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Der Grundgegensatz der chinesischen, wie aller orientalischen, Städtebildung gegen den Okzident war aber das Fehlen des politischen Sondercharakters der Stadt. Sie war keine Polis im antiken Sinne und kannte kein Stadtrecht wie das Mittelalter. Denn sie war keine Gemeinde mit eigenen politischen Sonderrechten. Es hat kein Bürgertum im Sinne eines sich selbst equipierenden stadtsässigen Militärstandes gegeben, wie in der okzidentalen Antike. Und es sind nie militärische Eidgenossenschaften wie die Compagna Communis in Genua oder andere conjurationes, mit feudalen Stadtherren um Autonomie bald kämpfende, bald wieder paktierende, auf die eigene autonome Wehrkraft des Stadtbezirkes gestützte Mächte: Konsuln, Räte, politische Gilden- und Zunftverbände nach Art der Mercadanza entstanden.35 Revolten der Stadtinsassen gegen die Beamten, welche diese zur Flucht in die Zitadelle zwangen, sind zwar jederzeit an der Tagesordnung gewesen. Immer aber mit dem Ziel der Beseitigung eines konkreten Beamten oder einer konkreten Anordnung, vor allem einer neuen Steuerauflage, nie zur Erringung einer auch nur relativen, fest verbrieften, politischen Stadtfreiheit. Eine solche war in der okzidentalen Form schon deshalb schwer möglich, weil niemals die Bande der Sippe abgestreift wurden. Der zugewanderte Stadtinsasse (vor allem: der begüterte) behielt seine Beziehung zum Stammsitz mit dem Ahnenlande und mit dem Ahnenheiligtum seiner Sippe, also: alle rituell und persönlich wichtigen Beziehungen, in dem Dorf, von wo er stammte. Ähnlich etwa wie der Angehörige des russischen Bauernstandes, auch wenn er als Fabrikarbeiter, Geselle, Händler, Fabrikant, Literat in der Stadt die Stätte seiner dauernden Tätigkeit gefunden hatte, innerhalb seines Mir draußen sein Indigenat (mit den in Rußland daran hängenden Rechten und Pflichten) behielt. Der Ζευς ερκειος des attischen Bürgers und seit Kleisthenes sein Demos oder das Hantgemal des Sachsen waren im Okzident Rudimente ähnlicher Zustände.36 Aber dort war die Stadt eine Gemeinde, in der Antike zugleich Kultverband, im Mittelalter Schwurbruderschaft. Davon finden sich in China nur Vorstadien, aber keine Verwirklichung. Der chinesische Stadtgott war nur örtlicher Schutzgeist, nicht aber: ein Verbandsgott, in aller Regel vielmehr: ein kanonisierter Stadtmandarin.37
Es fehlte – daran liegt dies – völlig der politische Schwurverband von wehrhaften Stadtinsassen. Es gab in China bis in die Gegenwart Gilden, Hansen, Zünfte, in einigen Fällen auch eine Stadtgilde, äußerlich ähnlich der englischen Gilda mercatoria. Wir werden sehen, daß die kaiserlichen Beamten mit den verschiedenen Verbänden der Stadtinsassen sehr stark zu rechnen hatten, daß, praktisch angesehen, diese Verbände in überaus weitgehendem Maß, weit intensiver als die kaiserliche Verwaltung, und in vieler Hinsicht auch weit fester als die durchschnittlichen Verbände des Okzidents, die Regulierung des ökonomischen Lebens der Stadt in der Hand hielten. In mancher Hinsicht erinnerte der Zustand chinesischer Städte scheinbar an den der englischen teils in der Zeit der firma burgi teils der Tudorzeit. Nur schon rein äußerlich mit dem nicht gleichgültigen Unterschied: daß auch damals zu einer englischen Stadt stets die Charter gehörte, welche die Freiheiten verbriefte. Dergleichen aber existierte in China nicht.38 Im schroffsten Gegensatz zum Okzident, aber in Übereinstimmung mit den indischen Verhältnissen, hatten vielmehr die Städte, als kaiserliche Festungen, im Effekt wesentlich weniger rechtlich garantierte Selbstverwaltung39 als die Dörfer: die Stadt bestand formell aus Dorfbezirken unter je einem besonderen tipao (Ältesten) und gehörte oft mehreren unteren (hsien), in manchen Fällen sogar mehreren oberen (fu) Verwaltungsbezirken mit gänzlich gesonderter staatlicher Verwaltung an40 – sehr zum Vorteil von Spitzbuben. Es fehlte den Städten schon rein formell die Möglichkeit, Verträge – privatrechtlicher oder politischer Art – zu schließen, Prozesse zu führen, überhaupt korporativ aufzutreten, wie sie die Dörfer – wir werden sehen durch welches Mittel – besaßen. Die auch in Indien (wie in der ganzen Welt) gelegentlich vorkommende faktische Beherrschung einer Stadt durch eine machtvolle Kaufgilde bedeutete dafür keinen Ersatz.
Der Grund liegt in der verschiedenen Herkunft der Städte hier und dort. Die Polis der Antike war – wie stark grundherrlich sie auch unterbaut sein mochte – zuerst als Seehandelsstadt entstanden; China aber war vorwiegend ein Binnengebiet. Soweit auch, rein nautisch betrachtet, der tatsächliche Aktionsradius der chinesischen Dschunken gelegentlich und so entwickelt die nautische Technik (Bussole und Kompaß41 war, so geringfügig war doch die relative Bedeutung des Seehandels, verglichen mit dem zugehörenden Binnenkörper. Und überdies hatte China seit Jahrhunderten auf eigene Seemacht – die unentbehrliche Grundlage des Aktivhandels – verzichtet und schließlich, im Interesse der Erhaltung der Tradition, die Beziehungen zum Ausland bekanntlich auf einen einzigen Hafen (Kanton) und eine kleine Zahl (13) konzessionierter Firmen beschränkt. Dieses Ende war nicht zufällig. Schon der Kaiserkanal wurde, wie jede Karte und auch die erhaltenen Berichte ergeben, geradezu nur gebaut, um den durch Piraterie und vor allem durch die Taifune unsichern Seeweg für die Reissendungen von Süd nach Nord zu vermeiden: amtliche Berichte führten noch in der Neuzeit aus, daß der Seeweg für den Fiskus solche Verluste mit sich bringe, daß die gewaltigen Kosten des Umbaus des Kanals sich rentieren würden. Die spezifische okzidentale Binnenstadt des Mittelalters andererseits war zwar, wie die chinesische und vorderasiatische, regelmäßig eine Gründung von Fürsten und Feudalherren zur Gewinnung von Geldrenten und Steuern. Aber zugleich wurde die europäische Stadt sehr früh ein hoch privilegierter Verband mit festen Rechten, die planvoll erweitert wurden und erweitert werden konnten, weil der feudale Stadtherr damals die technischen Mittel zur Stadtverwaltung nicht besaß und: die Stadt ein Militärverband war, der einem Ritterheer die Tore erfolgreich schließen konnte. Die großen vorderasiatischen Städte, etwa Babylon, wurden demgegenüber früh von der Gnade der bureaukratischen königlichen Kanalbauverwaltung in ihrer ganzen Existenz abhängig. Trotz der sehr geringen Intensität der chinesischen Zentralverwaltung galt dies auch von der chinesischen Stadt. Auch ihr Gedeihen hing sehr stark nicht von dem ökonomischen und politischen Wagemut ihrer eigenen Bürger, sondern von dem Funktionieren der kaiserlichen Verwaltung, vor allem: der Stromverwaltung, ab.42 Unsere okzidentale Bureaukratie ist jung und teilweise geschult erst an den Erfahrungen der autonomen Stadtstaaten. Das chinesische kaiserliche Beamtentum war sehr alt. Die Stadt war hier – vorwiegend – ein rationales Produkt der Verwaltung, wie schon ihre Form zu zeigen pflegte. Zuerst war die Pallisade oder Mauer da, dann wurde die oft im Verhältnis zum ummauerten Areal unzulängliche Bevölkerung, eventuell zwangsweise,43 herangeholt, und mit der Dynastie wechselte, wie in Ägypten, entweder auch die Hauptstadt selbst oder doch ihr Name. Die schließliche Dauerresidenz Peking war bis in die Neuzeit nur in äußerst geringem Maße ein Handels- und Exportindustrieplatz.
Die – wie wir sehen werden – außerordentlich geringe Intensität der kaiserlichen Verwaltung brachte es zwar, wie schon angedeutet, mit sich, daß tatsächlich die Chinesen in Stadt und Land sich selbst verwalteten. Wie die Sippen – deren Rolle öfter zu erörtern sein wird – auf dem Lande, so waren neben ihnen, und für denjenigen, der keiner oder doch keiner alten und starken Sippe angehörte: statt ihrer, in der Stadt die Berufsverbände souveräne Herren über die ganze Existenz ihrer Mitglieder. Nirgends (außer – in anderer Art – in den indischen Kasten) war die unbedingte Abhängigkeit des einzelnen von der Gilde und Zunft (beide wurden terminologisch nicht geschieden) so entwickelt wie in China.44 Mit Ausnahme der wenigen Monopolgilden seit jeher ohne jegliche offizielle Anerkennung durch die staatliche Regierung, hatten sie tatsächlich oft die absolute Jurisdiktion über ihre Mitglieder sich zugeeignet.45 Ihrer Kontrolle unterlag alles, was ökonomisch für ihre Angehörigen von Bedeutung war: Maß und Gewicht, Währung (Stempelung der Silberbarren),46 Straßenerhaltung,47 Kontrolle der Kreditgebarung der Mitglieder und: Konditionenkartell, würden wir sagen:48 Feststellung der Lieferungs-,49 Lager- und Zahlungsfristen, der Versicherungssätze und der Zinsraten,50 Unterdrückung fiktiver oder sonst illegaler Geschäfte, Sorge für die ordnungsmäßige Abfindung der Gläubiger bei Geschäftsübertragung,51 Regelung der Geldsortenkurse,52 Bevorschussung von lange lagernden Waren,53 für die Handwerker vor allem: Regulierung und Beschränkung der Lehrlingszahl54 und eventuell Wahrung des Produktionsgeheimnisses.55 Einzelne Gilden verfügten über ein Millionenvermögen, angelegt oft in gemeinsamem Grundbesitz, erhoben Steuern von ihren Mitgliedern, Eintrittsgelder und Kautionen (für Wohlverhalten) von Neueintretenden, richteten Schauspiele aus und sorgten für das Begräbnis verarmter Genossen.56
Zu der Masse der Berufsverbände stand der Zutritt jedem, der das betreffende Gewerbe betrieb, offen (und war, normalerweise, für ihn pflichtmäßig). Aber es fanden sich nicht nur zahlreiche Reste alter, als tatsächlich erbliches Monopol oder geradezu erbliche Geheimkunst betriebener Sippen- und Stammesgewerbe,57 sondern daneben auch Gildemonopole, welche durch die fiskalische oder fremdenfeindliche Politik der Staatsgewalt geschaffen wurden.58 Und die leiturgische Bedarfsdeckung, zu welcher die chinesische Verwaltung im Mittelalter immer wieder periodisch überzugehen suchte, läßt es möglich erscheinen, daß der Übergang vom interethnisch arbeitsteiligen Sippen- und Stammesgewerbe mit Wanderbetrieb zum ortssässigen frei zur Lehre zugänglichen Handwerk für manche Gewerbe durch Zwischenstufen zwangsmäßig von oben für Staatslieferungen organisierter und an den Beruf gebundener Gewerbeverbände hindurch sich vollzogen hat. Dies bedingte, daß in einem sehr breiten Teil des Gewerbes Sippen- und Stammesgewerbecharakter erhalten blieb. Unter den Han waren mannigfache gewerbliche Hantierungen noch strikte Familiengeheimnisse, und die Kunst der Herstellung von Fuchou-Lack z.B. starb in der Taiping-Rebellion völlig aus, weil die Sippe, die das Geheimnis hütete, ausgerottet war. Es fehlte im allgemeinen die städtische Monopolisierung des Gewerbes. Zwar die von uns als Stadtwirtschaft bezeichnete Art der lokalen Arbeitsteilung zwischen Stadt und Land hatte sich entwickelt – wie sie es überall tat – und auch einzelne stadtwirtschaftspolitische Maßregeln finden sich. Aber jene Art systematischer Stadtpolitik, welche die zur Herrschaft gelangten Zünfte im Mittelalter – die ja die Stadtwirtschaftspolitik erst wirklich durchzuführen suchten – getrieben haben, ist trotz mancher Ansätze nie zur Vollendung gediehen. Insbesondere hat die öffentliche Gewalt zwar gelegentlich immer wieder zu leiturgischer Bindung gegriffen, nicht aber ein System von Zunftprivilegien geschaffen, wie es das hohe Mittelalter kannte. Gerade das Fehlen dieser rechtlichen Garantien verwies ja die Berufsverbände in China auf den Weg rücksichtsloser Selbsthilfe in einem Maß, wie sie im Okzident unbekannt blieb. Sie bedingte es auch, daß feste, öffentlich anerkannte, formale und verläßliche Rechtsgrundlagen einer freien, genossenschaftlich regulierten Handels- und Gewerbeverfassung, wie sie der Okzident kannte und wie sie der Entwicklung des Kleinkapitalismus im abendländischen mittelalterlichen Gewerbe zugute kamen, in China fehlten. Daß sie fehlten, hatte seinen Grund in dem Fehlen einer eigenen politisch-militärischen Macht der Städte und Gilden, und diese Tatsache wiederum findet ihre Erklärung in der frühen Entwicklung der Beamten- (und: Offiziers-) Organisation in Heer und Verwaltung.
Fürstenverwaltung und Gotteskonzeption
im Vergleich mit Vorderasien.
Für die Entstehung der seit aller sicheren geschichtlichen Erinnerung bestehenden Zentralgewalt und ihres Patrimonialbeamtentums ist in China, wie in Ägypten, die Notwendigkeit der Stromregulierung als Voraussetzung aller rationalen Wirtschaft entscheidend gewesen, wie sehr deutlich z.B. eine Bestimmung in einem bei Mencius erwähnten, ins 7. Jahrhundert vor Chr. verlegten, angeblichen Kartell der Feudalfürsten beweist.59 Im Gegensatz zu Ägypten und Mesopotamien stand allerdings, wenigstens im nördlichen China, der politischen Keimzelle des Reiches, der Überschwemmungsschutz durch Deiche und der Kanalbau zu Binnenschiffahrtszwecken (vor allem: Fouragetransportzwecken) voran, nicht in gleichem Maß der Kanalbau zum Zweck der Bewässerung, an dem in Mesopotamien die Anbaufähigkeit des Wüstengebietes überhaupt hing. Die Stromregulierungsbeamten und die schon in sehr alten Dokumenten – damals als eine Klasse hinter den Nährständen und vor den Eunuchen und Lastträgern – erwähnte Polizei bildeten den Keim der präliterarischen, reinen Patrimonialbureaukratie –.
Es fragt sich, inwieweit diese Verhältnisse Konsequenzen nicht nur – wie fraglos ist – politischer, sondern auch religiöser Natur gehabt haben. Der Gott Vorderasiens war nach dem Modell des irdischen Königs geformt. Für den mesopotamischen und ägyptischen Untertan, der den Regen kaum kannte, hing alles Wohl und Wehe, vor allem die Ernte, an dem Tun des Königs und seiner Verwaltung. Der König schuf direkt die Ernte. Das war auch in einigen Teilen des südlichen China, wo die Wasserregulierung alles andere an Wichtigkeit überragte, wenigstens entfernt ähnlich, wenn auch nicht annähernd gleich zwingend. Der direkte Übergang von dem Hackbau zur Gartenkultur war allerdings dadurch bedingt. Im nördlichen China stand dagegen, trotz der auch hier erheblichen Entwicklung der Bewässerung, die Frage der Naturereignisse, des Regens zumal, für die Ernte weit stärker im Vordergrund. In Vorderasien nun begünstigte die alte zentralisierte bureaukratische Verwaltung unzweifelhaft die Möglichkeit der Vorstellung des höchsten Gottes als eines Himmelskönigs, der Welt und Menschen aus dem Nichts geschaffen hat und nun als überweltlicher ethischer Herrscher von der Kreatur die Leistung ihrer Pflicht und Schuldigkeit verlangt: – eine Gottesidee, die tatsächlich nur hier in dieser Stärke die Oberhand behalten hat. Sogleich ist jedoch hinzuzufügen: daß sie die Oberhand behielt, ist aus jenen Ökonomischen Bedingungen allein nicht ableitbar. Auch in Vorderasien selbst ist der himmlische König ja gerade dort zur höchsten, schließlich – allerdings erst bei Deuterojesaja im Exil – zu einer schlechthin überweltlichen Machtstellung emporgestiegen, wo er, in Palästina im Gegensatz zu den Wüstengebieten, nach seiner Gnade Regen und Sonnenschein als Quelle der Fruchtbarkeit sandte.60 Es spielten also offenbar andere Momente bei dem Gegensatz der Gotteskonzeptionen mit. Diese lagen zum erheblichen Teil nicht auf wirtschafts- sondern auf außenpolitischem Gebiet. Wir müssen da etwas weiter ausholen.
Der Gegensatz der vorder- und der ostasiatischen Gottesvorstellungen war keineswegs von jeher in starker Schroffheit vorhanden. Das chinesische Altertum kannte einerseits für jeden Lokalverband einen aus dem Geist des fruchtbaren Erdbodens (schê) und dem Erntegeist (tsi) zusammengeschmolzenen, bereits als ethisch strafende Gottheit entwickelten bäuerlichen Doppelgott (sche-tsi) und andererseits die Tempel der Ahnengeister (tsong-miao) als Gegenstand des Sippenkults. Diese Geister zusammen (sche-tsi-tsong-miao) bildeten den Hauptgegenstand der ländlichen Lokalkulte, den zunächst wohl noch naturalistisch, als eine halbmaterielle magische Kraft oder Substanz vorgestellten Heimatsschutzgeist, dessen Stellung etwa jener des (schon früh wesentlich personaler vorgestellten) westasiatischen Lokalgottes entsprach. Mit steigender Fürstenmacht wurde der Geist des Ackerlandes zum Geist des Fürstengebietes. Mit Entwicklung des vornehmen Heldentums entstand offenbar auch in China, wie meist, ein persönlicher Himmelsgott, etwa dem hellenischen Zeus entsprechend, vom Gründer der Tschou-Dynastie zusammen mit dem Lokalgeist in dualistischer Verbindung verehrt. Mit der Entstehung der kaiserlichen Macht, zunächst als oberlehensherrlicher Gewalt über den Fürsten, wurde das Opfer für den Himmel, als dessen Sohn der Kaiser galt, dessen Monopol; die Fürsten opferten den Geistern des Landes und der Ahnen, die Hausväter den Ahnengeistern des Geschlechts. Der, wie überall, so auch hier, animistisch-naturalistisch schillernde Charakter der Geister, vor allem des Himmelsgeistes (Schang-ti), der sowohl als der Himmel selbst wie als Himmelskönig vorgestellt werden konnte, wendete sich nun aber in China, gerade bei den mächtigsten und universellsten von ihnen, immer mehr ins Unpersönliche,61 genau umgekehrt wie in Vorderasien, wo über die animistisch-halbpersönlichen Geister und die Lokalgottheit sich der persönliche überweltliche Schöpfer und königliche Regent der Welt heraushob. Die Gottesvorstellung der chinesischen Philosophen blieb lange höchst widerspruchsvoll. Für Wang Tschung noch war Gott zwar nicht anthropomorph zu fassen, aber er hatte doch einen Leib, eine Art Fluidum scheint es. Andererseits begründete der gleiche Philosoph seine Leugnung der Unsterblichkeit auch wieder mit der völligen Formlosigkeit Gottes, zu welcher der Menschengeist – ähnlich der israelitischen ruach – nach dem Tode zurückkehre: eine Auffassung, die auch in Inschriften Ausdruck gefunden hat. Immer stärker wurde aber die Nicht-Persönlichkeit gerade der höchsten überirdischen Mächte betont. In der konfuzianischen Philosophie verschwand die Vorstellung eines persönlichen Gottes, die noch im 11. Jahrhundert Vertreter fand, seit dem 12. Jahrhundert, unter dem Einfluß des noch von Kaiser Kang Hi (Verfasser des Heiligen Ediktes) als Autorität behandelten Materialisten Tsche Fu Tse. Daß sich diese Entwicklung zur Unpersönlichkeit62 nicht ohne dauernde Rückstände der Personalkonzeption vollzog, ist später zu erörtern. Gerade im offiziellen Kult aber gewann sie die Oberhand. – Auch im semitischen Orient war zunächst das fruchtbare Land, das Land mit natürlichem Wasser, Land des Baal und zugleich dessen Sitz, und auch hier wurde der bäuerliche Baal des Landes im Sinne des ertragbringenden Bodens zum Lokalgott des ortsgebundenen politischen Verbandes: des Heimatlandes. Aber dies Land galt nun dort als Eigentum des Gottes, und ein Himmel, der, nach chinesischer Art, unpersönlich und doch beseelt, als Konkurrent eines Himmelsherrn hätte auftreten können, wurde nicht konzipiert. Der israelitische Jahwe war zuerst ein bergsässiger Sturm- und Naturkatastrophengott, der in Gewitter und Wolken den Helden zu Hilfe in den Krieg heranzog, der Bundesgott der kriegerisch erobernden Eidgenossenschaft, deren Verband durch Vertrag mit ihm, vermittelt durch seine Priester, unter seinen Schutz gestellt worden war. Dauernd blieb daher die auswärtige Politik seine Domäne, deren Interessenten auch alle größten unter seinen Propheten: diese politischen Publizisten in den Zeiten der ungeheuren Angst vor den mächtigen mesopotamischen Raubstaaten, waren. Durch diesen Umstand gewann er seine endgültige Formung: die auswärtige Politik war seine Tatenbühne mit Krieg und Völkerschicksal in ihren Peripetien. Deshalb war und blieb er zunächst und vor allem der Gott des Außerordentlichen: des Kriegsschicksals, seines Volkes. Da aber dies Volk nicht selbst ein Weltreich schaffen konnte, sondern ein kleiner Staat inmitten der Weltmächte blieb und schließlich ihnen erlag, so konnte er ein Weltgott nur als überweltlicher Schicksalslenker werden, vor dessen Augen auch das eigene auserwählte Volk nur kreatürliche Bedeutung hatte, je nach seinem Verhalten bald gesegnet und bald verworfen wurde.
Demgegenüber wurde das chinesische Reich in historischer Zeit trotz aller Kriegszüge doch immer mehr ein befriedetes Weltreich. Zwar der Anfang der chinesischen Kulturentwicklung stand unter rein militaristischen Zeichen. Der schih, später der Beamte, ist ursprünglich der Held. Die spätere Studienhalle (Pi yung kung), in welcher, dem Ritual nach, der Kaiser persönlich die Klassiker auslegte, scheint ursprünglich ein Männerhaus (ανδρειον) in dem über fast die ganze Welt bei allen spezifischen Kriegs- und Jagdvölkern verbreiteten Sinn gewesen zu sein, das heißt: der Aufenthaltsort der Bruderschaft der durch die noch heute erhaltene Bekappungs-Zeremonie, zweifellos nach vorausgegangener Erprobung, wehrhaft gemachten Jungmannschaft in der Altersstufe ihrer familienfremden Kasernierung. In welchem Maß das typische Altersklassensystem dabei entwickelt war, bleibt fraglich. Daß die Frau ursprünglich die Ackerbestellung allein in der Hand hatte, scheint sich etymologisch wahrscheinlich machen zu lassen: jedenfalls aber nahm sie an den außerhäuslichen Kulten nie teil. Das Männerhaus war offenbar das Haus des (charismatischen) Kriegshäuptlings: hier vollzogen sich diplomatische Aktionen, wie die Unterwerfung von Feinden, hier wurden die Kriegswaffen verwahrt, hierher die Trophäen (abgeschnittene Ohren) gebracht, im Verband der Jungmannschaft das rhythmische – das heißt: disziplinierte – Bogenschießen geübt, nach dessen Ergebnissen der Fürst sich seine Gefolgen und Amtsträger auswählte (daher die zeremoniale Bedeutung des Bogenschießens bis in die jüngste Zeit). Es ist möglich – wenn auch nicht sicher –, daß auch die Ahnengeister dort Rat spendeten. Trifft dies alles zu, dann würden dem die Nachrichten über die ursprüngliche Mutterfolge entsprechen: Mutterrecht scheint primär überall, soviel heut ersichtlich, die Konsequenz der militaristischen Familienfremdheit des Vaters gewesen zu sein.63 In geschichtlicher Zeit lag das weit zurück. Der individuelle Heldenkampf, auch in China, wie anscheinend über die ganze Erde hin (bis Irland), durch die Verwertung des Pferdes, zunächst als Zugtier des Kriegswagens, auf die Höhe gebracht, ließ die infanteristisch orientierten Männerhäuser zerfallen: der hochtrainierte und kostspielig bewaffnete Einzelheld trat in den Vordergrund. Auch dies homerische Zeitalter Chinas lag aber weit zurück und es scheint, daß hier so wenig wie in Ägypten oder Mesopotamien die ritterliche Kriegstechnik je zu einer so individualistischen Sozialverfassung geführt hat, wie im homerischen Hellas und im Mittelalter. Die Abhängigkeit von der Stromregulierung und damit von der fürstlichen bureaukratischen Eigenregie ist vermutlich das entscheidende Gegengewicht gewesen. Die Stellung von Kriegswagen und Gepanzerten wurde den einzelnen Bezirken auferlegt, ähnlich wie in Indien. Kein persönlicher Kontrakt also, wie beim okzidentalen Lehensverband, sondern die katastermäßig reglementierte Gestellungspflicht war die Grundlage auch des Ritterheeres. Doch immerhin war der vornehme Mann Kiün tse, (gentleman), des Konfuzius ursprünglich der waffengeübte Ritter. Aber die Wucht der statischen Tatsachen des Wirtschaftslebens ließ die Kriegsgötter nie zu einem Olymp aufsteigen: der chinesische Kaiser vollzog den Ritus des Pflügens, er war ein Schutzpatron des Ackerbauers geworden und also längst nicht mehr ein Ritterfürst. Zwar die rein chthonischen Mythologeme64 haben keine beherrschende Bedeutung erlangt. Aber seit der Herrschaft der Literaten war die zunehmend pazifistische Wendung der Ideologien naturgegeben, – und: umgekehrt, wie wir sehen werden.
Der Himmelsgeist wurde nun – zumal nach der Vernichtung des Feudalismus – im Volksglauben ganz wie die ägyptischen Gottheiten aufgefaßt nach Art einer idealen Beschwerdeinstanz gegen die irdischen Amtsträger, vom Kaiser angefangen bis zum letzten Beamten. Wie in Ägypten (und in nicht ganz so ausgeprägter Art auch in Mesopotamien) aus dieser bureaukratischen Vorstellung heraus der Fluch des Bedrückten und Armen besonders gefürchtet war: – wir werden sehen, wie das auf die benachbarte israelitische Ethik zurückwirkte –, so auch in China. Diese Vorstellung und nur sie stand, als eine Art superstitiöser Magna Charta, und zwar als eine schwer gefürchtete Waffe, den Untertanen gegen die Beamten und ebenso gegen alle Privilegierten, auch die Besitzenden, zur Seite: ein ganz spezifisches Merkmal bureaukratischer und zugleich pazifistischer Gesinnung.