TODESJAGD

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Während Anja noch mit Sarah Neuner sprach, klopfte es an der Tür. Lukas Brandstetter, ein zehn Jahre älterer Kollege, der im Nebenzimmer arbeitete, kam herein. Er hatte eine Vermisstenakte bei sich, sodass Anja sofort wusste, aus welchem Grund er gekommen war.
»Ich muss Schluss machen«, sagte Anja. Sie bedeutete Brandstetter, Platz zu nehmen. »Ich komme nachher vorbei und hol mir die Akte, Sarah. Danke für den Anruf.«
Sie legte auf und sah Brandstetter, einen etwas korpulenten Mann mit kurzen vorzeitig ergrauten Haaren und einem Schnauzbart, erwartungsvoll an. »Lass mich raten. Du hast eine der Personen in der Ruhmeshalle des Selbstmordclubs erkannt.«
Er nickte lächelnd. »Da bin ich wohl offenbar nicht der Einzige.« Mit hochgezogenen Augenbrauen deutete er auf das Telefon.
»Ja.« Anja erzählte ihm von den anderen Fällen und zeigte ihm auf dem Monitor die entsprechenden Zeitungsfotos. »Und was hast du für mich?«
Er legte die Akte vor ihr auf den Schreibtisch, sodass sie den Namen darauf lesen konnte, und sagte: »Markus Lehner, 57 Jahre alt, war bis zu seiner Frühpensionierung Finanzbeamter. Vor drei Jahren ist er an Knochenkrebs erkrankt. Keine Aussicht auf Heilung. Seine Lebenserwartung beträgt nach Aussage seines Arztes voraussichtlich nur noch wenige Monate. Die Wohnungsnachbarin erzählte mir, dass er in letzter Zeit oft von Selbstmord gesprochen habe. Im Nachhinein meinte sie, dass es in letzter Zeit durchaus so klang, als habe er sogar schon konkrete Pläne gehabt. Sie hat aber nicht ernsthaft damit gerechnet, dass er auch den Mumm hätte, es zu tun. Nachdem sie ihn ein paar Tage lang nicht gesehen hatte, begann sie sich Sorgen um ihn zu machen und rief die Polizei. In der Wohnung fand man jedoch keine Spur von ihm. Da er als suizidgefährdet gilt, wurde Vermisstenanzeige erstattet, und der Fall landete bei uns.«
Während Brandstetter sie über die wichtigsten Details in Kenntnis gesetzt hatte, hatte Anja die Akte aufgeschlagen und sich die Fotos des vermissten Mannes angesehen. Dann hatte sie in der Ruhmeshalle des Selbstmordclubs nach seinem Konterfei gesucht und es auch rasch gefunden. Es handelte sich ebenfalls um das körnige Schwarzweißfoto aus einer Tageszeitung, das vermutlich zu einer öffentlichen Fahndung nach dem Vermissten gehört hatte.
»Seit wann ist er verschwunden?«
»Er wurde vor acht Tagen zum letzten Mal gesehen.«
»Angehörige?«
»Einen Bruder, der in Norddeutschland lebt. Die beiden hatten in den letzten Jahren aber keinen Kontakt mehr. Seine Frau ist vor fünf Jahren gestorben, und der einzige Sohn kam vor fast dreißig Jahren bei einem Badeunfall ums Leben.«
»Tragisch!«
Brandstetter nickte. »Wie bist du überhaupt auf diesen ominösen Selbstmordclub gestoßen?«
Sie erzählte es ihm.
»Du solltest zum Chef gehen«, sagte Brandstetter anschließend. Der Chef war Polizeirat Alexander Zumbruch, der Leiter der Vermisstenstelle und damit ihr unmittelbarer Dienstvorgesetzter. »Da die Fotos der Vermissten auf dieser Seite auftauchen und diese Leute eindeutig alle suizidgefährdet waren, besteht meiner Meinung nach ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen den Fällen. Da ist es vermutlich vorteilhafter, wenn die Bearbeitung all dieser Fälle in einer Hand liegt.«
»Und wenn du von einer Hand redest, meinst du vermutlich meine Hand.« Anja winkte ab. »Ich habe mit meinen eigenen Fällen schon mehr als genug zu tun.«
»Wer hat das nicht?« Brandstetter grinste. »Und ehrlich gesagt hätte ich nichts dagegen, einen offenen Vermisstenfall auf diese Weise elegant loszuwerden. Aber darum geht es mir gar nicht.«
Anja nickte. »Du hast ja recht. Ich werde gleich zum Chef gehen und ihn bitten, die drei anderen Fälle an mich zu übertragen. Sobald ich das erledigt habe, hole ich mir die übrigen Akten von den Kollegen.«
»Dann viel Glück bei den Ermittlungen.« Brandstetter stand auf. »Ich hoffe, du bekommst den Kerl zu fassen, der hinter dieser Seite steckt. Sag Bescheid, wenn du dabei Hilfe benötigst.«
Sobald der Kollege ihr Büro verlassen hatte, machte sich Anja auf den Weg zu Polizeirat Zumbruch. Sie schilderte ihm mit knappen Worten die Vermisstenfälle. Anschließend zeigte sie ihm die Webseite des Clubs der toten Gesichter. Er stimmte mit ihr darin überein, dass es aufgrund der Fotos in der vermeintlichen Ruhmeshalle einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den Fällen gab. Aus diesem Grund übertrug er ihr die Verantwortung für die Ermittlungen. Sollte sie Hilfe benötigen, versprach er ihr Unterstützung durch einen der Kollegen.
Auf dem Weg zurück in ihr Büro holte sie die beiden restlichen Vermisstenakten bei Sarah Neuner und Josef Fuchsner ab.
4
Als sie wieder an ihrem Schreibtisch saß, überprüfte sie sogleich das Postfach des E-Mail-Accounts, den sie unter falschem Namen eingerichtet hatte.
»Wer sagt’s denn?«, murmelte sie. Neben einer Begrüßungsmail des Betreibers, die sie ungelesen löschte, hatte sie noch eine weitere Nachricht erhalten. Sie stammte von jemandem, der sich Nemesis nannte, wobei unklar blieb, ob sich dahinter eine Frau oder ein Mann verbarg. Anja erinnerte sich an den Abschiedsbrief des vermissten Studenten. Darin hatte er ebenfalls einen Todesengel namens Nemesis erwähnt.
Anja las die E-Mail.
Hallo, Laura,
Freut mich, dass du den Weg zu uns gefunden hast und bereit bist, dich der »Suicide-Challenge« zu stellen. Ich verspreche dir, du wirst es nicht bereuen.
Ich heiße Nemesis und bin dein Todesengel. Als Erstes werde ich dir die Regeln erklären. Anschließend begleite ich dich durch die gesamte Challenge, indem ich dir die Aufgaben stelle, die du zu bewältigen hast. Außerdem bin ich für die nächsten 24 Stunden dein Ansprechpartner und werde dir all deine Fragen beantworten, sofern ich dazu in der Lage bin.
Hier nun die Regeln, die strikt zu befolgen sind:
1. Die »Suicide-Challenge« besteht aus 24 Aufgaben, die innerhalb von ebenso vielen Stunden erfolgreich absolviert werden müssen.
2. Du darfst keiner Menschenseele etwas davon erzählen. Nicht einmal deiner besten Freundin oder deinen Eltern.
3. Du musst jede Aufgabe, die ich dir stellen werde, sorgfältig und wortgetreu erfüllen!
4. Sobald du eine Aufgabe erfolgreich absolviert und abgeschlossen hast, sendest du mir eine Nachricht mit einem Beweisfoto.
5. Nach jeder erfolgreich bestandenen Aufgabe erfolgt zur jeweils vollen Stunde die nächste, bis schließlich alle erfüllt wurden.
6. Am Ende der Challenge geht dein Todeswunsch in Erfüllung, und du wirst sterben! Damit hast du die Suicide-Challenge erfolgreich bewältigt. Dann wird auch dein Foto in die »Suicidal Hall of Fame« aufgenommen.
Du kannst mir dafür gern ein Foto von dir mailen. Wenn nicht, ist das auch nicht tragisch. Dann nehme ich einfach ein Foto aus der Zeitung. Beispielsweise, wenn du vermisst wirst und nach dir gesucht wird. Oder aus deiner Todesanzeige.
Das war’s auch schon für den Anfang.
Bist du bereit?
Anja verfasste sofort eine Antwort.
Hallo Nemesis,
herzlichen Dank für die freundlichen Worte und deine Hilfe. Tut mir echt leid, aber ich weiß noch gar nicht, ob ich überhaupt schon bereit bin zu sterben. Ich habe Angst! Was, wenn ich mittendrin aussteigen und die Challenge abbrechen will. Geht das?
Anja schickte die Nachricht ab. Während sie auf eine Antwort wartete, öffnete sie die Akte des vermissten Fernfahrers Stefan Greinwald, der an Lungenkrebs litt und als Erster verschwunden war.
Doch sie kam mit dem Aktenstudium nicht weit, denn als sie nach einer Minute zum ersten Mal aufblickte, hatte sie bereits eine Antwort von Nemesis bekommen.
Du kannst jetzt nicht mehr aufhören und die »Suicide-Challenge« abbrechen, denn die hat bereits mit deiner Anmeldung begonnen. Von nun an gibt es weder einen Ausstieg noch einen Weg zurück.
Anja lächelte grimmig. Genauso hatte sie sich das vorgestellt. Die Betreiber des Clubs der toten Gesichter bedienten sich haargenau derselben Mittel wie andere Selbstmordclubs oder -spiele auch. Offensichtlich kopierten sie nur das Vorgehen ihrer Vorgänger. Der einzige Unterschied bestand darin, dass sich andere derartige Seiten ausschließlich an Jugendliche richteten, die natürlich leichter zu beeinflussen waren, und nicht an Erwachsene. Doch die Ruhmeshalle des Clubs bewies, dass der Masche mit der Suicide-Challenge auch Erwachsene auf den Leim gingen. Vermutlich, weil sie extrem verzweifelt waren und sich den Tod wünschten.
Grundsätzlich war Anja der Ansicht, dass jeder Erwachsene das Recht hatte, über das eigene Leben und den eigenen Körper zu bestimmen. Aus diesem Grund konnte er sich gegebenenfalls selbst das Leben nehmen, wenn er sich für diesen Weg entschlossen hatte. Auch in ihrem Leben hatte es eine Phase gegeben, in der sie immer wieder mit dem Tod geliebäugelt hatte, den sie in Gestalt einer Packung Schlaftabletten im Spiegelschrank ihres Badezimmers aufbewahrt hatte. Doch im Laufe ihrer Ermittlungen im Fall des Apokalypse-Killers hatte sie diese latente Todessehnsucht erfolgreich überwunden.
Die Hintermänner des Clubs der toten Gesichter richteten sich aber nicht nur an Erwachsene. Auch Kinder und Jugendliche konnten auf die Webseite gelangen und sie lesen. Und sie konnten sich sogar problemlos anmelden, denn auch Anja hatte sich bei ihrer Anmeldung als fünfzehnjähriges Mädchen ausgegeben. Und dennoch hatte sich der Todesengel Nemesis bei ihr gemeldet, damit sie die Challenge durchführte. Sie war daher fest entschlossen, diesen Leuten das Handwerk zu legen. Doch dazu musste sie unbedingt herausfinden, wer hinter diesem Internetauftritt steckte und wer sich hinter ihrem Todesengel verbarg.
Sie schrieb eine kurze E-Mail an Nemesis.
Was, wenn ich trotzdem aussteigen will?
Die Antwort kam weniger als zwei Minuten später.
Ich habe dir doch schon mitgeteilt, dass du nicht aussteigen kannst. Dein Weg ist von nun an vorgezeichnet und führt ohne Umwege in den Tod. Das wolltest du doch! Deshalb hast du dich doch in unserem Club angemeldet! Glaub mir, jeder hat ein bisschen Muffensausen, wenn der Tod endlich greifbar nahe ist. Das ist völlig normal und sollte dich daher auch nicht beunruhigen.
Vertrau mir!
Vertraust du mir?
Anja antwortete:
Ich weiß nicht, ob ich dir vertrauen kann. Ich kenne dich doch gar nicht! Wer bist du eigentlich? Wenn ich wüsste, mit wem ich es zu tun habe, würde es mir vermutlich leichter fallen. Erzähl mir bitte etwas von dir.
Nemesis schrieb nahezu postwendend zurück.
Tut mir leid, aber ich darf dir nichts über mich erzählen, so gerne ich’s auch täte. Es verstößt gegen die Regeln, wenn ein Todesengel gegenüber einem Teilnehmer der Challenge seine wahre Identität oder Informationen über sich preisgibt.
Du musst mir einfach blind vertrauen! Schließlich wollen wir doch beide dasselbe: deinen Tod.
Also lass uns nicht länger zögern, sondern endlich anfangen. Die Zeit läuft!
Bist du jetzt bereit?
Anja schüttelte den Kopf.
»So einfach mache ich es dir nicht, Schätzchen!«, murmelte sie.
Wäre schön gewesen, wenn Nemesis ihr etwas über sich selbst verraten hätte. Allerdings hatte Anja nicht ernsthaft damit gerechnet.
Sie überlegte kurz und verfasste dann eine Antwort-Mail.
Ich weiß nicht, ob ich bereit bin. Als ich mich angemeldet habe, habe ich nicht erwartet, dass es sofort losgeht. Können wir es nicht noch etwas verschieben?
Nemesis’ Reaktion erfolgte innerhalb kürzester Zeit.
Anja hatte das Gefühl, dass ihr Todesengel allmählich wütend wurde. Aber genau das hatte sie beabsichtigt. Sie wollte ihn aus der Reserve locken. Womöglich machte er in seiner Wut einen Fehler und verriet mehr, als er ursprünglich wollte, sodass Anja endlich einen Anhaltspunkt für ihre Ermittlungen in die Hand bekam.
Ich habe dir doch schon mitgeteilt, dass es kein Zurück mehr gibt. Das hättest du dir überlegen sollen, bevor du dich angemeldet hast.
Zweifel und Ängste sind normal, aber die musst du jetzt überwinden und hinter dir lassen. Und genau dafür ist die Challenge da.
Du willst doch sterben, sonst hättest du nicht die Seite unseres Clubs besucht und dich angemeldet.
Und meine Aufgabe ist es, dir dabei zu helfen, dich umzubringen.
Mit der Anmeldung hast du in gewissem Sinne einen unkündbaren Vertrag mit uns abgeschlossen. Ziel dieses Vertrages ist dein Tod. Und der wird hundertprozentig spätestens in 23 Stunden und 34 Minuten eintreten, ob nun mit deiner Hilfe oder auch ohne dein Zutun.
Endlich ließ Nemesis die Katze aus dem Sack, denn das war eine eindeutige Todesdrohung.
Doch als Laura gab sich Anja weiterhin ahnungslos.
Was meinst du mit »auch ohne dein Zutun«? Was hat das zu bedeuten?
In ihrer nächsten Nachricht wurde Nemesis konkreter.
Stell dich bitte nicht dümmer, als du bist, Laura!
Wir wissen schließlich durch die Daten deiner Anmeldung, wo du wohnst. Also kannst du dich auch nicht vor uns verstecken. Wenn du nicht zur Challenge antrittst oder vor der finalen Aufgabe aussteigst, sind wir gezwungen, selbst die Initiative zu ergreifen.
Kann ja sein, dass du einen Bruder oder eine Schwester hast, die du liebst. Du möchtest doch nicht, dass ihm oder ihr etwas zustößt, oder? Auf dem Weg in die Schule oder den Kindergarten kann schließlich viel passieren.
Und was ist mit deinen Eltern?
Und wage es bloß nicht, jemandem etwas von uns zu erzählen. Vor allem deinen Eltern, Lehrern und der Polizei solltest du unter keinen Umständen etwas sagen. Wir werden auf jeden Fall davon erfahren. Dann wirst es nicht nur du bereuen, sondern alle, die dir etwas bedeuten, werden dafür büßen.
Aber jetzt haben wir lange genug geplaudert und kostbare Zeit vertrödelt. Lass uns endlich anfangen.
Hier ist deine erste Aufgabe. Sie ist nicht schlimm und sollte daher auch für dich kein Problem sein.
Schreibe dir mit einem wasserfesten Stift die Ziffern 4:20 auf den Unterarm.
Du hast noch eine halbe Stunde Zeit, um die Aufgabe zu bewältigen. Und vergiss nicht, mir ein Beweisfoto zu schicken.
Anja wusste, dass die Teilnehmer der Blue Whale Challenge oft aufgefordert worden waren, um 4:20 Uhr in der Nacht aufzustehen und irgendwelche haarsträubenden Dinge zu tun. Die Ziffern hatten die Betreiber der Suicide-Challenge also einfach von ihrem berühmt-berüchtigten Vorgänger übernommen. Doch Laura konnte das unter Umständen nicht wissen, deshalb gab sich Anja ahnungslos.
Was bedeuten die Ziffern 4:20?
Anja grinste, als sie die Mail abschickte.
Die Antwort erfolgte prompt.
Stell gefälligst nicht weiterhin überflüssige Fragen, sondern tu endlich, was ich dir mitgeteilt habe! Wir haben genug Zeit verschwendet. Außerdem habe ich auch noch andere Teilnehmer, um die ich mich kümmern muss. Das ist schließlich kein Debattier-, sondern ein Selbstmordclub.
Ich warte!
Den Hinweis auf andere Teilnehmer fand Anja interessant. Es musste ihr gelingen, an Nemesis heranzukommen und mehr über sie zu erfahren, um ihre wahre Identität herauszufinden. Denn je eher diesen Leuten das Handwerk gelegt wurde, desto besser. Doch momentan schien Nemesis nicht in der Stimmung zu sein, etwas über sich zu verraten. Deshalb beschloss Anja, ihr den Gefallen zu tun und die erste Aufgabe zu erfüllen. Unter Umständen ergab sich im weiteren Verlauf der Challenge eine Möglichkeit, mehr zu erfahren, wenn Nemesis der Meinung war, Lauras Widerstand wäre gebrochen und sie würde jetzt endlich alles tun, was sie sagte. Deshalb würde Anja erst einmal mitspielen und sich bemühen, die Aufgaben zur Zufriedenheit ihres Todesengels zu erfüllen. Vorausgesetzt, sie schadete damit weder anderen noch sich selbst.
Anja hatte allerdings nicht vor, die erste Challenge buchstabengetreu zu erfüllen. Es musste schließlich nur überzeugend genug wirken, um Nemesis zu täuschen und zufriedenzustellen.
Anstelle eines wasserfesten Stifts nahm sie daher einen Folienschreiber mit abwaschbarer schwarzer Tinte und schrieb 4:20 auf ihren linken Unterarm. Dann machte sie mit ihrem Smartphone ein Foto und schickte es an die Mail-Adresse ihres imaginären Lockvogels Laura. Anschließend hängte sie es an die Nachricht, die sie Nemesis schrieb.
Ich kann es nicht glauben, aber ich hab es tatsächlich getan! Anliegend das Beweisfoto, das du verlangt hast. Irgendwie fühle ich mich jetzt sogar ein bisschen besser. Befreit sozusagen. Ergibt das für dich irgendeinen Sinn?
Nemesis antwortete:
Natürlich ergibt das einen Sinn. Du wirst dich mit jeder Aufgabe, die du erfolgreich absolviert hast, und mit jeder Stufe, die dich deinem Ziel – dem Tod – näher bringt, besser und befreiter fühlen.
Ich habe das schon oft bei anderen erlebt, die ich in den Tod begleiten durfte. Wirf doch mal einen Blick in die »Suicidal Hall of Fame«. Den Leuten, die du dort siehst, erging es anfangs ähnlich wie dir. Dennoch haben sie es schließlich geschafft. Und schon bald wird dein Foto neben den anderen zu sehen sein.
Bravo! Die erste Aufgabe hast du geschafft. In 22 Minuten werde ich dir die nächste stellen. Mach dich bereit!
Sobald Anja Nemesis’ letzte Nachricht gelesen hatte, wischte sie sich mit Speichel und einem Papiertaschentuch die Schrift vom Unterarm. Anschließend ging sie ins Internet und suchte nach Informationen über den Namen ihres Todesengels.
Nemesis war in der griechischen Mythologie die Göttin des gerechten Zorns oder der ausgleichenden Gerechtigkeit. Heutzutage verstand man darunter allerdings eher einen ewigen Gegenspieler oder Erzrivalen. Außerdem stand der Name Nemesis für einen persönlichen Todesengel oder Todfeind, einen personifizierten Todesbringer oder eine tödliche Bedrohung.
Die Wahl des Namens passte also, denn diejenigen, die bei anderen Selbstmordspielen Vormund genannt wurden, waren hier im wahrsten Sinne des Wortes personifizierte Todesbringer.
Anja schloss den Browser und griff zum Telefon. Sie rief bei einem Kollegen in der Cybercrime-Abteilung an, mit dem sie ein paar Mal zu tun gehabt hatte und den sie ein bisschen besser kannte als seine Kollegen. Cybercrime war unter anderem für die EDV-Beweismittelsicherung und -auswertung und die Telekommunikationsüberwachung zuständig. Sie setzte ihn davon in Kenntnis, dass sie den Laptop eines vermissten Studenten vorbeibringen lassen würde, damit er auf Herz und Nieren untersucht werden konnte. Außerdem gab sie ihm die Internetadresse des Clubs der toten Gesichter und bat ihn, mehr über den oder die Betreiber der Seite herauszufinden.
Als es an der Zeit für Nemesis’ nächste Nachricht mit der zweiten Aufgabe der Suicide-Challenge war, sah sie in Lauras Postfach und öffnete die Mail, die vor wenigen Augenblicken dort eingegangen war.
Hallo, Laura,
zunächst einmal herzlichen Glückwunsch zur Bewältigung der ersten Challenge. Du kannst echt stolz auf dich sein. Doch das war erst der Anfang, denn 23 Aufgaben liegen noch vor dir. Aber keine Bange. Du hast gezeigt, dass du entschlossen genug bist, dein Ziel kompromisslos zu verfolgen, auch wenn dich, wie nicht anders zu erwarten war, im Moment noch Zweifel und Ängste plagen.
Hier also die zweite Aufgabe.
Sieh dir innerhalb der nächsten Stunde im Internet mindesten fünfmal das Video zu dem Lied »Gloomy Sunday« an. Mach dich zudem mit seiner Hintergrundgeschichte vertraut. Fasse für mich anschließend in einer kurzen Mail die Geschichte des Songs zusammen.
Anja runzelte verwirrt die Stirn, denn der Titel des Liedes sagte ihr nichts. Auf den ersten Blick gab es nicht einmal einen Bezug zum Thema Selbstmord. Außerdem war es keine schwere Aufgabe, die ein großes Opfer von ihr verlangte. Entweder hatte Nemesis gemerkt, dass sie Laura nicht gleich am Anfang überfordern durfte, und fing deshalb behutsam an. Oder die Suicide-Challenge des Clubs begann immer so harmlos, steigerte sich dann aber unter Umständen umso mehr, wenn sie dem Höhepunkt zustrebte.
Sie machte sich im Internet über »Gloomy Sunday« schlau. Dabei handelte es sich um den englischen Titel eines Liedes, das der ungarische Pianist Reszö Seress 1932 geschrieben hatte, nachdem er von seiner Verlobten verlassen worden war. Der ungarische Titel lautete Szomorú Vasárnap, was übersetzt »Trauriger Sonntag« hieß. Es ging darin um einen Mann, dessen Freundin kürzlich verstorben war, und der nun darüber nachdachte, Selbstmord zu begehen, um wieder mit ihr vereint zu sein. Berühmt wurde das Lied vor allem als sogenanntes »Lied der Selbstmörder«, da alsbald eine Reihe von Suiziden damit in Verbindung gebracht wurde. So sollte im Frühjahr 1933 in einem Budapester Café ein junger Mann die Kapelle gebeten haben, Szomorú Vasárnap zu spielen. Anschließend ging er nach Hause und erschoss sich. In einem anderen Fall schluckte eine junge Frau eine Überdosis Tabletten, während ihr Grammophon ständig Szomorú Vasárnap spielte. Als die Nachbarn schließlich genervt die Wohnungstür aufbrachen, da auf ihr Klopfen niemand reagiert hatte, fanden sie die Frau tot vor. Einige Radiosender weigerten sich daraufhin, das Lied zu spielen. Seress selbst beging im Januar 1968 Selbstmord; er sprang aus dem Fenster seiner Budapester Wohnung. Und das Mädchen, das ihn verlassen und damit erst zu dem Lied inspiriert hatte, hatte sich schon viel früher umgebracht. Neben ihrem Leichnam fand man angeblich ein Blatt Papier, auf dem »Gloomy Sunday« stand. Erst mit dem deutsch-ungarischen Film »Ein Lied von Liebe und Tod – Gloomy Sunday« aus dem Jahr 1999 wurde das Lied wiederentdeckt.
Anja sah sich anschließend Videos des Originalsongs, der deutschen Version »Das Lied vom traurigen Sonntag« aus dem Film »Ein Lied von Leben und Tod« und die englischsprachige Interpretation »Gloomy Sunday« von Sinéad O’Connor an. Das Lied war melancholisch und durchaus in der Lage, jemanden noch trauriger zu machen, der sich ohnehin in depressiver Stimmung befand. Doch Anja hatte anschließend nicht das Bedürfnis, sich umzubringen. Bis vor etwa zehn Monaten wäre das noch anders gewesen. Damals hatte sie oft den Lockruf verspürt, den der Abgrund jenseits des Todes, wie sie es nannte, auf sie ausgeübt hatte. Vermutlich musste man depressiv, ohnehin suizidgefährdet oder zumindest extrem niedergeschlagen und traurig sein, um von dem Lied dazu verführt zu werden, sich selbst das Leben nehmen zu wollen.
Da Nemesis ihr aufgetragen hatte, sich das Video mindestens fünfmal anzusehen, hatte Anja noch genügend Zeit, bevor sie ihrem Todesengel eine Mail mit der Zusammenfassung der Geschichte des Liedes schicken musste. Außerdem wollte sie ihn ein bisschen auf die Folter spannen und zappeln lassen. Nemesis sollte sich nach Möglichkeit nie allzu sicher sein, dass sie Laura vollständig unter Kontrolle hatte. Gegebenenfalls ließ sie sich ja eher Antworten auf Lauras Fragen entlocken, wenn sie sie damit bei der Stange halten musste.
Um die Wartezeit zu überbrücken, arbeitete sich Anja durch die Akten der Vermisstenfälle, die sie von ihren Kollegen bekommen hatte. Sie enthielten jedoch nichts Neues; das Wichtigste hatten die Kollegen ihr bereits bei ihren Gesprächen mitgeteilt.
Anschließend verglich sie die Vermisstenfälle miteinander und suchte nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden. Stefan Greinwald, Martina Schreiber, Erhard Bader und Markus Lehner hatten im Gegensatz zu Christian Stumpf, dem aktuellsten Fall, weder Abschiedsbriefe noch Hinweise auf den Club der toten Gesichter hinterlassen. Außerdem lebten sie, anders als der Student, allein und waren todkrank oder schon länger depressiv oder lebensmüde.




