TODESJAGD

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Der Umstand, dass zwei der Vermissten an Krebs erkrankt waren, erinnerte Anja an den Apokalypse-Killer. Der Serienmörder hatte todkranke Frauen entführt und umgebracht, um ihre Leichen anschließend als makabre Abziehbilder der apokalyptischen Reiter zu inszenieren. Doch der Apokalypse-Killer war zum Glück tot und konnte daher nicht länger sein Unwesen treiben!
Sie dachte intensiv über die verschiedenen Vermisstenfälle nach, kam aber zu keinem Ergebnis. Irgendetwas störte sie; sie konnte aber nicht sagen, um was es sich konkret handelte. Nach einer Weile fand sie es allmählich an der Zeit, ihre nächste Nachricht an Nemesis zu schicken. Es waren nur noch wenige Minuten, bis die zweite volle Stunde ihrer Challenge und damit die Zeit endete, in der sie die nächste Aufgabe absolviert haben musste. Sie schrieb eine kurze Zusammenfassung dessen, was sie über »Gloomy Sunday« erfahren hatte, bevor sie die Nachricht abschickte.
Die Antwort ihres Todesengels kam ein paar Minuten später.
Gratulation! Du hast auch die zweite Aufgabe mit Bravour bewältigt. War doch gar nicht so schwer, oder?
Nun bist du bereit für die nächste Challenge.
Deine dritte Aufgabe ist die folgende: Zeichne einen »Todesengel« auf ein Stück Papier. Mach anschließend ein Foto und maile es mir.
Anja runzelte die Stirn. Auch die dritte Challenge war leicht durchführbar und kein großes Opfer. Sie hatte erwartet, dass die Aufgaben immer härter werden würden. Andererseits war sie natürlich froh. Sie hatte nicht vor, sich zu verletzen, indem sie sich beispielsweise die Haut aufritzte, Nadeln in den Arm stach oder die Lippen zerschnitt, was bei anderen Selbstmordspielen teilweise verlangt worden war.
Allerdings hielt sie die Zeit für gekommen, dass Laura sich wieder einmal ein wenig störrisch benahm. Deshalb schrieb sie eine weitere Nachricht an Nemesis.
Ich weiß nicht, wie ein Todesengel aussieht. Kannst du mir helfen, Nemesis? Du bist doch ein Todesengel. Wie siehst du aus?
Erneut konnte sich Anja ein Lächeln nicht verkneifen, als sie die Mail abschickte, denn die würde Nemesis mit Sicherheit nicht gefallen.
Als sie fast umgehend die Antwort erhielt, glaubte sie sogar, das Wutschnauben des vermeintlichen Todesengels zu hören, während sie las, was Nemesis geschrieben hatte.
Offensichtlich hast du die Regeln noch immer nicht kapiert, sonst würdest du mir keine derartig dummen Fragen stellen.
Es funktioniert wie folgt: Ich sage dir, was du zu tun hast, und du machst es anschließend, ohne es ständig zu hinterfragen! Hast du mich jetzt endlich verstanden?
Deine dritte Aufgabe besteht darin, einen »Todesengel« zu zeichnen. Das kann doch nicht so schwer sein! Andere Teilnehmer, die ich bislang begleitet habe, stellten sich nicht so dämlich an.
Es geht nicht darum, wie ein »Todesengel« aussieht, sondern darum, wie du dir einen vorstellst. Und den zeichnest du dann.
Verstanden?
Und schick mir gefälligst keine weiteren Nachrichten, bevor du die Aufgabe erfüllt hast!
Die Zeit läuft! Ich warte!
»Ich auch«, murmelte Anja und ließ die Nachricht fürs Erste unbeantwortet.
Sie hatte noch eine Menge weiterer Vermisstenfälle, die darauf warteten, von ihr bearbeitet zu werden. Und am heutigen Tag war sie bislang zu nichts anderem gekommen, als ausschließlich die Fälle von Vermissten zu bearbeiten, deren Fotos in der Ruhmeshalle des Selbstmordclubs hingen.
Sie öffnete daher die Akte eines vierzehnjährigen Mädchens namens Leonie Wagner. Leonie war vor drei Tagen verschwunden. Allerdings war das nichts Neues. Das Kind riss regelmäßig von zu Hause aus, wurde aber ebenso regelmäßig wenige Tage später in der Innenstadt, meist in der Nähe des Hauptbahnhofs, wieder aufgegriffen. Dennoch musste sie jedes Mal erneut zur Fahndung ausgeschrieben werden. Denn auch wenn allen klar war, dass sie nicht in Gefahr schwebte, durfte sie als Minderjährige ihren Aufenthaltsort nicht selbst bestimmen. Im Gegensatz zu Erwachsenen galten Kinder und Jugendliche schon dann als vermisst, wenn ihr Aufenthaltsort unbekannt war.
Der Fall war mittlerweile abgeschlossen, denn Leonie war gestern Abend von zwei Bundespolizisten innerhalb des Bahnhofs entdeckt worden. Die Beamten kannten das Mädchen inzwischen. Sobald Anja sie darüber informierte, dass Leonie wieder einmal abgängig war, hielten sie nach ihr Ausschau. Anja hatte sie noch am gleichen Abend bei der Bundespolizeiinspektion am Hauptbahnhof abgeholt und nach Hause gebracht. Auf der Fahrt hatte sie dem Mädchen, wie sie es immer tat, ins Gewissen geredet. Sie glaubte allerdings nicht, dass sie diesmal damit erfolgreicher gewesen war als die unzähligen Male zuvor. Leonie hatte so demonstrativ gelangweilt, wie es nur vierzehnjährige Mädchen können, aus dem Fenster gestarrt und mit keiner Regung auf Anjas Worte reagiert. Für Anja war es frustrierend. Doch was sollte sie sonst tun? Das Kind zu Hause anketten? Wohl kaum. Und so war beiden bewusst gewesen, dass sie sich unter ganz ähnlichen Bedingungen erneut begegnen würden. So lange, bis Leonie nicht mehr davonlief oder endlich volljährig war und damit tun und lassen konnte, was sie wollte.
Danach war Anja gleich nach Hause gefahren und nicht mehr dazu gekommen, den Abschluss des Falls in der Akte zu dokumentieren. Das holte sie jetzt nach.
Als sie zwanzig Minuten später aufsah und Lauras E-Mail-Account checkte, sah sie, dass Nemesis ihr eine weitere Nachricht geschickt hatte.
Laura? Warum meldest du dich nicht?
Es kann doch nicht so lange dauern, einen Todesengel zu zeichnen.
Schreib mir bitte umgehend zurück!
»Darauf kannst du lange warten, Arschloch«, sagte Anja und widmete sich einer anderen Vermisstenakte.
Nach zehn weiteren Minuten traf die nächste Mail von Nemesis ein.
Laura? Was ist los mit dir?
Ich hoffe, ich hab dich mit meiner schroffen Art nicht vor den Kopf gestoßen. Aber es ist unbedingt notwendig, dass die Teilnehmer der »Suicide-Challenge« die ihnen gestellten Aufgaben erfüllen, ohne sie ständig zu hinterfragen. Anders funktioniert die Challenge nicht.
Bitte melde dich.
»Na schön«, sagte Anja und seufzte. »Dann will ich dir den Gefallen mal tun.«
Sie formulierte eine Antwort und schickte sie weg.
Tut mir leid, Nemesis, aber ich konnte nicht früher antworten. Ich habe geweint, denn ich bin traurig und verwirrt. Warum darf ich keine Fragen stellen? Ich dachte, du bist mein Ansprechpartner, den ich alles fragen kann. Ich möchte doch nur wissen, mit wem ich es zu tun habe. Schließlich weißt du ja auch, wer ich bin. Es würde mir ja schon reichen, wenn du mir schreibst, wie alt du bist, ob du männlich oder weiblich bist und welche Farbe deine Haare haben. Danach tue ich alles, was du mir sagst, ohne dämliche Fragen zu stellen. Versprochen!
Nemesis’ Reaktion erfolgte prompt.
Na schön, Laura. Dann werde ich dir eben mitteilen, was du wissen willst. Aber danach ist Schluss, und du musst tun, was ich dir geschrieben habe. Wir haben nicht mehr viel Zeit, bevor die vierte Aufgabe an der Reihe ist.
Also. Ich bin weiblich und 20 Jahre alt. Meine Haarfarbe ist ein rötliches Kastanienbraun.
Endlich zufrieden?
Dann beeil dich jetzt bitte und erledige Aufgabe Nummer 3, bevor ich es bereue, gegen die Regeln verstoßen zu haben.
Anja notierte sich die Angaben. Natürlich konnte Nemesis gelogen haben, aber dieses Risiko musste sie eingehen. Sie nahm sich ein Blatt Druckerpapier und zeichnete mit dem Folienstift die Umrisslinie eines engelsartigen Wesens mit riesigen Flügeln, Hörnern und einem Teufelsschwanz. Anschließend malte sie den Umriss schwarz aus. Sie machte ein Foto, schickte es erneut zuerst an Lauras Account und dann als Anhang einer Mail an Nemesis.
Danke, dass du meine Fragen beantwortet hast, mein lieber Todesengel. Jetzt habe ich schon viel, viel mehr Vertrauen in dich. Ich bin gespannt, was als Nächstes auf mich zukommt.
Anja seufzte. Die Selbstmord-Challenge und der Schriftwechsel mit Nemesis nahmen viel zu viel Zeit in Anspruch. Sie hielt es aber für notwendig, den Kontakt aufrechtzuerhalten, denn gegebenenfalls kam sie auf diesem Weg an die Hintermänner des Clubs heran.
Sie bearbeitete zwei weitere Akten; in diesen Fällen hatte sich allerdings nichts Neues ergeben. Dann war es auch schon wieder Zeit für die nächste Aufgabe.
Anja öffnete Nemesis’ Mail und las:
Jetzt wird es allmählich Zeit für die erste richtige Herausforderung.
Hier ist deine 4. Challenge: Geh auf das Dach eines hohen Gebäudes. Je höher, desto besser! Stell dich direkt an den Rand oder ans Geländer. Blicke mindestens zehn Minuten lang in den Abgrund. Mach ein Foto und maile es mir.
Anja sah auf die Uhr. Es war Zeit, für heute Feierabend zu machen. Wegen dieser blöden Challenge kam sie ohnehin zu kaum etwas anderem. Außerdem war sie am Abend noch zum Essen verabredet.
Sie schaltete ihren Computer aus und klappte den Laptop des vermissten Studenten zu. Bevor sie in die Tiefgarage zu ihrem Wagen ging, wollte sie noch rasch dafür sorgen, dass das Gerät zu David Mollberger bei Cybercrime gebracht wurde.
Während sie ihre Lederjacke anzog, überlegte sie, auf welches hohe Gebäude sie steigen sollte, um dort die nächste Aufgabe hinter sich zu bringen.
5
Nachdem sie in ihrem weißen MINI Cooper die Tiefgarage des Dienstgebäudes verlassen hatte, fuhr sie ohne Umwege zu dem Hochhaus im Stadtteil Moosach, dessen Adresse sie bei ihrer Anmeldung im Club der toten Gesichter angegeben hatte.
Anfangs hatte sie für ihre nächste Challenge noch an eines der höchsten Gebäude der Stadt gedacht; schließlich hatte Nemesis geschrieben: je höher, desto besser. Doch bei vielen dieser Häuser waren die Dächer nicht oder nur schwer zugänglich. Beispielsweise beim Hochhaus Uptown, das ebenfalls in Moosach stand und mit 146 Metern das höchste Gebäude der Stadt war. Oder bei den Highlight Towers in Schwabing-Freimann, die mit 126 und 113 Metern die Plätze zwei und vier belegten.
Abgesehen davon fand sie es passend, ausgerechnet das Dach des Wohnhauses aufzusuchen, in dem sie angeblich wohnte. Falls es den Leuten, die hinter dem Selbstmordclub steckten, aufgrund ihres Fotos gelang, das Gebäude zu identifizieren, würden sie wenigstens nicht stutzig werden. Schließlich war es für ein vierzehnjähriges Mädchen naheliegend und am einfachsten, das Dach des Hauses aufzusuchen, in dem es wohnte.
Von früheren Besuchen bei ihrer ehemaligen Schulfreundin, die mit ihren Eltern und ihrem jüngeren Bruder in der 18. Etage gewohnt hatte, wusste sie noch genau, in welcher der Erdgeschosswohnungen sie den Hausmeister finden konnte. Der gedrungen wirkende, glatzköpfige Mann, der ihr die Tür öffnete, war nicht erfreut, dass sie ihn um diese Uhrzeit störte, denn er saß mit seiner Frau und seinen drei Kindern beim Abendessen. Doch mithilfe ihres Dienstausweises und einer kleinen Notlüge, vor allem aber dank eines diskret angebotenen Geldscheins, um ihn für seine Mühe zu entschädigen, gelang es ihr erstaunlich leicht und rasch, den Hausmeister zu besänftigen. Außerdem konnte sie ihn auf diese Weise auch dazu überreden, ihr den Schlüssel zu geben, der ihr Zutritt zum Dach des über 70 Meter hohen Gebäudes gewährte.
Als sie das Treppenhaus verließ und aufs Dach trat, gönnte sie sich zunächst einen ausgiebigen Rundumblick, denn allzu oft sah sie die Stadt nicht aus dieser Perspektive. Die Aussicht von hier oben war eindrucksvoll. Es wehte zwar ein leichter Wind, der in Anjas ohnehin arg zerzaustem Haar wühlte und an ihrer Kleidung zerrte, doch er war nicht so kräftig, dass sie Gefahr lief, vom Dach geweht zu werden.
Schließlich ging sie über den moosbedeckten, leicht rutschigen Kiesbelag, der den größten Teil des Daches bedeckte, zum Rand. Ein hüfthohes Geländer sollte vermutlich verhindern, dass jemand versehentlich vom Gebäude fiel. Unmittelbar davor blieb sie stehen und legte die rechte Hand darauf. Erst dann senkte sie den Blick und sah in die Tiefe. Wie bereits auf der Fahrt hierher ging ihr dabei wie ein besonders nervtötender Ohrwurm die Melodie von »Gloomy Sunday« durch den Kopf.
Von hier oben wirkte das Gebäude sogar noch höher als zuvor von unten. Die Autos und Fußgänger sahen aus wie Bestandteile einer Modelleisenbahn.
Anja wollte nur schnell das Beweisfoto für Nemesis machen und sofort wieder verschwinden. Doch dann zog sie der Anblick in seinen Bann, sodass sie nicht mehr in der Lage war, sich zu bewegen oder einen Muskel zu rühren.
Sie erschauderte sosehr, dass sie am ganzen Körper erzitterte.
Zunächst hatte der Abgrund vor ihr beängstigend und gefährlich auf sie gewirkt. Doch je länger sie in die Tiefe starrte, desto vertrauter und harmloser wurde der Anblick für sie. Beinahe erschien es ihr, als wollte der Abgrund sie zu sich locken. Es war ein ganz ähnliches Gefühl wie das, das sie bis vor ein paar Monaten immer gehabt hatte. Damals hatte sie nach ihren ständig wiederkehrenden Albträumen im Badezimmer ihrer Wohnung wie hypnotisiert auf die Schachtel mit den Schlaftabletten gestarrt, die ihr einen einfachen und schnellen Ausweg aus ihrer Misere versprochen hatten. Auch jetzt vermeinte sie wieder, den Lockruf des Abgrunds zu spüren, nur dass es diesmal nicht nur der sinnbildliche Abgrund jenseits des Todes, sondern die sehr reale und tödliche Tiefe rund um ein Hochhausdach war.
Während in ihrem Kopf wie der Soundtrack zu einem Film weiterhin »Gloomy Sunday« gespielt wurde, und zwar dermaßen laut, dass sie sich kaum denken hören konnte, kletterte sie über das Geländer, bis sie auf dem schmalen Absatz balancierte, der die Brüstung vom Abgrund trennte. Anschließend ließ sie das Geländer los, senkte den Kopf und sah in die Tiefe vor ihren Füßen, die ihr finster entgegenblickte. Der Wind zerrte hier, unmittelbar am Rand, noch heftiger an ihr. Es kam ihr beinahe so vor, als griffe er mit gierigen Händen nach ihr, um sie vom Gebäude herunterzureißen und anschließend auf ihrem Weg nach unten zu begleiten. Doch sie hielt dem Zerren stand. Dann schloss sie die Augen, ließ sich nach vorn fallen und …
Anja schwankte und bekam einen Schreck. Ihr Herz klopfte erschreckend schnell. Eilig riss sie die Augen auf und erkannte mit Erleichterung, dass sie gar nicht über das Geländer geklettert war und vom Dach stürzte, sondern es sich nur besonders lebhaft vorgestellt hatte. Sie stand noch immer auf der sicheren Seite der Brüstung. Und ihre rechte Hand klammerte sich weiterhin daran fest, als hinge ihr Leben davon ab. Außerdem hatte sie weiche Knie.
Als sie erneut in die Tiefe blickte, wurde ihr umgehend schwindelig. Sie vermeinte noch immer, einen leichten Sog zu verspüren, so als flüsterte ihr die Tiefe zu, es endlich hinter sich zu bringen und zu ihr zu kommen. Doch Anja schüttelte verneinend den Kopf und widerstand der Versuchung.
Ich muss schleunigst von hier weg!
Sie löste ihre Finger widerstrebend vom Geländer. Anschließend trat sie rasch ein paar Schritte zurück, bis die endlich wieder das Gefühl hatte, festen Boden unter den Füßen zu haben. Das Schwindelgefühl legte sich allmählich.
Eilig holte sie ihr Telefon heraus und machte die Aufnahme, die Nemesis verlangt hatte. Normalerweise war sie schwindelfrei und litt auch nicht unter Höhenangst. Sie hatte aber dennoch keine Lust, zehn Minuten lang hier herumzustehen und nach unten zu starren, wie es der Todesengel verlangt hatte, während ihr gleichzeitig ständig das sogenannte Lied der Selbstmörder durch den Kopf ging und der Abgrund sie flüsternd zu sich locken wollte.
Anja hatte gedacht, sie wäre seit dem Tod des Apokalypse-Killers nicht mehr suizidgefährdet. Aber offenkundig hatte sie sich getäuscht. In manchen Situationen, beispielsweise am Rand eines Hochhausdaches, konnte sie den Lockruf des Todes noch immer vernehmen und seinen Sog deutlich spüren.
Sie erschauderte erneut und erzitterte dabei.
Womöglich war es doch keine so brillante Idee, diese Selbstmord-Challenge anzufangen.
Dennoch wollte sie die Challenge jetzt nicht abbrechen. Außer dem Kontakt zu Nemesis hatte sie momentan nichts in der Hand, um den Hinterleuten des Clubs auf die Spur zu kommen. Schon deshalb musste sie mit der Challenge unbedingt weitermachen.
Anja gab sich innerlich einen Ruck und drehte sich schließlich um, damit sie nicht länger in die verlockende Tiefe schauen musste. Nachdem sie beim Anblick des Abgrunds soeben das Gefühl gehabt hatte, sie wäre in Trance gefallen, traute sie sich hier oben selbst nicht länger.
Besser, ich verschwinde so schnell wie möglich!
Schließlich hatte sie, was sie wollte. Und sobald sie Nemesis das Foto geschickt hatte, wäre damit auch die vierte Aufgabe erledigt.
Sie ging, noch immer auf wackligen Beinen, zu dem Aufbau in der Mitte des Daches, der neben dem Schachtkopf des Aufzugs eine Tür zum Treppenhaus enthielt. Als sich die Tür hinter ihr schloss und sie sicher im Inneren des Hauses war, atmete sie erleichtert auf. Auch die Melodie von »Gloomy Sunday« in ihrem Kopf wurde augenblicklich leiser. Sie lief die Stufen bis ins oberste Stockwerk hinunter. Anschließend fuhr sie mit dem Fahrstuhl ins Erdgeschoss. Nachdem sie dem Hausmeister den Schlüssel zurückgebracht und sich noch einmal bedankt hatte, verließ sie das Gebäude, setzte sich in ihren Wagen und fuhr nach Hause.
Anjas 3-Zimmer-Wohnung lag in der Hansapark-Wohnsiedlung nördlich des Westparks. Von ihrem verstorbenen Mann Fabian hatte sie ein Haus geerbt. Es lag in der Nähe des Waldfriedhofs, auf dem sowohl ihr Mann als auch ihr Vater begraben waren. Dennoch hatte sie sich bislang nicht dazu durchringen können, die Wohnung aufzugeben und in das Haus zu ziehen. Dabei wäre das vom rein wirtschaftlichen Gesichtspunkt her viel sinnvoller gewesen. Doch abgesehen davon, dass sie in Fabians Haus zu viel an ihn erinnerte und die Trauer und der Schmerz über seinen Tod dort allgegenwärtig waren, lag die Wohnung erheblich näher an ihrer Dienststelle. Wenn sie ihr Auto nicht benötigte, konnte sie innerhalb weniger Minuten zu Fuß zur Arbeit gehen. Außerdem lag der Westpark, in dem sie bevorzugt ihre Runden drehte, unmittelbar vor der Haustür.
Sobald sie die Wohnung betreten hatte, sah sie sich Yin gegenüber. Er saß im Flur und sah sie erwartungsvoll an. Sofort bekam sie ein schlechtes Gewissen, denn der Kater hatte bis vor einem halben Jahr auf einem Bauernhof gelebt und dort jede Menge Auslauf und Freiraum gehabt. Ermittlungen im Fall einer verschwunden Psychologiestudentin, an die Anja an diesem Tag schon einmal erinnert worden war, hatten sie damals dorthin geführt und in eine lebensgefährliche Situation gebracht. Yin hatte ihr gleich zweimal das Leben gerettet. Zum Dank hatte Anja ihn bei sich aufgenommen, denn nachdem die beiden Bewohner des Bauernhofs gestorben waren, hatte es niemanden gegeben, der sich um ihn gekümmert hätte. Seitdem lebte Yin bei Anja und war eine reine Wohnungskatze. Er beklagte sich zwar nie darüber, dass er nicht mehr wie früher nach Belieben in der Gegend herumstreunen und auf Mäusejagd gehen konnte, wie es Katzen ihrer räuberischen Natur gemäß eigentlich tun sollten. Dennoch war Anja davon überzeugt, dass er es insgeheim vermisste. Vor allem, da sie einen Großteil des Tages nicht da und er in dieser Zeit sich selbst überlassen war. Anja stellte sich dann immer vor, dass er auf dem Fensterbrett saß, nach draußen sah und seiner verlorenen Freiheit nachtrauerte. Das war natürlich Blödsinn, und wie viele Tierbesitzer vermenschlichte sie das Tier damit allzu sehr. Dennoch beschloss Anja in diesem Moment spontan, sich schon um des Katers willen endlich darum zu kümmern, dass sie diese Wohnung trotz ihrer unbestreitbaren Vorteile aufgab und in das leerstehende Haus neben dem Waldfriedhof zog.
»Gute Neuigkeiten, Yin«, sagte Anja daher zur Begrüßung. »Wir beide ziehen bald in ein Haus mit einem großen Garten.«
Yin ließ sich nicht anmerken, ob er sie verstanden hatte und, wenn ja, was er darüber dachte. Er wartete geduldig, bis sie endlich Schuhe und Jacke ausgezogen hatte, bevor er zu ihr kam, sich an ihren Beinen rieb und leise miaute.
»Hunger?«, fragte Anja.
Dieses Wort schien der Kater hingegen sehr wohl verstanden zu haben. Er löste sich augenblicklich von ihr und lief leichtfüßig in die Küche.
Anja folgte ihm.
Als sie die Küche betrat, saß er bereits auf der Arbeitsplatte neben dem Kühlschrank. Sein Schwanz peitschte ungeduldig hin und her.
»Ich mach ja schon«, sagte Anja und schüttelte den Kopf. Am Anfang ihres Zusammenlebens hatte sie ihm noch beibringen wollen, nicht auf die Tische und die Arbeitsplatten in der Küche zu springen. Doch da er ihre dementsprechenden Anweisungen schlichtweg ignoriert hatte, hatte sie es irgendwann aufgeben, ihn erziehen zu wollen. Stattdessen hatte sie immer öfter das unbestimmte Gefühl, die Katze würde sie dressieren und wäre damit sogar ausnehmend erfolgreich.
»Und? Wie war dein Nachmittag?« Sie öffnete den Oberschrank, unter dem Yin saß, und holte eine Dose Katzenfutter mit Kaninchen- und Entenfleisch heraus. Sie glaubte, dass es sich dabei um Yins Lieblingssorte handelte, denn keine andere Geschmacksrichtung aß er rascher auf. Während sie einen frischen Futternapf füllte und die Katze gleichzeitig mit dem Ellenbogen davon abhielt, sich schon jetzt darüber herzumachen, redete sie weiter, als hätte Yin ihr geantwortet. »Bei mir war’s überhaupt nicht langweilig. Ich hab mich bei einer Suicide-Challenge angemeldet und musste jede Menge dämlicher Aufgaben erledigen.« Sie stellte den Napf auf den Boden. Yin sprang herunter und stürzte sich darauf, als hätte er Angst, jemand könnte es ihm vor der Nase wegschnappen. »Guten Appetit«, wünschte Anja. Anschließend leerte sie den Wassernapf, spülte ihn kurz aus, füllte ihn dann erneut und stellte ihn neben den dritten Napf, der Trockenfutter enthielt, auf das Yin jedoch nur im äußersten Notfall zurückgriff.
Erst als sie den Kater versorgt hatte, kam sie dazu, an sich selbst zu denken und die Kaffeemaschine in Gang zu setzen. Dank der Suicide-Challenge würde es vermutlich eine lange Nacht ohne allzu viel Schlaf werden, denn Nemesis würde ihr jede Stunde eine weitere Aufgabe stellen.
Während die Maschine lief, erzählte sie Yin von den Aufgaben, die sie bereits absolviert hatte. Sie hatte festgestellt, dass es ihr guttat, zu Hause jemanden zu haben, mit dem sie nach Feierabend über ihre Arbeit und die Fälle reden konnte. Auch wenn es sich nur um eine Katze handelte und die Gespräche verständlicherweise einseitig verliefen. Dennoch hatte sie oftmals das Gefühl, Yin verstünde sie auf einer speziellen Ebene sehr gut. Immerhin hatten sie ein paar Dinge gemeinsam. Sie waren beide Überlebende und hatten ihre Partner verloren. Anja ihren Ehemann Fabian, den sie, obwohl sie ihn sechs Monate vorher verlassen hatte, zum Zeitpunkt seines Todes noch immer sehr geliebt hatte. Und Yin seine Gefährtin Yang, eine ebenfalls sechsjährige weiße Katze, die ein Opfer des Mannes geworden war, der auch Yin und Anja hatte töten wollen.
Als der Kaffee fertig war, setzte sie sich mit einem randvollen Jumbobecher an den Küchentisch vor ihren Laptop, den sie bereits aufgeklappt und eingeschaltet hatte.
Yin hatte seine Mahlzeit beendet, saß neben dem saubergeleckten Napf und unterzog sich einer gründlichen Katzenwäsche. Anja hatte das Gefühl, dass er in letzter Zeit etwas fülliger geworden war. Womöglich sollte sie ihn auf Diät setzen. Aber unter Umständen lag es nicht in erster Linie daran, sondern kam eher daher, dass er zu wenig Bewegung hatte. Doch das würde sich jetzt ohnehin bald ändern, das hatte sie sich fest vorgenommen.
Sie hatte nur noch ein paar Minuten Zeit, Nemesis eine Nachricht mit dem Foto vom Hochhausdach zu schicken.
Bereits bei dem Gedanken daran, was ihr dort oben widerfahren war, überlief sie ein eisiger Schauder, der sie erzittern ließ. Sie verdrängte die Erinnerungen, die von der nervigen Melodie des Selbstmordliedes begleitet wurden, und versuchte stattdessen, sich auf ihr Tun zu konzentrieren.




