Homer und Vergil im Vergleich

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4.1.2 Autoren- und Textvergleiche in den Noctes Atticae – eine Übersicht
Die wichtigste Methode, der sich Gellius bzw. die bei ihm auftretenden Gelehrten in ihren literarischen Analysen, aber auch in anderen Zusammenhängen bedienen, ist der Vergleich.1 Das hat verschiedene Gründe und hängt z.T. mit der Genese der Sammlung, z.T. aber auch mit den behandelten Themen selbst und den auf diesen Gebieten einschlägigen Methoden zusammen. Der entstehungsgeschichtliche Aspekt wird aus den Angaben in der Vorrede deutlich: Demnach sind die Noctes Atticae eine Sammlung von Buchexzerpten, deren Abfolge keinem besonderen System, sondern nur dem mehr oder minder zufälligen Lektüregang des Kompilators folgt.2 In einzelnen Kapiteln werden sachlich zusammengehörige Exzerpte gesammelt. Die komparative Auswertung der so zusammengetragenen Abschnitte ergibt sich dann ganz natürlich im Prozess des Sammelns.
Im engeren Bereich der Sprache und Literatur reicht die Bedeutung des Vergleichs als Leitmethode aber noch erheblich weiter. Grundsätzlich ist hier zwischen selbstständigen und unselbstständigen Vergleichen zu unterscheiden: Selbstständige Vergleiche bilden jeweils das Thema einzelner Kapitel – z.T. argumentativ verbunden mit übergeordneten Fragestellungen –, unselbstständige Vergleiche haben eher beiläufigen Charakter; sie sind in den Argumentationsgang der jeweiligen Kapitel eingebunden, für diese aber nicht strukturbestimmend.
Inhaltlich lassen sich die unselbstständigen Vergleich in zwei Gruppen unterteilen: Solche, in denen Autoren, und solche, in denen Texte miteinander verglichen werden (Autoren- und Textvergleich). Eine gewisse formale und inhaltliche Varianz bieten schon die Autorenvergleiche: In einer Reihe von Kapiteln werden etwa bestimmte biographische Aspekte der behandelten Autoren – Redner, Philosophen, Dichter und Historiker –, wie z.B. Datierung, Lebensumstände und Charakterzüge, miteinander verglichen (biographischer A.-Vergleich).3 An anderer Stelle halten Gellius bzw. die auftretenden Gelehrten Autoren – wieder ohne Bezug auf konkrete Textstellen – gegeneinander (genereller A.-Vergleich), entweder um eine relative Wertung zu treffen (synkritischer A.-Vergleich) oder einfach um auf Unterschiede hinzuweisen, ohne Rangstufen festzulegen (qualitativer A.-Vergleich).4 Zum ersten der beiden Typen zählen auch die Stellen, an denen durch superlativische Ausdrücke beiläufig generelle Wertungen über einzelne Autoren gegeben werden,5 und solche, wo die Auseinandersetzung zwischen Autoren in Form von Wettkämpfen u.ä. – gewissermaßen inszenierte Kanonisierungsprozesse – beschrieben bzw. erwähnt wird.6
Geht man vom Autoren- zum Textvergleich über, so ergibt sich ein noch vielfältigeres Bild. Ein großer Teil der diesbezüglichen Bemerkungen bei Gellius betrifft das, was man modern als „Quellenkritik“ bezeichnen würde: Gemeinsamkeiten7 und Unterschiede8 der zu bestimmten sachlichen Fragen herangezogenen Schriften werden – z.T. pauschal, z.T. anhand konkreter Details – konstatiert (quellenkritischer T.-Vergleich). Damit verwandt sind auch die Zusammenstellungen von z.T. einander widersprechenden Ansichten verschiedener Philosophen bzw. -schulen zu konkreten Fragen (doxographischer T.-Vergleich).9 Das Interesse an sachlichen Abweichungen betrifft auch die Behandlung der Werke der Dichter: Auch hier werden sachlich zusammengehörige10 und abweichende11 Stellen gesammelt (sachlicher bzw. inhaltlicher Dichtervergleich).
Eine besondere Stellung nehmen diejenigen Passagen ein, an denen mit einem expliziten Hinweis auf eine vom Autor intendierte imitatio die literarische Abhängigkeit zwischen zwei Texten bzw. einzelnen Textstellen konstatiert wird. Das betrifft manchmal ganze Werke, in der Regel aber einzelne loci, versus oder verba12 – diese drei Felder literarischer imitatio führt Gellius beiläufig im Zusammenhang mit Vergils Lukrezanleihen ein (Vergleich von Modelltext und Nachahmung).13 Etwas anders gelagert sind die Stellen, an denen der Rückgriff auf einen allgemein bekannten, meist anonym überlieferten Gedanken, etwa eine Sentenz, durch einen Autor nachgewiesen wird (Gedanken- bzw. Sentenzenvergleich).14 Hier kann i.d.R. nicht von einem imitatio- bzw. aemulatio-Verhältnis gesprochen werden, die Parallele wird einfach wertneutral als gedankliche Entsprechung konstatiert.
Apologetischen Charakter haben die Stellen, an denen im Abgleich mit der auctoritas der „alten“, zumeist lateinischen Dichter eine Besonderheit im Sprachgebrauch – i.d.R. ein Abweichen vom sermo vulgaris bzw. von der consuetudo der Gegenwart im Bereich der verba – gerechtfertigt wird (Vergleich mit sprachlichen Autoritäten).15 Zu erwähnen ist außerdem noch der singuläre Vergleich verschiedener Gattungen der Historiographie in Gell. 5, 18 (Gattungsvergleich).16
Im engen Zusammenhang mit der Frage nach literarischer Abhängigkeit steht diejenige nach unlauteren Übernahmen aus anderen Schriften (Plagiat). Gellius kommt auf dieses Thema relativ selten zu sprechen. Immerhin referiert er in 3, 17, 4–6 den Vorwurf des Timon gegen Platon, wonach dessen Timaios zur Gänze einer pythagoreischen Lehrschrift nachgebildet sei.17 Das Gegenstück zum Plagiat, die Falschattribuierung eines nicht authentischen Werks an einen bekannten Autor, spielt hingegen eine weitaus wichtigere Rolle bei Gellius, etwa wenn es darum geht, die echten Stücke im Corpus Plautinum von den falschen zu scheiden (Pseudepigraphie).18
Ein benachbartes Gebiet von gleichwohl hoher Relevanz für die i.e.S. synkritischen Partien der Noctes Atticae ist die Übersetzung aus dem Griechischen und damit verbundene Fragen (Übersetzungsvergleich).19 Bilinguismus und Bikulturalität stellen bekanntlich eine kulturelle Konstante in der Entstehungszeit der Noctes Atticae dar.20 Gellius reflektiert an verschiedenen Stellen über die Übersetzbarkeit bestimmter Texte aus dem Griechischen ins Lateinische und stellt konkrete Übersetzungsvergleiche an.21 Praktischen Erwägungen folgen die bilinguen Synopsen griechischer und lateinischer Termini aus diversen Spezialdisziplinen, die Gellius der bequemen Übersicht willen zusammenstellt.22
4.1.3 Die synkritischen Kapitel in den Noctes Atticae
In einer ganzen Reihe von Kapiteln in den Noctes Atticae stellt der Textvergleich nicht einen gelegentlichen methodischen Zugriff auf bestimmte Texte dar, sondern er wird zum Thema des betreffenden Abschnitts selbst.1 Dies kommt z.T. schon in der Formulierung der Kapitelüberschriften zum Ausdruck. So ist Gell. 2, 23 etwa mit den beiden Begriffen Consultatio diiudicatioque locorum … überschrieben, die auf den analytischen (consultatio) und synkritischen (diiudicatio) Charakter des Abschnitts hinweisen.2 In den anderen tituli werden zwar nicht diese Termini, aber bedeutungsähnliche substantivische bzw. verbale Umschreibungen verwendet, wie aus der folgenden Übersicht zu ersehen:
Gell. 2, 23: Caecilius Statius und Menander (Consultatio diiudicatioque locorum facta ex comoedia Menandri et Caecilii, quae Plocium inscripta est)
Gell. 2, 27: Demosthenes und Sallust (Quid T. Castricius existimarit super Sallustii verbis et Demosthenis, quibus alter Philippum descripsit, alter Sertorium)
Gell. 9, 9: Vergil, Theokrit und Homer (Quis modus sit vertendi verba in Graecis sententiis; deque his Homeri versibus, quos Vergilius vertisse aut bene apteque aut inprospere existimatus est)
Gell. 10, 3: Cato d.Ä., C. Gracchus und Cicero (Locorum quorundam inlustrium conlatio contentioque facta ex orationibus C. Gracchi et M. Ciceronis et M. Catonis)
Gell. 11, 4: Ennius und Euripides (Quem in modum Q. Ennius versus Euripidis aemulatus sit)
Gell. 13, 27: Vergil, Parthenios und Homer (De versibus, quos Vergilius sectatus videtur, Homeri ac Partheni)
Gell. 17, 10: Vergil und Pindar (Quid de versibus Vergilii Favorinus existumarit, quibus in describenda flagrantia montis Aetnae Pindarum poetam secutus est; conlataque ab eo super eadem re utriusque carmina et diiudicata)
Gell. 19, 9: Römische und griechische Kleindichtung (titulus nicht überliefert)
Gell. 19, 11: Ps.-Platon und ein lateinischer Anonymus (titulus nicht überliefert)
Die Zahl von Kapiteln in den Noctes Atticae, die dem synkritischen Textvergleich gewidmet ist, legt es nahe, in diesen Fällen geradezu von einer eigenständigen literaturkritischen Kleinform zu sprechen. Inwieweit diese Annahme auch durch das Vorliegen gemeinsamer inhaltlicher und formaler Merkmale gerechtfertigt ist, soll im Folgenden durch eine knappe Analyse derjenigen Texte, die sich nicht speziell mit dem Homer-Vergil-Vergleich auseinandersetzen – vgl. zu diesen → Kap. 4.2 und 4.3 –, untersucht werden.
Das erste synkritische Kapitel der Noctes Atticae ist Gell. 2, 23,Gellius2, 23 der Vergleich einer griechischen Komödie Menanders (Πλόκιον)3 mit ihrer – heute ebenso wie das griechische Original verlorenen – lateinischen Übertragung durch Caecilius Statius.4
Die Unterschiede zwischen Menander und Caecilius werden in vier bzw. sechs Schritten erarbeitet: Nachdem Gellius in der Einleitung (I) seine Vorliebe für die Lektüre lateinischer Komödien nach griechischen Originalen (Menander, Poseidippos, Apollodoros, Alexis etc.) bekundet und festgestellt hat, dass nach ihrer Lektüre die griechischen Stücke in seinen Augen regelmäßig den Vorzug verdienten (2, 23, 1–3), kommt er (II) konkret auf das Plocium des Caecilius Statius zu sprechen (2, 23, 4–7). Dann folgen (IIIa–c) drei Parallelenpaare, jeweils unter Voranstellung des griechischen Originals und mit kurzer inhaltlicher Einordnung und ästhetischer Wertung der verglichenen Stellen:
2, 23, 8–10: Caecil. com. II 142–157 SRPF3 ← Men. frg. 296 PCG = 333 Körte
2, 23, 11–13: Caecil. com. II 158–162 SRPF3 ← Men. frg. 297 PCG = 334 Körte
2, 23, 14–21: Caecil. com. II 169–172 SRPF3 ← Men. frg. 298 PCG = 335 Körte
Abschließend (IV) wird in 2, 23, 22 noch einmal der Vorzug Menanders mit dem Hinweis hervorgehoben, dass die lateinische Nachbildung für sich betrachtet ihren künstlerischen Wert besitze, im direkten Vergleich mit dem Original aber ästhetisch abfalle.
Gellius geht es in diesem Kapitel um den Vergleich zweier Ganzschriften: Die drei Textbeispiele (loci) sind exemplarisch gewählt und dienen dem Zweck, die künstlerische Unterlegenheit der lateinischen Nachbildung im Ganzen zu belegen.5 Für derartige Vergleiche von Ganzschriften bot die frühe lateinische Übersetzungsliteratur – archaisches Epos und insbes. Tragödie und Komödie – reichlich Material, wobei die fehlende stoffliche Originalität der Texte grundsätzlich keinen Anlass zur Kritik lieferte.6 Auch Gellius setzt in 2, 23 die besonderen Produktionsbedingungen der frühen römischen Komödie als Übersetzungsliteratur als gegeben voraus:
Gellius greift in 2, 23 auf die traditionelle Terminologie zur Kennzeichnung von Übersetzungen – im weiteren antiken Sinne verstanden7 – zurück; vgl. 2, 23, 1 (Comoedias … nostrorum poetarum sumptas ac versas de Graecis …) und 2, 23, 6 (… Menandri … Plocium …, a quo istam comoediam verterat).8 Den Vorgang der Abweichung vom Original bezeichnet er mit dem Terminus mutare (2, 23, 7). Die Intention des „Übersetzers“ gerät in 2, 23, 11–12 in den Blick: Caecilius wird die Absicht unterstellt, bestimmte Züge des Originals übernehmen zu wollen, ohne jedoch die Fähigkeit zur Umsetzung besessen zu haben: … ea Caecilius, ne qua potuit quidem, conatus est enarrare, sed quasi minime probanda praetermisit et alia nescio qua mimica inculcavit et illud Menandri … simplex et verum et delectabile, nescio quopacto omisit. Die Abweichungen vom Original erscheinen in dieser Betrachtung als Symptome eines generellen künstlerischen Mangels. Entsprechend wird in 2, 23, 13 die lateinische Übertragung der zweiten Menanderstelle als „Entstellung“ des Originals (corrupit) gescholten, und auch in 2, 23, 21 ist Menander das Maß aller Dinge: Im Zusammenhang mit der dritten Caeciliusstelle stellt Gellius die Frage, ob der Römer die sinceritas und veritas der Menanderverse erreicht habe (… an adspiraverit Caecilius, consideremus).9 Auch der Schlussgedanke reiht sich hier ein: Der Versuch der Nachahmung sei in den Fällen, wo er mangels Begabung von Beginn an zum Scheitern verurteilt ist, nicht einmal erlaubt (2, 23, 22: … non puto Caecilium sequi debuisse, quod assequi nequiret). Caecilius wird demnach als ein Beispiel für eine zwar beabsichtigte, aber misslungene Nachahmung vorgestellt. Und schon in der Einleitung wird aemulatio ohne weitere Begründung als die leitende Absicht, die hinter dem Nachahmungsversuch des Caecilius steht, vorausgesetzt (2, 23, 3: ita Graecarum, quas aemulari nequiverunt, facetiis atque luminibus obsolescunt).
In den drei Einzelstellenvergleichen wird detailliert vorgeführt, was Gellius unter aemulatio verstanden wissen möchte.10 Die ästhetischen Kriterien, die zur Anwendung kommen, beziehen sich allesamt auf das poetische Programm der Neuen Komödie: Possenhafte Theatereinlagen (mimica) werden als unpassende Ergänzungen des Caecilius verurteilt, Menanders sprichwörtliche Lebensnähe11 und sein Realismus als Vorzüge des Griechen gegen den Lateiner ausgespielt, Schlichtheit und Gefälligkeit als Maßstäbe dramatischer Gestaltung auch an die lateinische Adaption angelegt.12 Beim zweiten Stellenpaar wird Menanders Fähigkeit der „angemessenen und schicklichen“ Charakterzeichnung gerühmt, die den Erfordernissen der Situation nachkommt und die der „alberne Spaßmacher“ Caecilius verfehlt habe.13 Glaubwürdigkeit und „Wahrheit“, d.h. Lebensnähe (sinceritas und veritas), sind, wie bereits angesprochen, die Leitbegriffe, die auch beim dritten Parallelenpaar die Beurteilungskriterien abgeben und mit denen der „tragische Schwulst“ des Caecilius kontrastiert.14
Die knappe Übersicht über die ästhetischen Analysen zeigt, dass Gellius an Caecilius dieselben Maßstäbe anlegt, die traditionell die Grundlage für die – positive – Beurteilung von Menanders Komödienstil bildeten.15 Aufführungs- und Rezeptionsbedingungen der Palliata geraten dabei an keiner Stelle in den Blick: Caecilius wird wie ein lateinischer Vertreter der griechischen Neuen Komödie beurteilt.16 Damit zwingt Gellius dem Caecilius in seiner Analyse einen Wettstreit unter falschen Voraussetzungen auf: Änderungen der Vorlage werden nicht unter ihren besonderen Bedingungen, sondern als Abweichungen von einer gegebenen und somit gültigen Norm betrachtet. Dem entspricht auch der bei Gellius vorausgesetzte Rezeptionskontext. Die beiden Dramen sind hier nicht mehr als Bühnenstücke, sondern als Gegenstände der gemeinschaftlichen Lektüre präsentiert.17 Auf diese Weise kann Gellius von den zeitgebundenen Erfordernissen, denen der römische Palliatadichter genügen musste, abstrahieren: Die Lesekultur der Noctes Atticae bedingt in diesem Fall eine ahistorische Betrachtungsweise von Literatur, die scheinbar zeitlosen Bewertungskriterien folgt – hier dem in Menanders Stück ideal verwirklichten Komödientypus.
Zwei der synkritischen Kapitel in den Noctes Atticae sind Textsorten gewidmet, deren Behandlung nach Quintilian18 in den Zuständigkeitsbereich des Rhetoriklehrers fallen, nämlich der Historiographie und der Rede (Gell. 2, 27 und 10, 3). Dabei handelt es sich nur im Fall von Gell. 2, 27Gellius2, 27 um den Vergleich eines griechischen (Demosth. steph. 67) mit einem lateinischen (Sall. hist. I frg. 88 Maurenbrecher) Text, und nur hier wird eine direkte Abhängigkeit im Sinne intentionaler aemulatio behauptet.19 Das Urteil ist T. Castricius in den Mund gelegt, einem Rhetoriklehrer, den Gellius in den wenigen Kapiteln, in denen er auftritt, als sittenstrenge Autoritätsperson kennzeichnet.20
Es ist dann auch ein moralischer Gesichtspunkt, den Castricius in seiner synkritischen Bewertung der beiden Stellen vorbringt: Sallust hatte den bei Demosthenes formulierten Gedanken, dass König Philipp von Makedonien – abgesehen von seinen bislang im Krieg erlittenen Blessuren – bereit sei, zur Mehrung seines Ruhmes den Verlust eines jeden Körperteils in Kauf zu nehmen, in der Weise auf Sertorius übertragen, dass er dem Römer noch zusätzlich eine perverse Freude an der Verstümmelung unterstellte: Quin ille dehonestamento corporis maxime laetabatur neque illis anxius, quia reliqua gloriosius retinebat (Gell. 2, 27, 2). Für Philipp war die Verstümmelung nur der notwendige, aber grundsätzlich unerwünschte Preis für die Steigerung seines Ruhms: … πᾶν ὅ τι βουληθείη μέρος ἡ τύχη τοῦ σώματος παρελέσθαι, τοῦτο προϊέμενον, ὥστε τῷ λοιπῷ μετὰ τιμῆς καὶ δόξης ζῆν („… jedes Körperglied, das das Schicksal ihm nehmen wollte, preisgebend, um mit dem, was ihm blieb, in Ehre und Ansehen zu leben.“).
Castricius erkennt einen Gegensatz zwischen der von ihm zugrunde gelegten Definition der laetitia – exultatio quaedam animi gaudio efferventior eventu rerum expetitarum (Gell. 2, 27, 3) – und der Situation des Sertorius: Der Verlust von Körperteilen könne, so ist zu ergänzen, keinesfalls unter die res expetitae fallen, deren Eintritt die Voraussetzung für die exultatio animi darstellt. Aus diesem gleichsam logischen Widerspruch ergibt sich ein moralischer Vorwurf gegen Sertorius, der in den Augen des Castricius das „rechte Maß“, d.h. die von der Natur vorgegebenen Grenzen der laetitia, überschreitet: nonne … ultra naturae humanae modum est dehonestamento corporis laetari?21
Castricius überträgt den moralischen Vorwurf gegen Sertorius nun bezeichnenderweise auf die Ebene des Autors bzw. Redners, wenn er Sallust indirekt eine Unstimmigkeit bzw. Unglaubwürdigkeit der Darstellung – also eine technische, keine moralische Schwäche – vorwirft, indem er einleitend zu dem oben zitierten Schlusssatz des Demosthenespassus urteilt: Quanto illud sinceriusque et humanis magis condicionibus conveniens (Gell. 2, 27, 4). Sincerius kann in diesem Zusammenhang nur auf die historische Glaubwürdigkeit der Charakterzeichnung Philipps durch Demosthenes gehen. Die Stoßrichtung des Vorwurfs bleibt in 2, 27 also in der Schwebe: Der moralische Tadel an einer Figur, die sich contra naturam verhält, wird zum Vorwurf gegen den Autor selbst umgemünzt. Es wäre demnach in den Entscheidungsspielraum des Historikers Sallust gefallen, den merkwürdigen Charakterzug des Sertorius psychologisch glaubwürdiger darzustellen bzw. auf die Erwähnung seiner naturwidrigen laetitia zu verzichten.22
In Gell. 10, 3Gellius10, 3 steht eine Trias exemplarischer Redner aus drei verschiedenen Generationen im Zentrum der Betrachtung. Das Kapitel kommt ohne narrative Einkleidung der Synkrisis aus, Gellius spricht also in eigener Person. Bei den drei verglichenen Rednern handelt es sich um M. Porcius Cato (234–149 v. Chr.), C. Sempronius Gracchus (153–121 v. Chr.) und M. Tullius Cicero (106–43 v. Chr.), die Entstehungszeit der Reden, aus denen die behandelten loci entnommen sind, fällt in die Jahre 190 v. Chr. (Cato or. frg. 9 Jordan = 8 frg. 58 ORF2 = frg. 42 Sblendorio Cugusi), 122 v. Chr. (Gracch. or. = 48 frg. 48–49 ORF2) und 70 v. Chr. (Cic. Verr. 2, 5, 161–163). Eine Sonderstellung nimmt Gell. 10, 3 insofern ein, als hier von den synkritischen Kapiteln der Noctes Atticae der einzige Fall vorliegt, wo Gellius ausschließlich lateinische Texte miteinander vergleicht.
Gell. 10, 3 verdient insofern besonderes Interesse, als hier – anders als etwa in Gell. 2, 23 – die literaturgeschichtliche Stellung der behandelten Redner stärker in den Blick gerät. Alle zum Vergleich gewählten loci behandeln dasselbe Thema, die ungerechte Misshandlung römischer Bürger durch römische Magistrate. Die drei Redner versuchen, mit der Schilderung dieses Vorgangs Empörung bei den Zuhörern auszulösen, setzen zu diesem Zweck jedoch unterschiedliche Mittel ein. Gellius stellt zunächst den Gegensatz zwischen Gracchus und Cicero heraus, indem er sich gegen die Einschätzung stellt, Gracchus sei der „ernstere, heftigere und gewaltigere“ (10, 3, 1: severior, acrior, ampliorque) der beiden Redner. Das allgemeine Urteil über den Stil des Gracchus wird in 10, 3, 4 gefällt. Nach Gellius besteht demnach ein Widerspruch zwischen res und verba, wenn Gracchus einen so schrecklichen Gegenstand „beinahe wie bei Komödienaufführungen üblich“ abhandelt: brevitas sane et venustas et mundities orationis est, qualis haberi ferme in comoediarum festivitatibus solet. Der schlichte, umgangssprachliche Ton, den Gracchus in seiner Rede De legibus promulgatis anschlägt, verstößt damit gegen die Forderung des aptum, den angemessenen sprachlichen Ausdruck für den jeweiligen Gegenstand. Das dabei relevante vitium eines zu niedrigen und unbedeutenden Ausdrucks für eine gewichtige Sache wird in der rhetorischen Terminologie mit den Begriffen humilitas bzw. ταπείνωσις bezeichnet.23 – In den Abschnitten 10, 3, 10–13 werden dann konkrete Vorzüge von Ciceros Darstellung24 benannt, die in das allgemeine Urteil münden (10, 3, 14): Haec M. Tullius atrociter, graviter, apte copioseque miseratus est. Hier wird das aptum also explizit als Beurteilungskriterium herangezogen.
Welche Funkion hat aber der abschließende Hinweis auf Cato (10, 3, 15–19)? Gellius bringt hier in einer beiläufigen Wendung die zeitliche Dimension der behandelten Reden ins Spiel: Wenn jemand das ältere Werk (10, 3, 15: priora) des Gracchus wegen seiner „archaischen“ Eigenschaften – Ungekünsteltheit, Kürze, natürliche Süße etc. – schätzt, soll er sich durch ein noch älteres Werk, nämlich Catos Rede De falsis pugnis (10, 3, 15: M. Catonis, antiquioris hominis), davon überzeugen lassen, dass der Verzicht auf rhetorische Kunstmittel nicht per se als Ausweis altertümlicher Natürlichkeit zu loben ist, sondern schon etwa 70 Jahre vor Gracchus von so herausragenden Rednern wie Cato als Mangel empfunden wurde (10, 3, 15):
Sed si quis est tam agresti aure ac tam hispida, quem lux ista et amoenitas orationis verborumque modificatio parum delectat, amat autem priora idcirco, quod incompta et brevia et non operosa, sed nativa quadam suavitate sunt quodque in his umbra et color quasi opacae vetustatis est, is, si quid iudicii habet, consideret in causa pari M. Catonis, antiquioris hominis, orationem, ad cuius vim et copiam Gracchus nec adspiravit.
Der Hinweis, dass sich Cato bei einem ähnlichen Gegenstand ähnlicher rhetorischer Mittel wie Cicero bedient habe, soll demzufolge zeigen, dass Gracchus in seiner Rede eine rhetorische Option, die zu seiner Zeit durchaus bestand, nicht ergriffen hat, dass sein schmuckloser und unpathetischer Bericht also eine bewusste stilistische Entscheidung darstellt: Intelleget <scil. lector>, opinor, Catonem contentum eloquentia aetatis suae non fuisse et id iam tum facere voluisse, quod Cicero postea perfecit. Damit stellt Gellius die Gültigkeit des Alterskriteriums keineswegs in Frage: Das Beispiel Catos hat ja auch deshalb Gewicht, weil er vor Gracchus geschrieben hat. Gellius führt aber vor, wie zwei ästhetische Prinzipien miteinander in Widerstreit geraten können, nämlich das Wirkungspostulat der Rhetorik – hier die kunstgerechte Erzeugung von Empörung durch den Redner – und die Liebe zur Vergangenheit, die das Alte um des Alters willen schätzt. Indem er differenzierend auf die stilistischen Varietäten innerhalb der archaischen Literatur hinweist, korrigiert er die einseitige Verehrung des Altertums durch den Gedanken, dass die alte Zeit nicht per se nachahmenswert ist, sondern bereits Cato die Mängel in der Redekunst seiner Zeit erkannt und auf eine Verbesserung der rhetorischen Technik hingearbeitet habe.