Homer und Vergil im Vergleich

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Zwei weitere Kapitel, Gell. 11, 4 und 17, 10, vergleichen Imitationen griechischer loci (Euripides und Pindar) durch lateinische Dichter (Ennius und Vergil). – Zunächst zu Gell. 11, 4:25Gellius11, 4 Gellius vergleicht hier einen Abschnitt aus der Hekuba des Euripides (Eur. Hek. 293–295) mit seiner Nachbildung durch Ennius (Enn. trag. 73 TrRF = I 165–167 SRPF3): Beide Stellen drücken den Gedanken aus, dass ein hochstehender Mann unabhängig von der Qualität seiner Rede höhere Glaubwürdigkeit besitzt als ein niedrigstehender. An den Versen des Euripides26 lobt Gellius – wieder wird die Synkrisis ohne erzählerische Rahmung präsentiert – die Wortwahl, den Gedanken und die Kürze.27 Die Absichten des Ennius bezeichnet Gellius mit den Termini vertere und aemulari28 und weist anschließend ausdrücklich darauf hin, dass Ennius für seine Übertragung dieselbe Anzahl von Versen benötigt habe.29 Einen qualitativen Unterschied stellt Gellius abschließend in 11, 4, 4 fest, indem er befindet, dass Ennius den Gedanken des Euripides nicht exakt wiedergegeben habe (satisfacere sententiae non videntur), wenn er bei der Übersetzung der Wendung ἔκ τ’ ἀδοξούντων ἰὼν | κἀκ τῶν δοκούντων (scil. λόγος; Eur. Hek. 294b–295a) von ignobiles und opulenti spricht. Ennius lässt also den für die sententia des Euripides notwendigen Aspekt des Ansehens, der nicht unbedingt vom äußerlichen Status bzw. vom Reichtum abhängt, zurücktreten.30 Damit schwächt er aber die Stringenz des Arguments: Euripides koppelt das Ansehen – d.h. die positive Wahrnehmung des Sprechers durch die Zuhörer, die auf der psychologischen Kategorie des ἦθος gründet – mit der rednerischen Überzeugungskraft, Ennius den Stand (ignobiles) bzw. den äußerlichen Wohlstand (opulenti) des Redners mit der Wirkung seiner Rede. Diese Einschätzung hebt die Gültigkeit des allgemeinen Urteils, Ennius habe sein Vorbild „gut“ nachgeahmt (11, 4, 3: Hos versus Q. Ennius … non sane incommode aemulatus est; 11, 4, 4: Bene, sicuti dixi, Ennius), nicht grundsätzlich auf, schränkt es aber in einem Teilaspekt – eben der gedanklichen Stringenz – ein.
Auch in Gell. 17, 10Gellius17, 10 werden zwei Dichterstellen miteinander verglichen; diesmal geht es um Vergil und Pindar, die beide eine eingehende Schilderung des feuerspeienden Ätna in ihre Gedichte aufgenommen haben.31 Vergils Verhältnis zu Pindar wird in 17, 10, 8 als „wetteifernde Nachahmung“ (cum … aemulari vellet) des griechischen „Klassikers“ (veteris poetae) in Betreff der „Gedanken und Worte“ (sententias et verba) gekennzeichnet. Das Urteil fällt negativ für Vergil aus: Der Lateiner hätte, so wird einleitend in 17, 10, 8 festgestellt, eine Stileigentümlichkeit Pindars, nämlich den „überladenen Stil“ (qui nimis opima pinguique esse facundia existimatus est), so übertrieben, dass er im Gegenzug in das vitium des Schwulstes verfallen sei (ut Pindaro quoque ipso … insolentior hoc quidem in loco tumidiorque sit). Das Urteil wird dem Favorinus in den Mund gelegt, einer der Lieblingsgestalten bei Gellius.32 Ein narrativer Rahmen wird immerhin angedeutet mit der Angabe, Favorinus hätte sich vor der sommerlichen Hitze in die Villa eines Freundes bei Antium zurückgezogen, wohin auch Gellius und andere nicht näher bezeichnete Zuhörer gekommen seien. Damit ist die Szenerie aber auch schon umrissen; die Ausführungen über Pindar und Vergil sind ganz als Vortrag des Favorinus gehalten und werden durch keine Zwischenbemerkungen der Zuhörer unterbrochen.
Das negative Urteil über Vergils Ätnabeschreibung wird durch zwei biographische Anekdoten eingeleitet, die die Gültigkeit des negativen Urteils über den Dichter erheblich relativieren. Da ist zunächst der Vergleich mit der Bärengeburt, mit dem Vergil sein poetisches Produktionsprinzip als einen rigorosen Selektions- und Bearbeitungsvorgang der ursprünglichen Hervorbringung charakterisiert.33 Die Produkte des ingenium verlangen nach tractatio und cultus, d.h. ars, bevor sie ihre endgültige Gestalt erlangen – Vergil wird folgerichtig als vir[…] iudicii subtilissimi bezeichnet.34 Dieses Produktionsprinzip lasse sich besonders gut am Beispiel der Aeneis studieren, die – wie sich auch aus der angeblichen testamentarischen Verfügung Vergils, dass das Epos nach seinem Tod verbrannt werden soll, ergebe – die letzte Bearbeitungsstufe nicht erreicht habe und daher in der überlieferten Form sowohl ausgearbeitete als auch nur vorläufig abgeschlossene Partien enthalte.35 Die Synkrisis der beiden Ätnabeschreibungen hat demnach eine argumentative Funktion und soll ein Beispiel für die Stellen liefern, an die Vergil nicht mehr letzte Hand36 anlegen konnte.
Fragt man nach den konkreten Beurteilungskriterien, auf die sich Favorinus in 17, 10, 13–19 stützt, so lassen sich die für Pindar in Vorschlag gebrachten positiven ästhetischen Kriterien folgendermaßen zusammenfassen:
(1.) Realismus (1: … Pindarus veritati magis obsecutus id dixit, quod res erat quodque istic usu veniebat quodque oculis videbatur …)
(2.) Differenzierte Darstellung von Einzelaspekten (12: Vergilius … utrumque tempus nulla discretione facta confundit)
(3.) Transparenz i.S.v. Verständlichkeit (13: Atque ille Graecus quidem … luculente dixit)
Dem stehen auf der Seite Vergils eine Reihe von Negativkriterien gegenüber, die sich z.T. als korrespondierende vitia den o.g. Positivkriterien zuordnen lassen:
Einsatz von Klangmitteln auf Kosten des Inhalts (12: Vergilius autem, dum in strepitu sonituque verborum conquirendo laborat …)
Unklarheit in der Verbindung von Vorstellungsbereichen ↔ Positivkriterium (3) (14: at hic noster ‘atram nubem turbine piceo et favilla fumantem’ ῥόον καπνοῦ αἴθωνα interpretari volens crasse et inmodice congessit)
Verstöße gegen die eigentliche Wortbedeutung bei der Übertragung (15: ‘globos’ quoque ‘flammarum’, quod ille κρουνούς dixerat, duriter et ἀκύρως transtulit)
Mangel an Anschaulichkeit bzw. konkreter Vorstellung ↔ Positivkriterium (2) (16: Item quod ait ‘sidera lambit’, vacanter hoc etiam … accumulavit et inaniter; 17–18: Neque non id quoque inenarrabile esse ait et propemodum insensibile, quod ‘nubem atram fumare’ dixit ‘turbine piceo et favilla candente.’ …)
Unglaubwürdigkeit bzw. „Monstrosität“ ↔ Positivkriterium (1) (19: … hoc … nec a Pindaro scriptum nec umquam fando auditum et omnium, quae monstra dicuntur, monstruosissimum est.)
Entscheidend für die Beurteilung ist wieder, dass Favorinus vom ästhetischen status quo der Vorbildstelle, d.h. vom besonderen poetischen Stil Pindars (vgl. 17, 10, 8: … qui nimis opima pinguique esse facundia existimatus est), ausgeht, und Vergils Nachbildung explizit an diesem Standard misst. Der „reiche bzw. volle“ – und das heißt hier: der erhabene – Stil schlägt bei nicht kunstgemäßer Handhabung um in „Schwulst“ (ebd.: insolentior … tumidiorque sit). Deutlich ist, dass Favorinus hier, wenn er einleitend auf die sententiae und verba als Gegenstände des Vergleichs hinweist, auf die rhetorische Lehre von den Redestilen hinauswill: Insbesondere der Gesichtspunkt der Unglaubwürdigkeit in der διάνοια bzw. der sententia wurde von den Rhetorikern als Kennzeichen des ψυχρόν ~ frigidum angesehen, aber auch Auffälligkeiten in der Klangwirkung, wie sie Favorinus an Vergil beanstandet bzw. registriert, fielen in diesen Bereich.37 Die Kritik in 17, 10 ist also auf einen anerkannten stilistischen Standard, nämlich den hohen Stil Pindars, bezogen, was auch heißt, dass sie sich nicht primär auf die sachlichen Unglaubwürdigkeiten und Unstimmigkeiten in der vergilischen Ätnabeschreibung richtet und sich damit auf traditionelle Realienkritik reduzieren ließe. Stattdessen wendet sie sich gegen eine für jeden Leser erkennbare, im Ergebnis misslungene aemulatio, die den genannten Standard zwar zu erreichen bzw. zu übertreffen versucht, dies mangels letzter künstlerischer Sorgfalt aber nicht umzusetzen vermag.
Die beiden letzten synkritischen Kapitel der Noctes Atticae, Gell. 19, 9 und 19, 11, unterscheiden sich von den bislang behandelten in zweifacher, nämlich thematischer und methodischer, Hinsicht: Sie sind durch das gemeinsame Thema der Nachbildung bzw. Übersetzung griechischer Kleindichtung (Lyrik und Elegie) aufeinander bezogen und verzichten beide auf eine eingehende ästhetische Würdigung von Modell und Nachahmung. Stärker als bisher berührt gerade das erste der beiden Kapitel (Gell. 19, 9)Gellius19, 9 grundsätzliche Fragen des Kulturvergleichs zwischen Griechenland und Rom und des literaturhistorischen Stellenwerts der fraglichen Gedichte. Gellius verhandelt diese Themen, indem er für seine Gegenüberstellung exemplarischer Liebesgedichte eine komplexe Szenerie entwirft.
Anlass ist die Geburtstagseinladung eines reichen, anonymen Jünglings (adulescens) aus dem Ritterstand, der, aus Asien stammend, sich allgemein durch seine Begabung, besonders aber durch seine Liebe zur Musik (res musica) auszeichnet.38 Er lädt Freunde und Lehrer zu einem Symposium bzw. einer cena auf sein Landgut „vor der Stadt“ – gemeint ist Athen – ein (19, 9, 1), unter ihnen Antonius Julianus, der an dieser Stelle als Rhetor – d.h. öffentlicher (Rede-)Lehrer –, beredter Kenner der Altertümer und der älteren römischen Literatur, vor allem aber als Spanier charakterisiert wird: … Antonius Iulianus rhetor, docendis publice iuvenibus magister, Hispano ore florentisque homo facundiae et rerum litterarumque veterum peritus (19, 9, 2).39 Auf Bitten des Julianus lässt der Gastgeber seinen gemischten Chor, den er für musikalische Darbietungen unterhält, Gedichte von Anakreon, Sappho sowie von jüngeren, nicht näher benannten Elegikern vortragen.40 Zitiert wird ein 15 Verse umfassendes Gedicht bzw. Gedichtfragment in katalektischen jambischen Dimetern, das Gellius dem Anakreon zuschreibt.41
In 19, 9, 7–9 erfolgt dann im Anschluss an diese griechischen Darbietungen die direkte Auseinandersetzung zwischen einer Gruppe von literaturkundigen Griechen – ihre Kompetenz auch auf dem Gebiet der lateinischen Literatur wird eigens betont (19, 9, 7: … et nostras quoque litteras haut incuriose docti …) – und Antonius Julianus. Ihr Vorwurf richtet sich gegen zwei Eigenschaften des Julianus, nämlich seine für die Griechen wenig respektable Herkunft aus der spanischen Provinz (… tamquam prorsus barbarum et agrestem, qui ortus terra Hispania foret …) und seine Tätigkeit als Lehrer der Rhetorik in der lateinischen Sprache, die für die Feinheiten griechischer (Liebes-)Dichtung ungeeignet sei (… clamatorque tantum et facundia rabida iurgiosaque esset eiusque linguae exercitationes doceret, quae nullas voluptates nullamque mulcedinem Veneris atque Musae haberet). Immerhin schränken sie dieses Urteil wieder ein, indem sie auf „einige wenige Stücke“ (pauca) der Neoteriker Catull und Calvus verweisen, die ihren Vorstellungen von guter Dichtung entsprechen. An den Zeitgenossen der beiden Dichter lasse sich aber der grundsätzliche Mangel an Anmut in der lateinischen Sprache klar erkennen.42
Antonius Julianus entgegnet, dass seine Gegner an Liederlichkeit sogar den Alkinoos43 überträfen, wobei er charakteristischerweise – und ganz als Redelehrer, dem Catos Devise vom vir bonus dicendi peritus geläufig ist – Lebensführung und Poesie miteinander in Verbindung bringt: cedere equidem … vobis debui, ut in tali asotia atque nequitia Alcinoum vinceretis et sicut in voluptatibus cultus atque victus, ita in cantilenarum quoque mollitiis anteiretis (19, 9, 8). Mit dem Hinweis auf Alkinoos verfolgt Julianus sicherlich wie auch mit der folgenden sprechenden Geste den Zweck, seine Kompetenz auf dem Feld griechischer litterae zu beweisen. Er setzt den Angriff gegen seine Person mit einem Angriff gegen die lateinische Sprache (und Literatur) gleich (… nos, id est nomen Latinum …) und bedeckt sein Haupt mit dem pallium, dem traditionellen Gewand der Philhellenisten unter den Römern (19, 9, 9).44 Mit dieser Geste hatte – Julianus weist eigens darauf hin – der verschämte Sokrates in Platons Phaidros auf die Aufforderung seines Gesprächspartners reagiert, nach einer eben rezitierten Lysiasrede über die Liebe einen eigenen λόγος ἐρωτικός zu halten (Phaidr. 237a). Indem er gestisch auf die Scham des Sokrates über den anzüglichen Gegenstand verweist, spielt er seine Position als sittenreiner Römer gegen den von den Griechen geäußerten Vorwurf der Unbildung mit den Mitteln der griechischen Bildung selbst aus und erreicht auf diese Weise zweierlei: Einerseits beweist er, dass sie es bei ihm nicht mit einem ungebildeten „Barbaren und Bauern“ (19, 9, 7) zu tun haben, andererseits verwahrt er sich mit dem Hinweis auf die eigene Scham gegen den Vorwurf der asotia und nequitia (19, 9, 8). Den letzten Trumpf zieht er schließlich, wenn er in 19, 9, 9 betont, dass anmutige Liebesdichtung in Rom schon vor den genannten – zumeist neoterischen – Dichtern entstanden sei: … et audite ac discite nostros quoque antiquiores ante eos, quos nominastis, poetas amasios ac venerios fuisse.45 Die zeitliche Differenz zwischen Anakreon, Sappho und den Elegien der „jüngeren“ griechischen Dichter in 19, 9, 4 hatte für die Bewertung ihrer Gedichte keine Rolle gespielt.46
Gell. 19, 9 ist keine Synkrisis im strengen Sinne eines Vergleichs von Modell und Nachahmung. Antonius Julianus hätte natürlich auch für einen solchen Vergleich Material in der lateinischen erotischen Literatur finden können – griechische Modelle sind für mindestens zwei der in 19, 9, 11–14 zitierten Gedichte belegt.47 Doch fügt es sich besser in die Verteidigungsstrategie des Julianus, diesen Aspekt der Nachahmung bei den lateinischen Liebesdichtern auszuklammern, verfolgt er in 19, 9 doch offensichtlich die Absicht, die autonomen Qualitäten der lateinischen Lyrik bzw. Elegie gegen die Vorwürfe der Griechen zu betonen.48 Es passt als Ergänzung daher gut, dass Gellius zwei Kapitel später in 19, 11Gellius19, 11 zwei Gedichte desselben Themenkreises, nämlich wieder Liebesgedichte, gegeneinanderhält, diesmal aber mit dem erklärten Hinweis, dass es sich bei dem lateinischen Gedicht (= 345–346 FPL4) um eine Übersetzung bzw. um eine freie poetische Nachbildung handelt: Hoc δίστιχον amicus meus, οὐκ ἄμουσος adulescens, in plures versiculos licentius liberiusque vertit (19, 11, 3).49
Der enge Bezug von Gell. 19, 9 und 19, 11 ergibt sich auch daraus, dass das pseudoplatonische Distichon von 19, 11, 2 nicht nur allgemein der erotischen Poesie zuzurechnen ist, sondern sogar exakt dasselbe Thema wie das letzte in Gell. 19, 9 von Antonius Julianus vorgetragene lateinische Beispiel behandelt. Das Distichon des Catulus, in dem geschildert wird, dass der animus des Liebenden im Geliebten Asyl und Zuflucht findet, lässt sich nämlich als gedankliche Variation des in 19, 11, 2 zitierten pseudoplatonischen Doppelzeilers (= Anth. Pal. 5, 78) – der Kuss als Moment, in dem die ψυχή sich auf den Lippen des Liebenden einfindet, um in den Geliebten überzugehen; vgl. auch die formale Entsprechung in der Metrik – auffassen.50 Damit ergänzt Gellius den Nachweis des Julianus, dass es schon in ältester Zeit eine der griechischen gleichwertige lateinische erotische Poesie gegeben habe, indem er ein Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit bringt: Der anonyme Dichter der 17 jambischen Dimeter wird als amicus des Gellius eingeführt (s.o.).51 Die Ausführungen von 19, 9 werden in 19, 11 aber in doppelter Hinsicht erweitert, indem nämlich neben der zeitlichen Dimension auch der Aspekt der imitatio angesprochen wird, die in 19, 11 als vollwertiges künstlerisches Produktionsprinzip an die Seite der – vermeintlich – „originalen“ römischen Kleindichtung von 19, 9, 11–14 tritt. Ein detaillierter Vergleich von Vorbild und Nachahmung findet in 19, 11 freilich nicht statt.52
Fasst man abschließend die Merkmale der synkritischen Kapitel der Noctes Atticae zusammen, so ergibt sich eine erhebliche formale und inhaltliche Varianz:
Wie bereits einleitend erwähnt, finden sich sowohl einfache Stellenvergleiche (10, 3; 19, 9; 19, 11) als auch Vergleiche von Modell und Nachahmung, bei denen der Nachahmungsaspekt auch entsprechend gekennzeichnet ist (2, 23; 2, 27; 9, 9; 11, 4; 13, 27; 17, 10).
Hinsichtlich der gewählten Textsorten kommen sowohl historische bzw. rhetorische (2, 27; 10, 3) als auch poetische Texte (2, 23; 9, 9; 11, 4; 13, 27; 17, 10; 19, 9; 19, 11) als Vergleichsgegenstände in Frage.
Nur in Gell. 11, 4 werden ausschließlich lateinische Texte miteinander verglichen; regulär ist der Vergleich von griechischen und lateinischen Stellen.
Die Anzahl der verglichenen Autoren schwankt zwischen zwei (2, 23; 2, 27; 11, 4; 17, 10; 19, 11), drei (9, 9; 10, 3; 13, 27) und vier (19, 9).
Hinsichtlich ihres Umfangs sind die Dichterstellen in versus und loci zu klassifizieren, wobei einzelne Stellen auch repräsentativ für das jeweilige Gesamtwerk aufgefasst werden können (2, 23).
In der Regel wird ein abschließendes Urteil über die verglichenen Stellen gefällt, das meist auch detailliert ästhetisch begründet wird (vgl. aber 19, 9 und 10).
Der Vergleich kann entweder mit (z.B. 13, 27) oder ohne (z.B. 2, 23) Berücksichtigung der literaturgeschichtlichen Stellung der Autoren erfolgen.
Ein narrativer Rahmen, der den Vergleich auch soziokulturell einbettet und gelegentlich auf allgemeinere Fragestellungen – z.B. das Thema des Kulturvergleichs Griechenland/Rom – verweist, kann ausgeführt sein (z.B. 2, 23; 19, 9) oder nicht (z.B. 11, 4).
Trotz dieser Unterschiede wird man den textvergleichenden Einzelkapiteln der Noctes Atticae ihren insgesamt einheitlichen Charakter nicht absprechen. Wieder ist hier der eingangs erwähnte exemplarische Charakter der Einzelkapitel zu berücksichtigen: Gellius geht es weniger darum, einen einheitlichen Gattungstypus zu verwirklichen, als vielmehr die Vielfalt der in Frage kommenden Themen und Methoden bzw. ästhetischen Kriterien beispielhaft vorzuführen. Es lässt sich folglich durchaus mit Berechtigung von der Synkrisis als eigenständiger literaturkritischer Kleinform sprechen, auf die Gellius dann auch zurückgreift, wenn er in zwei Kapiteln seines Sammelwerks Vergleiche zwischen Vergil und dessen Vorbild Homer anstellt.
4.2 Parthenios und Homer als polare Bezugsgrößen für die Bewertung Vergils (Gell. 13, 27)
Zwei Abschnitte in den Noctes Atticae thematisieren das Verhältnis zwischen Vergil und seinem Vorbild Homer. In einem, dem kurzen 27. Kapitel des 13. Buches, behandelt Gellius unter dem Titulus De versibus, quos Vergilius sectatus videtur, Homeri ac Partheni zwei nur entfernt vergleichbare Vergilstellen nach verschiedenen griechischen Modellen.1 Bei beiden Stellenpaaren sind jeweils zwei bzw. drei Götternamen, z.T. mit Attribut erweitert, in einem Vers zusammengefasst:
Partheni poetae versus est:Partheniosfrg. 36 ‘Γλαύκῳ καὶ Νηρεῖ καὶ εἰναλίῳ Μελικέρτῃ.’ <frg. 36 Lightfoot = SH 647> Eum versum Vergilius aemulatus est itaque fecit duobus vocabulis venuste inmutatis parem: ‘Glauco et Panopeae et Inoo Melicertae.’Vergilgeorg. 1, 437 <georg. 1, 437> Sed illi Homerico non sane re parem neque similem fecit; esse enim videtur Homeri simplicior et sincerior, Vergilii autem νεωτερικώτερος et quodam quasi ferumine inmisso fucatior: ‘Ταῦρον δ’ Ἀλφειῷ, ταῦρον δὲ Ποσειδάωνι.HomerIl. 11, 728’ <Il. 11, 728> ‘Taurum Neptuno, taurum tibi, pulcher Apollo.’VergilAen. 3, 119 <Aen. 3, 119>
Wenn Gellius gerade Verse von Parthenios und Homer aus dem Kanon möglicher vergilischer Referenztexte2 wählt, so geschieht dies nicht willkürlich, sondern um des exemplarischen Charakters der präsentierten Beispiele willen, der zunächst einmal durch die zeitlichen Verhältnisse gegeben ist: Homer gilt ja als der erste Dichter der Griechen, Parthenios – der angebliche Lehrer Vergils3 – gehört in die unmittelbare Zeitgenossenschaft des Römers. Gellius wählt also die beiden zeitlich am weitesten voneinander entfernten Modelle, auf die Vergil zurückgreifen konnte.
Dass es sich aber nicht nur in zeitlicher, sondern auch in ästhetischer Hinsicht um „Extremfiguren“ handelt, ergibt sich aus einigen Hinweisen auf literaturkritische Diskussionen, wie sie wenige Jahrzehnte vor Abfassung der Noctes Atticae geführt wurden.4 Parthenios erlebte nämlich in der Zeit Hadrians mit ihrer Vorliebe für neoterische Dichtung eine Renaissance.5 Die poetae novelli des 2. bzw. 3. Jhdt. n. Chr.6 optierten ganz nach den Prinzipien der Neoteriker für den feinen, „modernen“ Parthenios und damit gegen großepische Dichtung, wie sie in Gestalt der kyklischen Ependichter seit dem Hellenismus zum literaturkritischen Klischee geworden war. Homer selbst wird dabei zwar nicht kritisiert, homerisierende Großdichtung aber durchaus. Greifbar wird diese Haltung etwa in einem Epigramm der Anthologia Palatina, das dem Dichter Pollianos7 zugeschrieben wird:Anthologia Palatina11, 130
Τοὺς κυκλίους τούτους τοὺς ‘αὐτὰρ ἔπειτα’ λέγοντας | μισῶ, λωποδύτας ἀλλοτρίων ἐπέων. | καὶ διὰ τοῦτ’ ἐλέγοις προσέχω πλέον· οὐδὲν ἔχω γὰρ | Παρθενίου κλέπτειν ἢ πάλι Καλλιμάχου. | ‘θηρὶ μὲν οὐατόεντι’ γενοίμην, εἴ ποτε γράψω, | εἴκελος, ‘ἐκ ποταμῶν χλωρὰ χελιδόνια.’ | οἱ δ’ οὕτως τὸν Ὅμηρον ἀναιδῶς λωποδυτοῦσιν, | ὥστε γράφειν ἤδη ‘μῆνιν ἄειδε, θεά.’ (Anth. Pal. 11, 130 = test. 5 Lightfoot)
(„Wie ich es hasse, dies kyklische Volk mit dem ‘Aber darauf nun’! | Fledderer sind sie am Werk anderer epischer Kunst. | Lieber nehm ich darum die elegische Dichtung; da stehl ich | dem Parthenios nichts, nichts dem Kallimachos fort. | Eher wünschte ich selbst zum ‘ohrigen Tiere’ zu werden, | ehe ich schreibe: ‘Vom Fluss das Chelidionion gelb.’ | Solch ein Gesell aber fleddert so schamlos am großen Homeros, | dass er am Ende noch schreibt: ‘Singe mir, Muse den Zorn!’“ ÜS Beckby)
Bezeichnenderweise wird die kyklische Dichtung in ihrer kaum verhohlenen Homernachfolge hier mit Diebstahls-, d.h. mit Plagiatsvorwürfen in Verbindung gebracht. Als Elegiker folgt Pollianos stattdessen den Prinzipien des Kallimachos und des Parthenios – solchen Dichtern also, bei denen sich wegen der sorgsamen Durcharbeitung ihrer Werke leichtfertiges Plagiieren verbietet.
Die bei Pollianos formulierte Kritik an den Kyklikern wurde einige Jahrzehnte zuvor bereits von Erykios in einem Epigramm gegen Homer selbst gerichtet. Hier treten nicht die Anhänger der beiden Dichter gegeneinander an, sondern Parthenios selbst wird als Homerverächter präsentiert8:Anthologia Palatina7, 377
Εἰ καὶ ὑπὸ χθονὶ κεῖται, ὅμως ἔτι καὶ κατὰ πίσσαν | τοῦ μιαρογλώσσου χεύατε Παρθενίου, | οὕνεκα Πιερίδεσσιν ἐνήμεσε μυρία κεῖνα | φλέγματα καὶ μυσαρῶν ἀπλυσίην ἐλέγων. | ἤλασε καὶ μανίης ἐπὶ δὴ τόσον, ὥστ’ ἀγορεῦσαι | πηλὸν Ὀδυσσείην καὶ πάτον Ἰλιάδα. | τοιγὰρ ὑπὸ ζοφίαισιν Ἐρινύσιν ἀμμέσον ἧπται | Κωκυτοῦ κλοιῷ λαιμὸν ἀπαγχόμενος. (Anth. Pal. 7, 377 = test. 2 Lightfoot)
(„Liegt auch Parthenios schon mit der schmutzigen Lästererzunge | unter der Erde, so gießt trotzdem noch Pech über ihn. | Hat auf die Musen er doch so oft die Flut seines Geifers | und seiner Spottelegien unreine Bosheit gespien. | Ja, er trieb seine Tollheit so weit, dass Homers Odyssee er | einen Morast, dass er Mist die Iliade genannt. | Darum würgten ihn auch mit dem Halsring die finstern Erinnyen | und umketteten ihn mitten im Schlamm des Kokyts.“ ÜS Beckby)
Homer und Parthenios konnten also sowohl zeitlich wie auch ästhetisch als Antipoden gelten, auch wenn sich hinsichtlich der Bewertung Homers und der Kykliker Unterschiede zeigen.
Welchen ästhetischen Kriterien folgt nun aber der knappe Literaturvergleich in Gell. 13, 27? Das erste griechische Zitat mit der Aufzählung von Meeresgottheiten entstammt wohl dem Propemptikon des Parthenios.9 Gellius stellt die Nachahmung als künstlerisch gleichwertig hin: Die beiden als „anmutig“ (vgl. venuste) bewerteten Modifikationen des Partheniosverses durch Vergil, die von Gellius für die ästhetische Äquivalenz der beiden Stellen geltend gemacht werden (itaque fecit … parem), betreffen Einzelwortersetzungen. Statt des Meergottes Nereus erscheint eine seiner Töchter, Panopea, und an die Stelle des Attributs εἰνάλιος tritt das Matronymikon Inous ein. Die metrische Gestaltung des vergilischen Verses zeigt einige „gräzisierende“ Besonderheiten.10 Die Verwendung möglichst vieler (griechischer) Eigennamen in einem Vers galt als Ausweis dichterischer Fertigkeit; in der Ersetzung εἰναλίῳ/Inoo kann man daher wohl eine Überbietungsabsicht Vergils erkennen. Richard Thomas11 hat plausible Gründe dafür vorbringen können, dass beide Änderungen – die auffällige Form Panopea (Πανόπεια) statt des homerischen Πανόπη12 und Inoo13 – durch Kallimachos angeregt worden sind. Damit läge in den Georgica die Verbindung zweier Modelle – Parthenios und Kallimachos – vor, was freilich von Gellius nicht eigens erwähnt wird.









