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Damit ein solch philosophischer Austausch aber überhaupt zu etwas führen kann, ist in diesem ›postkolonialen Paradigma‹ vorausgesetzt, dass sich die Gesprächspartner einig sind, worüber sie reden, und sich in einer Weise vernünftig artikulieren, die es den anderen erlaubt, die jeweiligen Beiträge aufzunehmen und zu berücksichtigen. Tatsächlich ist ja genau dies die Prämisse des ›postkolonialen Paradigmas‹: Die Vertreter anderer Kulturen können ebenso vernünftig reden wie die Europäer und dürfen darum nicht länger übergangen werden. Das ist zwar zweifellos richtig, es zum Ausgangspunkt interkultureller Philosophie zu machen, bedeutet aber, dass in ihr ein bestimmtes Vernunft- und Philosophieverständnis vorausgesetzt bleibt. Interkulturelle Philosophie meint dann eigentlich die Öffnung des philosophischen Diskurses für außer-europäische Stimmen. Das Grundverständnis von Philosophie selbst bleibt dagegen unberührt.
Gegen eine solche vergleichsweise unkritische Öffnung der Philosophie wären nun freilich all jene Ansätze abzusetzen, die darauf aufmerksam machen, dass es in der heutigen postkolonialen Situation nicht nur um Teilhabe an europäischen Diskursen gehen darf, sondern dem zuvor um eine Dekolonialisierung des Denkens selber gehen muss. In diesem Sinne spricht beispielsweise WireduWiredu, Kwasi von der Notwendigkeit einer »Conceptual Decolonization«.1
Der dritte Zugang, den ich hier nennen möchte, ist durch die Philosophie selber motiviert. Die nach-hegelsche Philosophie ist durch das Ende der großen Systementwürfe und eine Kritik der Subjektphilosophie geprägt. Im 19. Jahrhundert wird zunächst die Geschichtlichkeit der Vernunft herausgehoben, so dass die historisch unterschiedlichen Gestalten des Subjekts hervortreten. Bei HegelHegel, Georg W.F. bedeutet Geschichtlichkeit noch Entfaltung der Vernunft, die historischen Gestalten des Subjekts werden deshalb auf den absoluten Geist hin überstiegen. DiltheyDilthey, Wilhelm dagegen versteht die Geschichtlichkeit der Vernunft vom Erleben des historischen Subjekts her; die Vernunft entfaltet sich nicht, sondern sie verändert sich, weil sich das Erleben des Subjekts wandelt. Im 20. Jahrhundert schließlich zerfällt das historische Subjekt vollends in eine Vielzahl von Einzelsubjekten, die sich nicht mehr ohne weiteres auf eine einheitliche Vernunft berufen können – und das nicht deswegen, weil die Vernunft auf einmal kontingent wäre, sondern weil das Apriori der Vernunftstrukturen nur an den konkreten Erfahrungen, die der einzelne macht, geklärt werden kann. Es ist eben nicht so, dass die Vernunft auf die Welt schaut bzw. die Welt erlebt, sondern stattdessen so, dass bestimmte Vernunftstrukturen konkrete Erfahrungen ermöglichen. Um diese Vernunftstrukturen klären zu können, muss man die entsprechenden Erfahrungen machen. So wird die Aufklärung der Vernunft zu einer Kommunikation der Einzelsubjekte über ihre jeweiligen Erfahrungen. Indem sie sich über ihre Erfahrungen austauschen, erforschen sie die ihnen gemeinsame Vernunft. Das ist der tiefere Grund dafür, dass an die Stelle des Systems im 20. Jahrhundert die Kommunikation tritt.
Zugleich weist die Notwendigkeit zu kommunizieren darauf hin, dass sich dem einzelnen Subjekt andere Subjekte und ihre Erfahrungen von der Welt nicht ohne weiteres erschließen. Mit dem Universalsubjekt geht auch die Einheit der Welt verloren. Dadurch, dass die Welt nicht mehr von einem Universalsubjekt, sondern nun von einer Vielzahl von Einzelsubjekten angeschaut und erfahren wird, bilden sich eine Vielzahl verschiedener Welterfahrungen aus. SartreSartre, Jean-Paul spricht von den Subjekten als verschiedenen Zentren, auf die hin die Dinge der Welt ausgerichtet sind.2 Wie die Welt von einem anderen Zentrum als dem eigenen Selbst her gesehen aussieht, bleibt uns im Letzten immer verborgen. Damit bricht die Frage nach dem Anderen und Fremden auf und wird zu einer der bestimmenden in der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Mit der Frage nach dem Anderen und Fremden wächst natürlich auch die Sensibilität anderen Kulturen gegenüber. Nun kommt eine zweite Entwicklung in der Philosophie des 20. Jahrhunderts hinzu, durch die die Problematik noch verschärft wird. Gemeint ist die Besinnung auf das Phänomen der Welt, wie sie in erster Linie HeideggerHeidegger, Martin in seiner ontologischen Wende der Phänomenologie vollzogen hat. Alle Erfahrung setzt immer schon ein Verstehen von Welt voraus. Dieses Verstehen mag vage sein und es kann sich auch ändern, Erfahrung ist aber grundsätzlich nur auf dem Boden eines Weltverständnisses möglich. Damit macht Heidegger darauf aufmerksam, dass die einzelnen Subjekte nicht nur verschiedene Zentren in der einen Welt darstellen, so dass sie durch weitere Erfahrungen und vor allem durch Kommunikation untereinander die gemeinsame Welt nach und nach entdecken können. Vielmehr können die Subjekte Erfahrungszentren nur sein, weil sie Welt immer schon – auf je eigene Weise – verstanden haben. Dann aber ist die Kommunikation unendlich erschwert. Nun kann man natürlich mit gutem Recht hinterfragen, ob es richtig ist, die Subjekte als alleinige ›Erfahrungszentren‹ anzunehmen. Immerhin teilen wir doch auch Erfahrungen mit anderen und müssen darum auch die Welt mit ihnen teilen. Tatsächlich leben wir in intersubjektiv geteilten Erfahrungszusammenhängen, die ein gemeinsames Weltverstehen voraussetzen. Es ist deshalb kein Zufall, dass Heidegger versucht, an griechische Grunderfahrungen anzuknüpfen, bricht dort doch erstmals so etwas wie die Erfahrung von Welt als Welt auf. Die Philosophie ist Ausdruck dieser Erfahrung und damit zugleich Garantin der Kommunikationsmöglichkeit. Damit ist die Schwierigkeit freilich nur verschoben, nicht beseitigt. Auf interkultureller Ebene taucht sie mit großem Nachdruck wieder auf.
Gemeinsam machen die Entdeckung der Fremderfahrung und die Besinnung auf das Weltverstehen deshalb auf eine grundsätzliche Schwierigkeit aufmerksam, vor die sich die Philosophie im 20. Jahrhundert gestellt sieht. Kann es eine Kommunikation von Welten geben? Das ist die entscheidende Frage interkultureller Philosophie. Es ist klar, dass die interkulturelle Begegnung in dieser Dimension die Philosophie, die ja – wie wir gesehen haben – mit der Entdeckung von Welt anhebt, im Ganzen betrifft.
Ich werde die hier genannten sowie einige weitere aktuelle Ansätze interkultureller Philosophie in Kapitel 2 ausführlich diskutieren. Dabei geht es mir darum zu zeigen, dass die verschiedenen Ansätze einander nicht ausschließen, sondern insofern alle etwas zu zeigen vermögen, als sie die philosophische Begegnung zwischen den Kulturen in unterschiedlichen Dimensionen beschreiben. Kulturen sind ja keine monolithischen Blöcke, ja sie sind überhaupt keine Entitäten oder Subjekte; stattdessen sind sie sehr lebendige Geflechte von sich fortlaufend wandelnden Erfahrungszusammenhängen. Entsprechend können einzelne Erfahrungen einer anderen Kultur, die sich in Überlieferungen und Texten, aber auch in Praktiken und Überzeugungen niederschlagen, in der Philosophie auf Interesse stoßen, ohne dass deshalb notwendiger Weise immer auch der andere Erfahrungszusammenhang im Ganzen berücksichtigt wird. Eine solche Begegnung findet immer wieder statt und hat auch erheblichen Einfluss auf die weitere Entwicklung der Kulturen. Das Interesse kann sich aber auch darauf beziehen, inwiefern das den jeweils anderen kulturellen Erfahrungszusammenhängen zugrunde liegende Weltverständnis in den Texten und Überlieferungen, in den Praktiken und Überzeugungen oder in den Äußerungen des philosophischen Gesprächspartners zum Ausdruck kommen. In dieser interkulturellen Dimension wird nach dem eigenen Weltcharakter gefragt, der in den anderen Erfahrungen zum Tragen kommt.
Wege
Philosophie ist ein Weg, und zwar ein Weg des Menschen, Mensch zu sein. Griechisch verstanden ist sie gar der einzige Weg, auf dem der Mensch wahrhaft Mensch ist. Das macht interkulturelle Philosophie zu einem Desiderat. Es geht ihr darum zu zeigen, dass es verschiedene Wege gibt, wie der Mensch wahrhaft Mensch sein kann. Interkulturelle Philosophie ist deshalb zunächst einmal stärker an Differenzen als an Überlappungen und Ähnlichkeiten zwischen den Kulturen interessiert. Zugleich geht es ihr aber wie der griechischen Philosophie um Wege des Menschseins, also um die Klärung des Menschlichen und, in kritischer Hinsicht, um die Einforderung von Menschlichkeit.
Menschlichkeit, so die These, gibt es nur dort, wo das Menschsein als Weg verstanden wird. Wird das Menschsein dagegen jenseits aller Wege als wesensmäßig geklärt angenommen, droht jede Menschlichkeit verloren zu gehen. Der Mensch ist dann nämlich dies oder das, aber er erfindet und gestaltet sich nicht mehr selbst und kann darum auch nicht für sich selbst verantwortlich sein. Es greift deshalb viel zu kurz, die Gleichheit und die Gleichberechtigung aller Menschen auf der Grundlage des natürlichen Wesens des Menschen einzufordern. Der Mensch beweist seine Menschlichkeit gerade darin, dass er sich sein natürliches Wesen auf bestimmte Weise aneignet, es interpretiert und damit umgeht. Das Gleiche gilt für die Welt, in der der Mensch lebt. Er nimmt sie nicht einfach hin, sondern geht mit ihr um, interpretiert und gestaltet sie und gewinnt dadurch auch sich selber immer wieder neu. Kurz, der Mensch ist ein kulturelles Wesen und er lebt in einer kulturellen Welt. Damit ist zugleich gesagt, dass es vielfältige menschliche Welten gibt, die sich zudem fortlaufend verändern, wechselseitig beeinflussen, ineinander verschränken oder auch differenzieren. Diese Vielfalt zu leugnen, wäre »intellektuell enttäuschend, weil sie die faktische Verschiedenheit übergeht, die sich der Beobachtung aufzwingt«, wie Lévi-StraussLévi-Strauss, Claude – freilich in einer ethnologischen Perspektive – sagt.1 Wenn sich die Menschen in ihrer kulturellen Vielfalt begegnen, geht es deshalb zunächst keineswegs um Vereinheitlichung und Reduktion der Wege auf einen einzigen. Stattdessen geht es – oder sollte es gehen – um einen Wettstreit der Menschlichkeit. Wenn Menschen erfahren, dass eine andere Kultur menschlicher ist als ihre eigene, werden sie grundsätzlich versucht sein, diese zu übernehmen oder nachzuahmen. Zumindest aber werden sie versuchen, von ihr zu lernen. De facto mögen sowohl ein solcher Wettstreit als auch die Bereitschaft, voneinander zu lernen, durch machtpolitische Interessen vereitelt werden; das muss zu scharfer Kritik führen, darf aber nicht die Konsequenz haben, deswegen der globalen Durchsetzung einer einheitlichen kulturellen Gestaltung der menschlichen Welt das Wort zu reden.
Philosophisch lässt sich eine Begegnung der Kulturen in der interkulturellen Dimension, die jenseits aller machtpolitischen Gegebenheiten anzustreben bleibt, vermutlich am besten als ein Gespräch verstehen. Allerdings ein Gespräch, das nicht unverbindlich bleibt, sondern in das sich die Kulturen so einbringen, dass sie vom Gespräch her auch Korrekturen erfahren. Das Besondere des Gesprächs ist es ja gerade, das Gemeinsame, um das es im Gespräch geht, voranzubringen und zugleich die eigenen Positionen der Gesprächspartner schärfer zu profilieren. Das geht nur, weil das Gemeinsame, um das es im Gespräch geht, kein Drittes ist, das die Positionen der Gesprächspartner vermittelt oder subsumiert. Stattdessen taucht das Gemeinsame nur in den verschiedenen Positionen auf, aber so, dass es darin jeweils im Ganzen getroffen ist. Das bedeutet, dass die Gesprächspartner jeweils die vom anderen vertretene Position bzw. das vom anderen Gesagte auf ihre Weise mitsagen müssen. Sie müssen es aufnehmen und zugleich dadurch, dass sie es von ihrer Position her sagen, profilieren. So klären die Gesprächspartner im Hin und Her des Gesprächs das Gemeinsame, um das es im Gespräch geht, und treiben sich zugleich wechselseitig zu immer deutlicherer Profilierung ihrer eigenen Positionen an. Würden sie die Position des anderen einfach übernehmen, käme das Gespräch zum Erliegen; weder könnte das Gemeinsame geklärt noch die eigene Position profiliert werden.
Das Gemeinsame, um das es im Gespräch der Kulturen geht, ist wie angedeutet die Menschlichkeit. Jede Kultur ist irgendwie menschlich, schließlich ist sie vom Menschen gemacht. Im interkulturellen Gespräch aber reicht es nicht aus, ›irgendwie‹ menschlich zu sein. Die anderen Kulturen können auf eine Klärung der Menschlichkeit drängen und einfordern, dass die geklärte Form der Menschlichkeit auch kulturell realisiert wird. Das Gespräch hat also eine kritische Funktion. Und es bleibt umso lebendiger, je mehr verschiedene kulturelle Wege des Menschen es gibt.
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In Kapitel 1 wird zunächst erläutert, worin sich der Begriff der Interkulturalität von denjenigen der Multi- und Transkulturalität unterscheidet und weshalb ich ihn für wesentlich besser geeignet halte, die philosophische Herausforderung, vor die uns die interkulturelle Situation, in der wir heute leben, stellt, adäquat zu beschreiben. Zentrale Bedeutung kommt dabei dem Begriff der Kultur zu: Kulturen, so die These dieses Buches, sind Erfahrungswirklichkeiten und sie unterscheiden sich deshalb auch nur durch die Erfahrungen, auf denen sie aufruhen und die die verschiedenen Verständnisse von Menschsein und menschlicher Wirklichkeit begründen. Es ist ein essentialistisches Missverständnis, Kulturen als voneinander getrennte Entitäten vorzustellen;2 besonders irritierend ist die Vorstellung, Kulturen würden an biologischen Parametern wie Ethnizität und Hautfarbe hängen, aber auch die Reduktion von Kulturen auf Nationalität ist schlicht falsch, und selbst der Verweis auf die unterschiedlichen Sitten und Werte greift viel zu kurz. Stattdessen sind die Kulturen immer schon ineinander verschränkt und überlappen sich, ja jede einzelne Kultur nimmt alle anderen auf ihre Weise in sich auf und spiegelt sie wider. Gerade das begründet ihren Weltcharakter.
Kapitel 2 stellt, wie bereits erwähnt, die verschiedenen Ansätze und Dimensionen interkultureller Philosophie vor. Einen philosophischen Austausch zwischen den Kulturen gibt es auf mehreren Ebenen. Zu einer Herausforderung für die Philosophie im Ganzen wird dieser Austausch freilich nur in der interkulturellen Dimension, in der nach den Erfahrungen gefragt wird, die den Weltcharakter anderer Kulturen begründen.
In Kapitel 3 wird die These vertreten, dass Interkulturalität erst in der Gegenwart zu einer zentralen Fragestellung der Philosophie werden konnte. Das griechische Verständnis von Philosophie ist durch die Erfahrung von der Zusammengehörigkeit des Seienden in der Welt geprägt. Diese Erfahrung wird in der Neuzeit auf andere Weise wiederholt und erneuert. In der nach-kantischen Philosophie gewinnt das Phänomen der Erfahrung zunehmend an Bedeutung und wird in der Phänomenologie schließlich zum Ausgangspunkt der Analyse von Mensch und Welt. Damit bricht die Frage nach dem Anderen und der Möglichkeit, seine spezifischen Erfahrungen nachzuvollziehen, auf und wird zu einer der bestimmenden in der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Die Analyse von Alterität und Fremderfahrung sensibilisiert die Philosophie auch für die Wahrnehmung anderer kultureller Erfahrungstraditionen. Zu einer Herausforderung für die Philosophie im Ganzen wird die Interkulturalität aber erst durch die Entdeckung des Weltcharakters, der den kulturellen Grunderfahrungen zukommt.
Im 4. Kapitel werden wichtige Aspekte interkultureller Philosophie behandelt. Interkulturalität kann nur dann als ein zentrales und den Menschen zutiefst betreffendes Phänomen erkannt werden, wenn die These vom kulturellen Wesen des Menschen geteilt wird. Nur dann kann auch gesehen werden, dass sich der Mensch der Teilhabe am Geschehen der Welt verdankt und deshalb wesentlich aus dem Zwischen zu verstehen ist, in dem Mensch und Welt zusammengehören. Ein weiterer entscheidender Aspekt ist die Dimensionalität aller Wirklichkeit, womit gemeint ist, dass sich die Wirklichkeit nicht in Bereiche – beispielsweise in verschiedene Kulturen – gliedert, die zusammen ein Ganzes ergeben, sondern dass sie sich stattdessen in Dimensionen differenziert, in denen sie jeweils im Ganzen getroffen ist. Die weiteren Aspekte betreffen die Überlegung, dass jede Philosophie auf bestimmten Erfahrungen aufruht und sich der Wandel dieser grundlegenden Erfahrungen als eine Grundphilosophie beschreiben lässt; ferner das Phänomen der Welt, das interkulturell im Plural gedacht werden muss; und die Kritikfähigkeit der Kulturen in der interkulturellen Begegnung. Schließlich wird die Menschlichkeit als das eigentliche Thema interkultureller Begegnung herausgestellt.
In Kapitel 5 werden sodann drei ausgesuchte Beispiele interkultureller philosophischer Begegnung vorgestellt. Den Anfang macht ein Text zum Wesen der Begegnung aus der modernen japanischen Philosophie der Kyoto-Schule. Es folgt eine knappe Erläuterung wichtiger Denker des islamischen Mittelalters, deren Auseinandersetzungen mit der griechisch-europäischen Tradition für beide Kulturregionen von entscheidender Bedeutung gewesen sind. Das dritte Beispiel betrifft die Herausbildung moderner Philosophien im sub-saharischen Afrika, die wichtige Erfahrungen aus vorkolonialer Zeit in die Beschäftigung mit der europäisch-westlichen Philosophie einbringen und so mittlerweile eine genuin afrikanische Stimme in der Philosophie etabliert haben.
Abschließend ein Wort des Dankes an den Verlag. Ich danke Herrn Daniel Seger und Frau Kathrin Heyng vom Narr Francke Attempto Verlag in Tübingen für die gute Betreuung und für die Geduld, mit der sie die Entstehung dieses Buches begleitet haben.
1 Philosophische Begriffsklärung
Der Begriff der Interkulturalität ist immer wieder verschiedenen Missverständnissen ausgesetzt und bedarf darum der Klärung. Wieso betreiben wir eine Philosophie der Interkulturalität und grenzen Interkulturalität deutlich sowohl gegen Multikulturaliät wie gegen Transkulturalität ab? Beschreibt der Begriff der Multikulturalität die Realität, in der wir leben, nicht sehr viel besser? Und ist der Begriff der Transkulturalität nicht der sehr viel modernere und in vielerlei Hinsicht auch der adäquatere, insofern er uns hilft, ein altes, essentialistisches Verständnis von Kultur zu überwinden? Ich werde auf den folgenden Seiten alle drei Konzeptionen kurz vorstellen und darlegen, weshalb aus philosophischer Sicht gerade die Konzeption der Interkulturalität geeignet ist, den Begriff der Kultur kritisch zu reflektieren und von essentialistischen Missverständnissen zu befreien. Die Kulturen können weder multikulturell nebeneinander stehen noch können sie sich zugunsten transkultureller Durchmischung auflösen. Und zwar, wie wir sehen werden, deshalb nicht, weil Kulturen konkrete, geschichtliche Lebenszusammenhänge darstellen, die sich laufend wandeln, erneuern und gegebenenfalls auch miteinander verflechten. Kulturen sind Lebens- und Interpretationszusammenhänge, die sich aus dem Umgang der Menschen mit der Natur, aus ihren Handlungen, ihren Selbstverständnissen und ganz besonders der Kommunikation der Menschen und Kulturen untereinander ständig neu speisen. Kulturen erschöpfen sich nicht in irgendwelchen Errungenschaften, weder in Sprache noch in Kunst, Religion, Literatur, Wissenschaft und Technik; vielmehr beschreiben sie jenen Zwischenbereich zwischen Mensch und Natur und zwischen Mensch und Mensch, der in jeder Handlung und jeder Kommunikation von neuem ausgehandelt wird. Kulturen lassen sich deshalb nicht in irgendwelche Bestandteile auflösen und miteinander mischen, und sie können ebenso wenig innerhalb eines gesellschaftlichen Lebenskontextes unberührt nebeneinander stehen. Sowohl das Konzept der Multikulturalität als auch dasjenige der Transkulturalität setzen letztlich ein substanzialistisches und statisches Kulturverständnis voraus. Die spannende Frage, wie verschiedene gelebte Wirklichkeiten zusammengehören, können sie nicht beantworten.
1.1 Multikulturalität
Als multikulturell werden Gesellschaften bezeichnet, in denen Menschen verschiedener kultureller Herkunft und Praxis zusammenleben, ohne dass es zu einer deutlichen Vermischung der kulturellen Traditionen kommt. Multikulturelle Gesellschaften zeichnen sich also durch das Nebeneinander verschiedener kultureller Traditionen auf engstem Raum aus.
Unsere Gesellschaften sind heute alle zu einem gewissen Grad multikulturell. Wo sie das nicht sind, sind sie entweder gewaltsam von der Außenwelt abgeriegelt (z.B. Nordkorea) oder mehr oder weniger unberührt (sog. ›Naturvölker‹). Ansonsten führt der Kontakt zwischen den Menschen überall auf der Welt zu einer teilweisen Durchmischung und zu einem Nebeneinander verschiedener kultureller Traditionen innerhalb einer durch ihre politische Organisation gegenüber anderen abgegrenzten Gesellschaft, üblicherweise also innerhalb eines Staates. Die Gewahrung dieser Realität hat zu vielfältigen Auseinandersetzungen über die politischen Konsequenzen geführt. Wie soll das Zusammenleben von Menschen verschiedener kultureller Herkunft in einer Gesellschaft politisch geregelt werden? In der politischen Praxis finden sich darauf sehr unterschiedliche Antworten, sie reichen von der Unterdrückung kultureller Minderheiten in totalitären Regimes bis zur Gleichstellung und Anerkennung in liberalen Demokratien. Letztere folgen wiederum unterschiedlichen Strategien: Während einige großen Wert auf eine möglichst weitgehende Integration ihrer fremdkulturellen Bürger in die Mehrheitsgesellschaft legen, folgen andere der Maxime, allen kulturellen Gemeinschaften innerhalb der Gesellschaft das Recht auf Bewahrung ihrer jeweiligen Identität zu gewähren. Die Gesellschaft soll das Nebeneinander verschiedener Kulturen respektieren und im Idealfall als einen besonderen Wert schätzen lernen: Immerhin erweitert die Vielfalt kultureller Traditionen das Erfahrungs- und Verhaltensreservoir einer Gesellschaft und ermöglicht es ihr dadurch unter Umständen, auf neue Herausforderungen flexibler zu reagieren, als monokulturelle Gesellschaften das tun könnten. Die zuletzt genannte Form, das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher kultureller Herkunft zu regeln, wird im engeren Sinn als multikulturell bezeichnet.
Die konkrete Ausgestaltung einer liberalen multikulturellen Gesellschaftsordnung erweist sich freilich als äußerst schwierig. Der erste Schritt besteht zweifellos darin, allen Bürgern eines Staates unabhängig von ihrer kulturellen Herkunft dieselben Rechte zu gewähren. »Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich«, so steht es nicht nur im deutschen Grundgesetz.1 Darüber hinaus aber müssen positive Rechte eingeräumt werden, etwa das Recht auf freie Lebensgestaltung und das Recht auf freie Religionsausübung. Auch muss geklärt werden, welche rechtliche Stellung kulturelle Gemeinschaften im Ganzen innerhalb einer Gesellschaft haben sollen. Die Rechte, die einer kulturellen Gemeinschaft eingeräumt werden, dürfen dabei nicht zu einer Einschränkung der Rechte anderer Gemeinschaften führen. Vor allem aber muss die gesamtstaatliche Ordnung gewährleistet sein. Das macht es immer wieder nötig, verschiedene Interessen gegeneinander abzuwägen. Noch komplexer wird die Situation, wenn man bedenkt, dass die rechtliche Gleichstellung verschiedener kultureller Gemeinschaften innerhalb einer Gesellschaft nicht notwendigerweise auch zur faktischen Gleichstellung in der gelebten Praxis führt. Tatsächlich wird sich eine völlige Gleichstellung in den allerseltensten Fällen erreichen lassen; in der Regel wird diejenige kulturelle Gemeinschaft, der die Mehrheit der Bürger angehört, sehr viel größeren Einfluss auf die Gestaltung des Lebensalltags einer Gesellschaft haben als kleinere kulturelle Gruppen. Beispielsweise können nicht für beliebig kleine Gemeinschaften flächendeckend Schulen gebaut werden, obwohl möglicherweise gerade der schulischen Erziehung für die Weitergabe von kulturellen Traditionen und damit für den Erhalt einzelner kultureller Gemeinschaften besondere Bedeutung zukommt. Auch auf individueller Ebene gewährleistet das bloße Recht auf kulturelle Selbstgestaltung noch nicht die reale Möglichkeit, dieses Recht auch wahrzunehmen. Dafür sind unter Umständen bestimmte finanzielle Mittel nötig; auch Bildung und generell der Zugang zu Informationen spielen eine Rolle. Viele Faktoren, die oft nicht in der Hand des Einzelnen liegen, entscheiden darüber, ob das Recht auf kulturelle Selbstgestaltung wahrgenommen werden kann. Martha NussbaumNussbaum, Martha sieht es deshalb als eine der wichtigsten Aufgaben des Allgemeinwesens an, Rahmenbedingungen zu schaffen, die es dem einzelnen Bürger möglich machen, sein Recht auf kulturelle Selbstbestimmung aktiv wahrzunehmen.2






