nicht da ist, um zu beweisen, wie schön es da ist. Auch die Schubladen. Schöne Unterwäsche, sagt sie. Das hast du natürlich zu Hause so gelernt, sagt die Vermieterin.
Sie verschluckt sich an der Suppe und schnappt nach Luft. Auf irgendeine Weise ist es ihre Schuld, dass die Frau in ihren Schubladen kramt. Dann muss sie erklären, was die anderen gesehen haben. Sie erklärt, dass die Mutter als Vertreterin für eine dänische Unterwäschefirma arbeitet. Die Vermieterin schlägt die Hände zusammen und fragt immer weiter, als wäre das eine Neuigkeit, die in der Zeitung gestanden hat.
Die Mutter hat die Maße für selbstgenähte Unterwäsche genommen, sagt sie. Man findet alles, was man an Haken, Spitzen, Stäbchen und Gummis will, in Katalogen. Die Mutter war zum Anlernen in Kopenhagen. Ab und zu reist sie umher und nimmt Maß an Frauen, die sie zu sich bestellt haben. In ihren Katalogen sehen die Frauen aus wie Engel, fügt sie hinzu, auch wenn sie weiß, dass sich das nach Prahlerei anhören kann.
Ja, da ist es ja kein Wunder, dass die Frauen in meinem Nähkränzchen finden, dass du schöne Unterwäsche hast, sagt die Vermieterin und lächelt sie über die Fleischsuppe hinweg an. Sie hat graue Locken und schöne Augen. Ihr Mann ist auch nett, sagt aber nicht viel.
Wie kann man um einen Zimmerschlüssel bitten, wenn man so freundliche Vermieter hat?
Dennoch tut sie es eines Tages. Es hat noch nie einen Schlüssel für dieses Zimmer gegeben, ist die Antwort. Aber es spielt doch sicher keine Rolle, nachts schließen sie ja die Haustür ab. Sie hat doch einen Haustürschlüssel bekommen, nicht wahr? Das hat sie. Im Grunde ist ja auch alles recht und billig, denn die Vermieter schließen ihre Zimmertüren ja auch nicht ab. Und der Vater ist nicht da.
Sie hat ihr Notizbuch immer bei sich. Sie kann sich ja nicht mehr einbilden, es sei unter ihren Unterhosen gut aufgehoben. Aber das ist egal, ihre Schultasche ist voll schwerer Bücher, was macht ein kleines Notizbuch da für einen Unterschied?
Es ist nicht möglich, ihr eigenes Leben zu zeichnen, auch wenn sie den Vater nicht sehen muss. Sie fühlt sich wohl in der Schule, ist aber eine Fremde. Ein Landei. Weiß nicht, was modern ist. In der kleinen Stadt ist es wichtig, modern zu sein. Die Kinder aus den großen Kaufmannsfamilien entscheiden darüber. Glaubt sie.
Der Herbstball rückt näher und sie bittet die Mutter, das weiße Konfirmationskleid zu kürzen und knallgelb zu färben. Sie probiert es in ihrem Zimmer an und findet es sehr schön.
Als sie auf den Ball kommt und die anderen sieht, die Modernen, ist ihr klar, dass ihr Kleid einfach hoffnungslos ist. Die neue Freundin mustert sie skeptisch, ohne etwas zu sagen. Trotzdem tanzen einige mit ihr. Sogar aus der Parallelklasse.
Ach, so sieht also dein Prinzessinnenkleid aus, sagt einer.
Du hast so schöne Haare, sagt ein anderer.
Diese Bemerkung rührt sie dermaßen, dass sie schlucken muss.
Einer sagt, ihre Rede an die Lehrer sei hervorragend gewesen. Sie erinnert sich beschämt daran, wie sie steckenblieb und den Faden verlor, weil sie einen Abschnitt in ihrem Manuskript übersprungen hatte. Sie begreift noch immer nicht, wie sie sich dazu bereit erklären konnte, diese Rede zu halten. Überhaupt begreift sie nicht, warum sie immer wieder tut, was sie nicht kann oder wagt. Das ist doch irgendwie krank!
Sie geht, lange bevor der Ball zu Ende ist.
Am Montag danach nimmt sie alles Essensgeld für den ganzen Monat und kauft sich einen orangefarbenen Mohairrock und einen kupferfarbenen Gürtel. Aber es ist natürlich zu spät. So schmal sie ihre Taille auch zu machen versucht, der Ball ist vorüber. Sie isst belegte Brote, während das bleischwere Ungeziefer in ihrem Kopf herumnagt. Versucht, es an den Kieswegen, im Birkengestrüpp und an den Grashängen auszulüften, die zu den Felskuppen hochführen. Aber alles wird zu einem widerlichen Sirup aus Broten, Rotz und verschwommenen Bildern von Inseln, Booten und grauem Meer.
Alleinsein
Sie wurde geboren, als Norwegen von den Deutschen besetzt war, und müsste also vorbereitet sein. Aber die deutschen Beugungen sind böhmische Dörfer. In der deutschen Sprache wird einfach alles gebeugt. Wo sie am Krieg schuld waren, sollten sie wenigstens aufhören, alles so kompliziert zu machen, denkt sie. Man könnte glatt glauben, alle normalen Deutschen blieben wegen ihrer furchtbar schwierigen Sprache Analphabeten. Aber nein. Es ist offenbar ein belesenes und aufgeklärtes Volk. Die Freundin behauptet, Deutsch sei wie Mathematik, einfach und logisch und leicht in den Griff zu bekommen. Sie kann nicht widersprechen, da sie ja auch in Mathematik nicht gut ist.
Du hast doch diese schrecklichen Norwegischaufsätze geschafft, sagt die Freundin.
Das stimmt. Aber ab und zu kommt sie sich richtig zurückgeblieben vor. Was sie vor dem Realschulexamen gebüffelt hat, ist verschwunden. Spurlos. Ihr Kopf ist ein grobmaschiges Sieb. Außerdem macht es ihr Sorgen, dass sie durch und durch unmodern ist, ohne Übung darin, sich in einer modernen Gesellschaft zu bewegen. Wenn es regnet, zieht sie Gummistiefel an. Das hat sie immer so gemacht. Die Freundin sagt, sie sehe aus wie eine Fischersfrau oder eine Lappin. Natürlich hat sie recht. Also kauft sie sich für ihr Essensgeld Lederstiefel und ein Twinset. Das haben alle. Es ist aus reiner Wolle und kratzt, und es hilft ihr nicht weiter bei dem Versuch, die Mathematik zu durchschauen.
In gewisser Weise gibt es ihr ein Gefühl der Geborgenheit, so nah beim Friedhof zu wohnen. Manchmal gehen andere hin und zünden auf den Gräbern Lichter an. Eines Abends nimmt sie ein Licht mit und tut so, als hätte sie Bekannte, die dort liegen. Sie sucht sich ein Grab mit verschneitem Grabstein und unleserlicher Inschrift aus. Kniet nieder und weint ein wenig. Friert dann auch im Gesicht. Am Ende ist ihr so kalt, dass ihr klar wird, dass es immer schon Menschen gegeben hat, denen es schlechter ging als ihr. Sie darf immerhin zur Schule gehen. Das dürfen nicht alle, die dermaßen in Schande geraten sind wie sie. Es ist wirklich ein Trost, den Friedhof aufsuchen zu können. Der Weg ist kurz. Nicht zuletzt, wenn sie danach wieder in ihr Zimmer will. Dort ist es warm, auch wenn der Wind die Vorhänge bläht wie Segel, wenn er weht.
Die Vermieterin hat sie gebeten, den Heizkörper abzudrehen, wenn sie in die Schule geht. Zuerst gibt sie vor, das zu vergessen, aber dann entdeckt sie, dass die Vermieterin es auf jeden Fall erledigt. Es ist wie die Sache mit dem Schlüssel – wenn man nichts ändern kann, gewöhnt man sich lieber gleich daran. Es wird ja ziemlich schnell warm, wenn sie den Heizkörper voll aufdreht.
Samstags nimmt sie nach der Schule zumeist die Fähre über den Fjord, um ihren kleinen Sohn zu besuchen. Bei jedem Wetter. Sie hat Angst, dass er sie vielleicht nicht wiedererkennt. Aber jedes Mal lacht er und streckt die Arme nach ihr aus. Ein glühender kleiner Stein mit dunklen Locken. Wenn sie nicht bei ihm ist, ist er ein Teil der Einsamkeit, aber auch ein Trost.
Die Fährfahrt ist Strafe und Medizin zugleich. Vor allem die Rückfahrt am Sonntagabend. Das Wetter wird von Samstag auf Sonntag selten besser. Eher ist das Gegenteil der Fall. Schon im Hafen wird ihr schlecht. Aber man gewöhnt sich an fast alles, und sie muss zurück.
Montags reden die anderen in der Klasse darüber, was sie am Wochenende gemacht haben. Über die Feste. Sie hört zu. Es ist keine schlechte Eigenschaft, zuhören zu können, denkt sie.
Vor dem Weihnachtsexamen zündet sie abends auf dem Friedhof ein Licht an, geht danach zurück in ihr Zimmer und arbeitet nachts weiter. Dann gehört das Haus nur ihr. Die Vermieter sind nie besonders laut, und nachts ist alles still. Ihre Arbeitslampe ist gut. Aber ihr Gehirn scheint mit Tran oder einem anderen Fett verschmiert zu sein. Alles rutscht wieder heraus.
Sie hat angefangen zu zeichnen, so wie früher. Hat im Buchladen Geld für richtiges Zeichenpapier ausgegeben. Wasserfarben und Buntstifte hatte sie immer schon. Eigentlich hat sie keine Zeit für diese Dinge, denn sie muss sich auf die Schule konzentrieren. Man kann sagen, dass Konzentration jetzt das Wichtigste im Leben ist. Dennoch sitzt sie abends da und hört das Kratzen auf dem Papier.
Sie zeichnet das, woran sie sich vom Friedhof und von den Stränden der Insel, wo sie aufgewachsen ist, erinnert. Die alten Bäume im Pfarrgarten. Eines Abends tauchen die Umrisse eines Tores und eines Zaunes auf, von denen sie nicht weiß, wo sie sie gesehen hat. Sie füllt den Rest von Landschaft und Zaun aus. Das Gestrüpp, das sie umgibt. Sie begibt sich gewissermaßen hinein und bleibt lange sitzen und sieht es an, als es fertig ist. Aus der Zeichnung kommen kleine Geräusche. Vogelzwitschern. Fahrradreifen im Kies. Sie hört, wie ein Boot auf den Strand gezogen wird, ohne dass sie das Boot gezeichnet hat.
Eines Tages zeichnet sie ihr Zimmer mit Fensterkreuz und leerer Blumenvase auf dem Tisch. Es ist nicht gut genug, aber immerhin ein Trost in der Melancholie. Dieses Wort gefällt ihr. Melancholie. Sie hat es in irgendeinem Roman gelesen, kann sich aber nicht erinnern, in welchem. Ein anderes Wort ist Tristesse. Das klingt französisch. Alles, was französisch ist, ist für sie weich und elegant zugleich. Sogar ein Wort mit drei s und zwei e.
Sie versucht Menschen zu zeichnen, aber dabei kommen immer wieder schöne Frauen heraus, die Elizabeth Taylor ähneln, mit einer kleinen geraden Nase und welligen Haaren. Oder schlimmer noch, sie selbst mit gelben Haaren und wippenden Brüsten. Sie erlässt ein Verbot. Frauen werden nicht gezeichnet! Gesichter sind untersagt, Hände und Rücken aber nicht. Sie spezialisiert sich auf Holz mit Mustern aus Astlöchern.
Dann taucht das Gesicht ihrer Großmutter mütterlicherseits auf dem Zeichenblock auf. Runzlig, mit markanter Nase und Augen, die ihr ins Gesicht schauen. Sie sitzt da und starrt zurück. Das hat sie gemacht?
Sie versucht auch, ihre Träume zu zeichnen. Aber das verdirbt ihr die Stimmung. Entweder ist es zu hässlich oder zu töricht. Erinnert sie daran, wie feige und ausweichend sie ist. Als ob sie nur wartet. Sie watet durch ihr Leben und wartet.
Raskolnikow
Die Tasche lastet schwer auf ihrer Schulter. Sie hätte einen Rucksack nehmen sollen. Aber sie hatte gedacht, dass sie nach der Schule vielleicht noch in die Bücherei gehen würde. Sie kann sich nicht immer erinnern, was sie eigentlich vorgehabt hat. Sie ist gleichsam gespalten, als wäre sie mehrere Menschen auf einmal.
Im Treppenhaus riecht es nach Frikadellen, deshalb läuft sie rasch auf ihr Zimmer. Es bringt nichts, den Hunger zu wecken, da sie an diesem Tag nur belegte Brote hat. Jetzt bereut sie, keine Fischfrikadelle gekauft zu haben.
Sie legt die ausgeliehenen Bücher auf den Schreibtisch. Zwei davon gehören zusammen und sind von einem Russen geschrieben worden. F. M. Dostojewski. Sie hat von ihm gehört, aber noch nichts von ihm gelesen. Der Rektor hat im Unterricht über diesen Schriftsteller gesprochen und das Wort »Weltliteratur« benutzt.
Die Bücher, »Schuld und Sühne« Band 1 und 2, sind uralt, ohne festen Einband und scheinen nicht viel gelesen worden zu sein. Immerhin sind die Seiten aufgeschnitten. Sie sind vergilbt und kleben zusammen, sie muss die Blätter mit aller Vorsicht voneinander lösen. Die Titelseiten hat eine Person namens V. Setoft gezeichnet. Es könnte schön sein, Zeichnen und Malen als Beruf zu haben, denkt sie. Aber davon kann man sicher nicht leben. Das sind nur kindische Träumereien.
Der erste Band zeigt einen jungen Mann mit grüngelbem Gesicht und düsterer Miene zusammen mit einem fetten Kerl mit roter Visage. Und einer Axt. Der zweite Band zeigt den jungen Mann, noch immer düster sitzt er auf einem Bett. Vor ihm steht eine Frau mit dunklen Haaren und rotem Tuch. Der Mann heißt offenbar Raskolnikow.
Sie setzt sich mit geradem Rücken an den Schreibtisch und fängt an zu lesen. Das Buch ist auf Dänisch, sieht sie. Soll sie es zurückbringen? Warum hat eine norwegische Bücherei Bücher auf Dänisch? Ihr Blick gleitet über die erste Seite und sie merkt, dass kein Wort dort für sie unverständlich ist. Nur ungewohnt.
So fängt es an:
An einem der ersten Tage des Juli – es herrschte eine gewaltige Hitze – verließ gegen Abend ein junger Mann seine Wohnung, ein möbliertes Kämmerchen in der S…gasse, und trat auf die Straße hinaus; langsam, wie unentschlossen, schlug er die Richtung nach der K…brücke ein.
Irgendwann spürt sie, dass sie vergessen hat, Wollsocken anzuziehen. Aber sie tut es auch nicht mehr. Viel später an diesem Abend kommt sie zu sich und ihr geht auf, dass sie nichts für die Schule getan hat.
Sie stehen zwischen zwei hohen Bretterzäunen. Der elende Raskolnikow und sie. Die Schneewehen reichen bis zum weißen Himmel. Sie beugt sich vor und sagt zu ihm:
Du hast das einfach getan? Sie umgebracht?
Er drückt wortlos ihre Hand.
Du hast es getan, um zu beweisen, dass du stärker bist als alle anderen? Dass du entscheidest? Wenn Gott nichts unternimmt, dann eben du?
Er drückt abermals ihre Hand.
Und jetzt?, will sie wissen.
Seine Hand wird schlaff und ein plötzlicher Schneewind macht das Atmen schwer.
Das hätt ich auch tun sollen. Den hätt ich umbringen sollen!, sagt sie.
Aber Raskolnikow schüttelt den Kopf, sein Gesicht ist bleich und nackt und seine Augen sind geschlossen. Sein Schädel sieht aus wie ein Ei. Mit weißer, zerbrechlicher Schale.
Dann sagt er den Namen. Sonja. Darin liegt solche Wärme.
Du wärst vor die Hunde gegangen, wenn du die Sonja nich gehabt hättst, sagt sie fragend.
Er nickt und sie sieht, dass er am liebsten alles ungeschehen machen würde. Dass er sich zu viel aufgeladen hat.
Aber du hast es gewagt, meint sie. Du hast es getan! Danach muss man eben so eine haben wie die Sonja, damit man nich vor die Hunde geht, oder was?, fragt sie.
Er nickt mit seinem zerbrechlichen Kopf.
Ich will, dass du mein Bruder bist, Raskolnikow, sagt sie ganz offen und spürt den Druck seiner knochigen Hand.
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