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Zunächst will ich bemerken, daß diejenigen, die sich kein Gewissen daraus machen, zu sagen, sie könnten auf das Zeugnis der Schrift hin einen handgreiflichen Widerspruch gegen die Vernunft glauben, eine jede Widersinnigkeit rechtfertigen; indem sie ein Licht dem anderen gegenüberstellen, machen sie unleugbar Gott zum Urheber aller Ungewißheit. Die bloße Annahme, daß die Vernunft das eine rechtfertigen könne und der Geist Gottes ein anderes, treibt uns in unvermeidlichen Skeptizismus; denn wir würden in beständiger Ungewißheit sein, wem wir folgen sollten, ja, wir könnten nichts sicher feststellen. Denn da der Beweis für die Göttlichkeit der Schrift von der Vernunft abhängig ist, wie sollten wir da, wenn auf irgendeine Weise das klare Licht der einen in Widerspruch treten sollte mit der anderen, von der Unfehlbarkeit der anderen überzeugt werden? Die Vernunft kann in diesem Punkte so gut irren wie in jedem anderen, und wir haben keine besondere Verheißung, daß es nicht so wäre, ebenso wie die Papisten sich nicht sicher sein können, daß ihre Sinne sie in jeder anderen Sache nicht ebensogut täuschen können, wie bei der Transsubstanziation. Zu behaupten, es trage sein Zeugnis in sich selbst, das hieße, auch den Koran oder die Puranas als Kanon anerkennen. Und auch dies wäre ein merkwürdiger Beweis, wollte man einem Heiden sagen: die Kirche hat’s entschieden; denn alle Gesellschaften werden ebensosehr für sich sprechen, wenn wir nur ihr Wort als sicheres Zeugnis annehmen. Außerdem würde er vielleicht fragen, woher die Kirche das Recht hat, in dieser Sache zu entscheiden? Und wenn ihm geantwortet werden würde: ‚von der Schrift‘, tausend gegen eins, er würde sich abwenden über diesen circulus: man soll glauben, daß die Schrift göttlich ist, weil die Kirche es so bestimmt, und die Kirche hat die entscheidende Autorität von der Schrift. Es wird bezweifelt, ob diese Fähigkeit der Kirche mit den zu diesem Zwecke angeführten Stellen bewiesen werden kann; aber die Kirche selbst (der betroffene Teil) behauptet es! Ei, sind denn nicht diese ewigen Rundläufe ganz ausgezeichnete Erfindungen, gedankenlose und schwachköpfige Leute schwindelig und verwirrt zu machen?
Aber wenn wir glauben, die Schrift ist göttlich, nicht auf ihre bloße Zusicherung hin, sondern auf ein wirkliches Zeugnis, das in der offenkundigen Gewissheit der darin enthaltenen Dinge besteht, – in unbezweifelten Tatsachen und nicht in Worten und Buchstaben, – was ist das anderes, als es vermöge der Vernunft beweisen? Sie trägt in sich selbst durchaus den Charakter der Göttlichkeit, das gestehe ich zu. Aber die Vernunft ist es, die ihn ausfindig macht, ihn prüft und mit ihren Prinzipien beweist und für hinreichend erklärt; und dieses erzeugt in uns regelrecht die Zustimmung des Glaubens oder die Überzeugung. Wenn nun alle einzelnen Punkte scharf gesondert werden, wenn nicht nur die Lehren Christi und seiner Apostel betrachtet werden, sondern auch ihr Leben, ihre Weissagungen, ihre Wunder und ihr Tod, so würde sicher alle diese Mühe vergeblich sein, wenn wir bei einem einzigen Berichte Vernunftwidriges zuließen. (80 f.)
Gegen alles das, was wir in diesem Abschnitt festgestellt haben, wird man sich mit großem Pomp auf die Autorität der Offenbarung berufen – ohne das Recht, die Vernunft zum Schweigen zu bringen und nichtig zu machen, – als ob alles insgesamt nutzlos und unstatthaft wäre. ... Ich sage, die Offenbarung wäre nicht ein zwingendes Motiv der Zustimmung, sondern ein Mittel zur Kenntnis. Wir dürfen nicht den Weg, auf dem wir zur Kenntnis eines Dinges kommen, mit den Gründen verwechseln, die wir haben, daran zu glauben. Es kann mich jemand in tausend Dingen unterrichten, die ich nie zuvor gehört habe, und über die ich nicht soviel denken würde, wenn mir nicht davon berichtet wäre; dennoch glaube ich nichts auf sein bloßes Wort hin ohne offenbare Gewißheit in den Dingen selbst. Nicht die bloße Autorität|39◄ ►40| dessen, der spricht, sondern die klare Vorstellung, die ich mir über das bilde, was er sagt, ist der Grund meiner Überzeugung. (83)
Mit seiner konsequent kritischen Haltung berief sich Toland auf das Neue Testament als die für den christlichen Glauben maßgebliche Quelle. Dieses stellt er gegen die Kirchengeschichte, welche aus sehr unterschiedlichen Interessen heraus die Mysterien insbesondere in der Gestalt von Zeremonien in die Kirche eingeführt und in ihr verbindlich gemacht habe. Schon beginnend im zweiten Jahrhundert wurde die Taufe angereichert durch Salbung und Kreuzeszeichen, Fragen und Antworten, Fasten und Waschungen, wobei man keine Scheu hatte, sich beim heidnischen Aberglauben zu bedienen:
In späteren Zeiten aber fand man kein Ende mit all den Kerzen, Geisterbeschwörungen, Anblasungen und vielen anderen Absonderlichkeiten jüdischen und heidnischen Musters. Aus dieser Quelle entsprang nicht nur der Glaube an Ahnungen, Vorzeichen, Erscheinungen, die Sitte des Beerdigens mit drei Schaufeln voll Erde und andere vulgäre christliche Riten, sondern auch Kerzen, Feste oder heilige Tage, Einsegnungen, Bilder, die Sitte in der Richtung nach Osten hin zu beten, Altäre, Musik, Kirchweihen, Sonderung der Plätze für sogenannte Laien und Kleriker. Denn in den Schriften der Apostel gibt es nichts dergleichen, wohl aber ist all das deutlich enthalten in den Büchern der Heiden und gehörte zu ihrem Gottesdienst.
. . . Aber es steht nichts von Natur so im Gegensatz wie Zeremonie und Christentum. Das letztere enthüllt die Religion klar und offen vor aller Welt, und die erstere liefert sie mystischen Darstellungen von rein willkürlicher Bedeutung aus. (135 – 137)
Es ist deutlich, dass für Toland die Berufung auf die Religion – verstanden als natürliche Religion – das kritische Potential zur Abweisung von Dogmatismus und Konfessionalismus der Kirchen darstellt. Religion überschreitet in diesem Gebrauch zwar nicht grundsätzlich die Grenzen des Christentums, sondern wird emphatisch mit ihm identifiziert, bezeichnet aber einen Zugang, der im Grundsatz auf Allgemeingültigkeit zielt und somit die Bindung an das Christentum immer auch transzendiert.

D. Lucci, Scripture in John Toland’s Criticism of Revealed Religion, in: ders., Scripture and Deism. The Biblical Criticism of the Eighteenth-Century British Deists, Bern 2008, 65 – 133
6. Voltaire
Mit Voltaire (1694 – 1778) erreicht die europäische Aufklärung ihren Höhepunkt. Trotz seiner rückhaltlosen Kritik an den abergläubischen Lehren der verfassten Religionen hält er doch unbedingt an der praktischen Bedeutung des Gottesglaubens fest.
Auch wenn Voltaire im Grunde keine neuen Argumente vorträgt, erreichen seine Kompilationen eine Schärfe und Aggressivität, die sich vor allem aus der vorrevolutionären Situation in Frankreich erklären lassen. Gleichwohl hat er durch seine Popularisierungen nicht unwesentlich zur weltweiten Ausbreitung der Ressentiments|40◄ ►41| gegenüber dem traditionellen Kirchenglauben beigetragen. Seine Kritik ist zugespitzt als Herrschaftskritik gegen die Kirchen, die er unverblümt für den Atheismus verantwortlich macht:
Wenn es Atheisten gibt, ist niemand anders daran schuld als die gedungenen Zwingherrn der Seelen, die uns gegen ihre Schurkereien aufbringen und manche schwachen Geister dazu zwingen, den Gott zu leugnen, den diese Ungeheuer schänden.46
Schon das kurze Zitat verdeutlich, dass sich Voltaire auch angesichts seiner radikalen Kritik nicht zu den Atheisten rechnet, sondern diese eher als ‚schwache Geister‘ betrachtet. Vielmehr bleibt er in der Linie des Deismus und bezeichnet sich selbst als einen Vertreter der ‚natürlichen Religion‘:
Zum Schluß stelle ich fest, daß jeder vernünftige, jeder anständige Mensch die christliche Sekte verabscheuen muß. Der große Name Theist, der nicht genügend verehrt wird, ist der einzige, den man annehmen sollte. Das einzige Evangelium, das man lesen sollte, ist das große Buch der Natur, das Gott mit seiner eigenen Hand schrieb und dem er sein Siegel aufdrückte. Die einzige Religion, zu der man sich bekennen sollte, ist die, Gott zu verehren und ein anständiger Mensch zu sein. Es ist dieser reinen und ewigen Religion ebenso unmöglich, Böses zu vollbringen, wie es dem christlichen Fanatismus unmöglich war, das Böse nicht zu tun. In dieser natürlichen Religion wird man nicht sagen können: Ich bin nicht gekommen, euch den Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Das aber ist das erste Glaubensbekenntnis, das man dem Juden in den Mund legt, den man Christus genannt hat.47
Zugleich kann Voltaire Jesus als einen Theisten bezeichnen, der allerdings zu einem Opfer seiner Umstände und seiner späteren Dogmatisierungen geworden ist:
Weder Jesus noch irgendeiner seiner Apostel hat je gesagt, er habe zwei Naturen und eine Person mit zwei Willen, seine Mutter sei die Mutter Gottes, sein Geist sei die dritte Person Gottes, und dieser Geist sei vom Vater und vom Sohne erzeugt. Wenn sich auch nur einer dieser Glaubenssätze in den vier Evangelien findet, so möge man ihn uns zeigen: Man streife alles von Jesu ab, was ihm fremd ist, was ihm zu verschiedenen Zeiten während der schändlichsten Glaubensstreitigkeiten und auf den sich voller Ingrimm wechselseitig mit Bannfluch belegenden Konzilien zugeschrieben worden ist; was bleibt dann von ihm übrig? Ein Vertreter von Gott, der die Tugend gepredigt hat, ein Feind der Pharisäer, ein Gerechter, ein Theist. Wir wagen zu behaupten, wir seien die einzigen, die seines Glaubens sind, der das Universum aller Zeit umfaßt und folglich der einzige wahrhafte Glaube ist. (485)
Es geht Voltaire darum, die Religion, die sich zu Recht so nennen darf und deshalb auch zu schützen ist, konsequent von dem Aberglauben zu trennen:
Die Religion, sagt ihr, sei für eine Unmenge Missetaten verantwortlich; sagt lieber, es sei der Aberglaube, der auf unserer trüben Erde herrscht: Er ist der schlimmste Feind der reinen Verehrung, die wir dem höchsten Wesen schuldig sind. Verabscheut dieses Monstrum, das immer |41◄ ►42| wieder den Schoß seiner Mutter zerrissen hat. Wer es bekämpft, ist ein Wohltäter des Menschengeschlechts. Wie eine Schlange erstickt es die Religion mit seinen Windungen. Man muß ihr den Kopf zertreten, ohne die Religion, die von ihr vergiftet und zerfleischt wird, zu verletzen.48
Es ist deutlich, dass das aufklärerische Pathos selbst einen eigenen Exklusivismus mit sich bringt, der in einer unauflöslichen Spannung zu der zugleich betonten Forderung der Toleranz zu stehen kommt. Am deutlichsten treten die Grenzen dieser Toleranz in Erscheinung, wenn sich Voltaire – durchaus in weitreichender Übereinstimmung insbesondere mit den Vertretern der französischen Enzyklopädie49 – über die Juden äußert und dabei ohne Zögern auf das zeitgenössische Arsenal des Antisemitismus zugreift:
Sie werden in ihnen nur ein unwissendes und barbarisches Volk treffen, das schon seit langer Zeit die schmutzigste Habsucht mit dem verabscheuungswürdigsten Aberglauben und dem unüberwindlichsten Haß gegenüber allen Völkern verbindet, die sie dulden und an denen sie sich bereichern.50
Wenn Voltaire ausdrücklich an Gott und der Religion in der Prägung des Deismus festhalten will, sieht er in ihnen ein Instrument zur Wahrung der Moral und der Ordnung, das vor allem durch die Annoncierung von Lohn und Strafe funktioniert. Das ist der Hintergrund für seine berühmte Äußerung: Wenn es Gott nicht gäbe, dann müsse er erfunden werden. Allerdings wäre es eine Verkürzung, wenn Gott nur als der wachende Richter zur Disziplinierung der Menschen angesehen wird. Es findet sich vielmehr bei Voltaire auch noch eine andere Seite, die gegen jede Unterstellung eines Zynismus bei der Verordnung von Religion gefeit ist. Gott spricht nämlich nach Voltaire auch heilsam das Trostbedürfnis des Menschen an, denn ohne Gott hätte die Welt keinen Halt und keine Hoffnung. Eine Welt ohne Gott ist wie ein unendliches Meer ohne Hafen – ein ähnliches Bild taucht dann später bei Nietzsche (→ § 4,2.6) wieder auf. Neben den gesellschaftspolitischen Gründen kennt Voltaire auch existenzielle Motive, an Gott festzuhalten. Diese sind ausreichend für eine entschlossene Verteidigung des Theismus. Alle anderen Gründe für den Glauben und die Religion weist er entschieden ab.
Bei dem Zweifel, in dem wir uns befinden, rate ich euch nicht mit Pascal, euch an das Sicherste zu halten. Es gibt nichts Sicheres im Ungewissen. ... Ich mache euch nicht den Vorschlag, ungereimtes Zeug zu glauben, um euch aus der Verlegenheit zu helfen. Ich sage nicht zu euch: Geht nach Mekka und küßt den schwarzen Stein, um euch zu erleuchten, nehmt einen Kuhschwanz in die Hand, legt ein Skapulier an, seid einfältig und fanatisch, um die Gunst des höchsten Wesens zu erlangen. Ich sage euch: Seid weiterhin tugendhaft und wohltätig, betrachtet weiterhin jeden Aberglauben mit Abscheu und Mitleid, aber verehrt mit mir den |42◄ ►43| Plan, der sich in der ganzen Natur offenbart, und dementsprechend den Urheber dieses Planes, die erste Ursache und den Endzweck des Ganzen; hofft mit mir, daß unser Wesen, welches auf das große ewige Wesen schließt, eben durch dieses große Wesen glücklich sein kann. Darin liegt kein Widerspruch. Ihr werdet mir nicht beweisen, daß dies unmöglich ist, und ich kann euch nicht mathematisch beweisen, daß es sich so verhält. In der Metaphysik schließen wir fast nur auf Wahrscheinlichkeiten; wir schwimmen alle in einem Meer, dessen Gestade wir nie gesehen haben. Wehe denen, die beim Schwimmen miteinander in Streit geraten! Jeder sehe zu, wie er an Land kommt; aber wer mir zuruft, Du schwimmst vergeblich, es gibt keinen Hafen!, der nimmt mir den Mut und raubt mir alle meine Kräfte.51

H. Baader (Hg.), Voltaire (WdF 276), Darmstadt 1980 G. Holmsten, Voltaire, Reinbek 2002
7. Jean-Jacques Rousseau
Der Schriftsteller und Philosoph Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778) weitet die aufklärerische Kritik an der überkommenen Religion auf die Kultur aus und setzt auf das Glück eines naturnahen Lebens.
Wenn Jean-Jacques Rousseau in die Reihe der Aufklärer gestellt wird, so ist er zugleich insofern deren Kritiker, als er die Aufklärung mit ihrer Grenze konfrontiert. Dem von der Aufklärung in die Vernunft und den Verstand gelegten Pathos entzieht Rousseau seine Letztgültigkeit, indem er auf die besondere untrügliche Kraft der Intuition setzt, die in einem engen Zusammenhang mit seinem Verständnis von der natürlichen Religion steht. Die Intuition liefert unverfälschte und somit höchst zuverlässige Belehrung und Orientierung. Sie ist nicht mit dem traditionellen Verständnis von Offenbarung zu verwechseln, wie es in den Kirchen den Menschen entgegengehalten wird, sondern steht diesem vielmehr diametral entgegen. Während die Offenbarung in den aus ihr abgeleiteten umstrittenen Dogmen Parteiungen und Unfrieden schafft, beruft sich die Zuverlässigkeit der Intuition auf einen den Menschen auszeichnenden Instinkt, der ihm – wenn er nicht unterdrückt oder durch die Fixierung an die traditionellen Bindungen der Offenbarung dominiert wird – alle nötige verlässliche Orientierung für das Leben bereitstellt. Nach Rousseau ist die Rede von Offenbarung schlicht überflüssig und steht in ihrer Streitsucht dem wahren Geist des Evangeliums entgegen, denn dieser setzt auf Überzeugung und nicht auf die Akzeptanz von Wundern oder Dogmen.
Rousseau bewegt sich vorbehaltlos auf der Linie der vernunftorientierten Aufklärung. Alles muss sich vor der Vernunft ausweisen, und was vor ihr nicht bestehen kann, darf auch keine Geltung beanspruchen. Doch diese durchaus anspruchsvolle Rolle der Vernunft macht sie nicht zugleich auch noch zur Quelle aller Orientierung und Einsicht. Vielmehr wird die Vernunft durch das Gefühl und die Intuition über-boten|43◄ ►44| – hier zeichnet sich eine Öffnung der Aufklärung hin zur Romantik ab. Das Verständnis der natürlichen Religion bekommt eine eigene Rolle zugewiesen, die sie für die Vernunft unentbehrlich macht. Rousseau legt in dem Erziehungsroman Emile sein eigenes Glaubensbekenntnis in den Mund eines ‚savoyischen Vikars‘, der leidenschaftlich eine intuitive moralische Religion des freien Menschen lehrt.
Ort dieser Intuition ist das Gewissen. Jeder Mensch soll seinem Gewissen als dem Erregungsort frommer Subjektivität folgen. Es wird gleichsam als Sprachrohr der unverstellten Natur verstanden. Nicht allein schon in der Vernunft, sondern im Grunde erst im Gewissen erweist sich die Gottebenbildlichkeit des Menschen. Im Gewissen zeigt sich wirkliche Lebenskraft, Tugend und Freiheit. Es gilt für Rousseau als der entscheidende Beleg dafür, dass der Mensch von Natur aus gut ist.
Gewissen! Gewissen! Göttlicher Instinkt! Unsterbliche und himmlische Stimme! Sicherer Führer eines unwissenden und beschränkten, aber verständigen und freien Wesens! Untrüglicher Richter über Gut und Böse, der den Menschen gottähnlich macht! Du gibst seiner Natur die Vollkommenheit und seinen Handlungen die Sittlichkeit! Ohne dich fühle ich nichts in mir, das mich über die Tiere erhebt, als das traurige Vorrecht, mich mit Hilfe eines ungeregelten Verstandes und einer grundsatzlosen Vernunft von Irrtum zu Irrtum zu verlieren.52
Die Angewiesenheit von Verstand und Vernunft wird unmissverständlich hervorgehoben. Es ist wichtig, im Auge zu behalten, dass die Intuition nicht einfach eine Inspektion der eigenen Subjektivität darstellt, sondern als Begegnung mit dem Wesen der Natur und somit der Wirklichkeit verstanden wird. Wichtig bleibt zu beachten, dass das Gewissen zwar in jedem Einzelnen spricht, aber es wird deshalb nicht zum Ausdruck individueller Subjektivität, sondern Rousseau misst dem Gewissen eine unhintergehbare Objektivität zu, der man sich im Grunde nicht entziehen könne. Das Gewissen wird nicht als eine hinzugewonnene Dimension der Individualität gefeiert, sondern als ein bildungsunabhängig gegebener Zugang zum Wahren und Guten. Dieser Zugang wird nicht durch die Erziehung erschlossen, sondern ist von Natur aus in jedem Menschen gegeben. Der Mensch ist von Natur aus gut und solange er sich der Führung seines Gefühls überlässt, vermag er auch gut zu bleiben.
Von hier aus ergibt sich Rousseaus Konzept einer ‚natürlichen Religion‘, die an die Stelle der tradierten Offenbarungsreligion treten soll und all ihre Anstößigkeiten überwindet.
Du findest in meinen Darlegungen nur die natürliche Religion, und es ist seltsam, daß auch noch eine andere notwendig sein soll. Woran soll ich diese Notwendigkeit erkennen? Wessen kann ich schuldig sein, wenn ich Gott nach der Vernunft, die er meinem Geist gibt, und nach den Gefühlen, die er meinem Herzen einflößte, diene? Welche Reinheit der Moral, welches Dogma, das dem Menschen nützt und seinen Schöpfer ehrt, kann ich aus einer positiven Glaubenslehre ziehen, die ich nicht auch ohne sie aus dem richtigen Gebrauch meiner Fähigkeiten ziehen könnte? Zeig mir, was man zur Ehre Gottes, zum Wohl der Gesellschaft und zu meinem eigenen Vorteil den Pflichten des natürlichen Gesetzes hinzufügen kann und welche Tugend du aus einem neuen Kult ziehen kannst, der nicht eine Konsequenz meines Kultes wä-re.|44◄ ►45| Die höchsten Vorstellungen von der Gottheit gibt uns die Vernunft ein. Betrachte das Schauspiel der Natur, hör auf die innere Stimme. Hat Gott nicht alles vor unseren Augen, vor unserem Gewissen und unserem Urteil ausgebreitet? Was können uns die Menschen mehr sagen? Ihre Offenbarungen erniedrigen Gott nur, da sie ihm menschliche Leidenschaften beilegen, statt unsere Begriffe über das große Wesen aufzuklären. Ich sehe, wie die einzelnen Dogmen sie verwirren; statt sie zu erhöhen, ziehen sie sie herab; den unbegreiflichen Geheimnissen, die die Gottheit umgeben, fügen sie sinnlose Widersprüche hinzu und machen den Menschen stolz, unduldsam und grausam; statt den Frieden auf der Erde zu stiften, überziehen sie sie mit Feuer und mit Schwert. Ich frage mich, wozu das dienen soll, und weiß keine Antwort. Ich sehe nur die Verbrechen der Menschen und das Elend des menschlichen Geschlechts.
Man sagt mir, daß eine Offenbarung notwendig sei, um die Menschen zu lehren, wie wir Gott dienen sollen. Als Beweis dafür führt man die Verschiedenartigkeiten der seltsamen Kulte an, die sie eingeführt haben, und übersieht, daß alle Verschiedenartigkeit aus der Phantasie der Offenbarungen kommt. Seit die Völker auf den Gedanken kamen, Gott sprechen zu lassen, hat jeder ihn auf seine Weise reden lassen, was er hören wollte. Wenn man nur darauf gehört hätte, was Gott dem Menschen ins Herz sagt, so hätte es immer nur eine einzige Religion gegeben. (312)
Suchen wir also aufrichtig die Wahrheit! Geben wir nichts auf das Vorrecht der Geburt, auf die Autorität der Kirchenväter und der Pfarrer, sondern unterziehen wir alles, was sie uns seit der Kindheit gelehrt haben, der Prüfung des Gewissens und der Vernunft. Und wenn sie schreien: Unterwirf deine Vernunft! Dasselbe könnte mir jeder Betrüger sagen. Wenn ich meine Vernunft unterwerfen soll, brauche ich vernünftige Gründe dazu. (314)
Alles, was von der Religion zu erwarten ist, bietet die natürliche Religion. Sie bedarf keiner Ergänzung. Die reine Moral, um die es in der natürlichen Religion geht, ehrt sowohl Gott als auch den Menschen. Zwar gesteht Rousseau zu, dass die überkommene Theologie in ihrem Umgang mit der Offenbarung auch manchen tiefsinnigen und sogar nützlichen Gedanken verbunden haben mag, aber jede Verpflichtung auf eine dieser Lehren ist grundsätzlich abzulehnen. Der alleinige Maßstab zur Beurteilung, der von allen Menschen bereits mitgebracht wird, ist die natürliche Religion.
Neben dieser persönlichen Intuitionsreligion kennt Rousseau in Übereinstimmung mit den bisher besprochenen Vertretern der Aufklärung auch noch eine ‚bürgerliche Religion‘ bzw. ‚zivile Religion‘, die für das gesellschaftliche Zusammenleben von fundamentaler Bedeutung ist. Die Unterscheidung von öffentlicher und privater Religion wird von ihm ausdrücklich geteilt.
Für den Staat ist es allerdings wichtig, daß jeder Bürger eine Religion habe, die ihm vorschreibe, seine Pflichten zu lieben. Aber die Dogmen dieser Religion sind dagegen für den Staat wie für seine Mitglieder nur insofern von Bedeutung, als sie die Moral und die Pflichten betreffen, die der Gläubige anderen gegenüber zu erfüllen hat. Darüber hinaus kann jeder glauben, was er will, ohne daß der Souverän es zu wissen braucht. Da er für die andere Welt nicht zuständig ist, geht ihn das, was das Schicksal seiner Untertanen im Jenseits sein wird, nichts an, wenn sie nur in dieser Welt gute Bürger sind.
Es gibt also ein rein bürgerliches Glaubensbekenntnis. Seine Artikel müssen vom Souverän erlassen werden. Sie dürfen keine Dogmen sein, sondern Gemeinschaftsgefühle, ohne die es |45◄ ►46| unmöglich ist, weder guter Staatsbürger noch treuer Untertan zu sein. Zwar kann niemand gezwungen werden, daran zu glauben, aber der Souverän kann jeden aus dem Staat verbannen, der nicht daran glaubt. Er kann ihn nicht als Ungläubigen verbannen, sondern als Feind der Gesellschaft, der unfähig ist, die Gesetze und die Gerechtigkeit aufrichtig zu lieben und notfalls sein Leben für seine Pflicht zu opfern. Wer diese Glaubenssätze anerkannt hat und sich dennoch benimmt, als glaube er nicht daran, der soll mit dem Tod bestraft werden. Er hat das größte aller Verbrechen begangen: er hat vor dem Gesetz einen Meineid geleistet.53
Es wird deutlich, dass nach wie vor die Frage der inneren Sicherheit ein zentrales Problem für den modernen Staat darstellt. Auch wenn keine spezifische Staatstheologie vorgetragen wird, so wird dennoch umgekehrt die religiöse Verankerung des Staats nach wie vor als unverzichtbar angesehen. Die nähere Betrachtung der Glaubenssätze der bürgerlichen Religion zeigt deutlich die Spuren der Kriterien, die wir bereits bei Herbert von Cherbury als wegweisend registriert haben (→ § 1,1.3). Auffällig ist lediglich, dass nun die ausdrückliche Heiligkeit des Gesellschaftsvertrages herausgestellt wird, was nochmals den hohen Rang der als notwendig erachten Staatsraison unterstreicht:
Die Glaubenssätze der bürgerlichen Religion müssen einfach sein, gering an Zahl, klar im Ausdruck, ohne Erklärungen und Auslegungen. Diese positiven Sätze sind: Die Existenz einer mächtigen, vernünftigen, wohltätigen, vorausschauenden und vorsorglichen Gottheit; das künftige Leben; die Belohnung der Gerechten, die Bestrafung der Bösen; die Heiligkeit des Gesellschaftsvertrags und der Gesetze. Es gibt nur einen negativen Satz: Unduldsamkeit. Sie gehört den Kulten an, die wir ausgeschlossen haben. (207)