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Ihre Mutter weiß nicht, dass Klaus, bevor er von ihre Schwester angeschlürt wurde und diese von Liebe auf den ersten Blick sprach, eine One-Night-Bekanntschaft von Isabel gewesen war. Natürlich konnte Isabel das niemandem sagen und Klaus hütete sich, dass von sich aus zur Sprache zu bringen. Also wusste niemand, dass Klaus seine Schwägerin von innen und außen kennt und ihre Mutter hätte Isabel geluncht, wenn sie erfahren hätte, dass sie Männerbekanntschaften für eine Nacht hegte. Das Klaus Isabel dann auch noch anbaggerte, als Karin mit Natalie schwanger war, konnte sie natürlich auch niemandem sagen. Er war betrunken gewesen und hatte Isabel gesagt, dass er Karin nur genommen hatte, weil Isabel ihn damals nicht wiedersehen wollte.
Natürlich hatte sie ihm das weder geglaubt noch ihn weiter erhört, weil sie das ihrer Schwester nicht antun konnte. Aber ab da wusste sie, dass er eigentlich ein Schwein ist, wie alle Männer.
Ihr Blick fiel auf den heruntergefallenen Anrufbeantworter. Mit dem Hörer in der Hand der Mutter lauschend, die ihr von ihrem Silvesterabend mit Karin, Klaus und den Kindern berichtete, stand sie von dem Sofa auf, auf das sie sich fallenlassen hatte und hob das Gerät auf. Kopfschüttelnd stellte sie es wieder hin. Sie konnte sich nicht erinnern wie das Gerät auf den Fußboden gekommen war.
„Es wäre schön, wenn du Karin auch mal wieder besuchst. Sie sagte, du schaust nie bei ihr rein.“
„Ja Mama. Mache ich.“
Isabel sah sich um.
Der Tisch war immer noch ordentlich gedeckt und das Essen stand in den Schüsseln angerichtet vertrocknet und unappetitlich auch noch da. Dazwischen prangte eine leere Sektflasche.
„Die Kinder sind so lebhaft. Du könnest ihr ein wenig mit ihnen helfen. Vielleicht regt das deine Mutterinstinkte endlich mal etwas an.“
Oh Mann. Ihre Mutter hatte überhaupt keine Ahnung, was sich wie in Isabel regt.
„Mama, ich arbeite den ganzen Tag. Und ich denke, Karin kriegt das mit den Kindern auch allein hin.“
Isabel fand beim Sofa die zweite leere Sektflasche.
Hardy, dieses Schwein! Erst erzählte er ihr, dass er unbedingt mit ihr ins neue Jahr reinfeiern will und dann kam er nicht.
„Isabel, du wirst nicht jünger. Wenn du selbst mal Kinder haben willst, wird es langsam Zeit. Ich glaube, in deinem Alter läuft die biologische Uhr schon recht schnell rückwärts. Hast du dich mal bei dem Arzt darüber erkundigt, den ich dir letztens empfohlen habe?“
„Ja Mama, habe ich. Es ist alles noch im grünen Bereich“, log sie und wusste, sie musste das Gespräch schleunigst beenden. „Dann grüß Papa schön von mir und nochmals ein schönes neues Jahr, falls ich das noch nicht erwähnt habe. Ich habe es etwas eilig. Ich habe gleich noch ein Neujahrsessen mit Freunden. Tschüs und bis bald!“ Isabel hörte noch ein perplexes: „Ähm … ja, okay, gut. Bis bald. Und komm mal …“ und legte schnell auf.
Sie atmete einmal tief durch, weil sich erneut Übelkeit in ihrem Bauch ausbreitete und ihre Magensäure immer höher Richtung Ausgang wanderte. Isabel schluckte schnell einige Male, um dem entgegenzuwirken.
Ihre Mutter nervte sie immer wieder damit, dass Isabel Karin nicht mit den Kindern half und selbst keinerlei Anstalt machte, welche zu bekommen. Sie wusste nichts von Isabels Leben. Sie wusste nicht, dass sie Karin so selten besuchte, weil es sie schmerzt, dass Karin zwei so tolle Kinder hat und sie nicht. Sie ertrug es kaum, die Kleinen um sich zu haben und war hinterher immer erschreckend deprimiert.
Ihre Mutter wusste auch nicht, dass Isabel diese Muttergefühle, die sie bei Kindern jedes Mal anfielen, fast ins Grab brachten, und dass sie sich absolut bewusst war, dass sie bald nicht mehr in der Lage sein würde, selbst welche zu bekommen.
Tränen quollen ihr aus den Augen, und Isabel versuchte sie mit aller Macht zu unterdrücken. Bloß nicht schon am frühen Morgen in Selbstmitleid zerfließen. Wo soll das sonst hinführen?
Trotz Gegenwehr machte sich Niedergeschlagenheit bei ihr breit. Sie musste sich erst einmal einen Kaffee kochen und eine Schmerztablette einwerfen, damit die rasenden Kopfschmerzen aufhörten, die mit der Übelkeit erneut eingesetzt hatten.
Langsam schlurfte sie in die Küche und stellte die Kaffeemaschine an. Dann griff sie in eine Schublade nach den immer dort parat liegenden Tabletten und schluckte eine mit etwas Wasser hinunter. Der nächste Gang führte sie in ihr Badezimmer. Der Blick in den Spiegel verhieß nichts Gutes. Soll das da etwa sie sein? Diese alte Frau mit der verschmierten Schminke im Gesicht.
Es fröstelte sie und ihr wurde langsam bewusst, dass sie nichts anhatte.
So läufst du in der Wohnung herum, und das am helllichten Tag, wo dich jeder sehen kann!
Ah, ihr Gewissen. Das war immer rege und wachsam. Selbst nach so einer Nacht.
Scheu sah sie durch die Tür des Badezimmers in den kleinen Flur und das angrenzende Wohnzimmer.
Tatsächlich! Es war hell - also die Schalosien offen. Ihr wurde mit Erschrecken klar, dass sie eben jeder sehen konnte, als sie aus dem Bett zum Telefon gewankt war.
Schamröte überzog ihr Gesicht und machte es mit der verschmierten Schminke noch unansehnlicher.
„Ach, es wird schon keiner am Fenster gestanden haben“, beruhigte sie sich schnell.
Fenster … Fenster … irgendwie drängte sich ein ungutes Gefühl im Zusammenhang mit Fenster an die Oberfläche.
Ach, egal! Sie musste erst mal duschen.
Sie stieg hinter den Vorhang und ließ das Wasser über ihren Körper laufen. Langsam verschwanden dabei ihre Kopfschmerzen und ihre Lebensgeister erwachten vollständig. Aber mit denen auch die Wut auf den missratenen Silvesterabend.
Sie trocknete sich ab und marschierte, von ihrem großen, geblümten Handtuch umschlungen, in ihr Schlafzimmer. Aus der Küche drang schon der würzige Kaffeegeruch zu ihr herüber, und mit einem dumpfen Hungergefühl im Magen fiel ihr Blick auf den Radiowecker auf ihrem Nachtschrank.
„Mein Gott, es ist ja schon fünf!“, entfuhr es ihr aufgebracht. Sie hatte doch tatsächlich bis zum Nachmittag geschlafen.
Schnell zog sie sich an und lief zum Fenster, zog die Schalosie hoch, scheinbar die einzige, die sie herunterzulassen geschaffte hatte, und öffnete das Fenster. Es regnete etwas und es war viel zu warm für diese Jahreszeit.
Ohne zu wissen, warum, glitt ihr Blick suchend über die gegenüberliegende Häuserreihe. Gerade als ihr das bewusst wurde und sie sich umdrehen wollte, weil sie nicht so recht wusste, was sie eigentlich sucht, fiel ihr Blick auf die blaue Spitzenunterwäsche und ihr teures Kleid zu ihren Füßen. Erschrocken sah sie wieder zu der Häuserreihe hinüber und ihr Blick blieb an einem bestimmten Fenster hängen.
Es war also kein Traum gewesen. Sie hatte das tatsächlich getan.
Schnell drehte sie sich vom Fenster weg und drückte sich an die Wand. Von der schnellen Bewegung wurde ihr schwindelig und sie fasste sich an den Kopf, um das Rotieren in ihren Schläfen zu besänftigen. Dabei versuchte sie sich zu beruhigen.
Das konnte doch nicht wahr sein! Das konnte sie doch unmöglich getan haben! Bitte, lass es nur ein Traum gewesen sein.
Sie bückte sich und lief in dieser Haltung unter dem Fenster her. Erst am anderen Ende stellte sie sich wieder hin und lugte noch einmal, durch die an dieser Seite des Fensters herabfallende Gardine, zu dem gegenüberliegenden Haus hinüber. Dort war aber niemand zu sehen.
Mein Gott, wie peinlich! Wer sie wohl letzte Nacht alles gesehen hatte?
Jedem Nachbarn aus der Straße wird sie ab jetzt nur noch mit Schamröte im Gesicht begegnen können, und die Frauen halten sie bestimmt für ein Flittchen. Wenn sich das herumspricht!
Sie sah sich niedergeschlagen um, einen Augenblick von dem Gefühl überwältigt, aus dieser schönen Wohnung unter diesen Umständen ausziehen zu müssen.
Dann dieser Kerl, von dem sie genau weiß, dass er sie beobachtet hatte. Hoffentlich sah er das nicht als Einladung an, um sich vor ihrer Tür einzufinden.
Sie sah sich schon einem alten Kerl mit Hosenträgern über dem Unterhemd und abgetragener Jogginghose gegenüber, der sie mit lüsternem Blick aus einer versoffenen Trinkervisage angrinste.
Jetzt wurde Isabel wieder bewusst, warum sie immer auf ihr Gewissen hören sollte. Es schützte sie vor so unliebsamen Erkenntnissen am nächsten Tag.
Unglücklich und niedergeschlagen schlurfte sie in die Küche und schüttete sich einen Kaffee ein. Im selben Moment klingelte es an der Tür.
Erschrocken über die noch eben in ihrem Kopf rotierenden schrecklichen Gedanken ging sie beunruhigt in den winzigen Flur. Sie sah durch den Türspäher und fand das kleine, kahle Treppenhaus leer. Es hatte also unten an der Haustür geschellt.
Sie drückte den Türöffner und öffnete beunruhigt die Wohnungstür. Wenn sie durch das Treppenhaus nach unten spähte, konnte sie vielleicht erkennen, wer da kam und die Gelegenheit nutzen, um die Tür wieder zuzuschmeißen und zu verriegeln.
Noch bevor sie die Tür ganz geöffnet hatte, prangte ihr ein Strauß roter Rosen von ihrer Fußmatte entgegen, und das Treppenhaus war von einem angenehmen Duft durchdrungen. Langsam nahm sie ihn hoch und sah sich nochmals um. Aber da war niemand.
Schnell ging sie in die Wohnung zurück und suchte in dem Strauß nach einer Karte.
„So schöne Rosen! Sind die wohl von Hardy? Will er sein schlechtes Gewissen damit beruhigen?“, fragte sie sich dabei und wollte ihm schon wieder alles verzeihen.
Sie fand nur eine nicht unterschriebene Karte von einer Blumenhandlung, mit einem Spruch. „Zwölf neue Monate, zwölf Mal Glück, Freude und Gesundheit“, und stellte die Rosen in eine Vase auf den Tisch. Es waren zwölf Stück. Wunderschön anzusehen. Ein netter Neujahrsgruß.
Eigentlich sollte sie sie sofort in den Müll werfen. Schließlich hatte Hardy sie tief verletzt und sie brauchte keinen Neujahrsgruß von ihm, der ihr wenig persönlich vorkam. Hätte er wenigstens eine Karte mit heißen Liebesschwüren drangemacht und sie darin angefleht, ihr zu verzeihen, dann hätte sie ihren Ärger herunterschlucken können. Aber er hatte nichts dergleichen getan.
Er ist verheiratet und hatte nie vor, dich mehr in sein Leben zu lassen. Er wollte nur ein wenig Spaß. Mehr nicht.
Die Rosen waren trotzdem zum Wegwerfen zu schade. Aber Isabel schwor sich, dass Hardy bei ihr nicht mehr antanzen musste. Die Feiertage waren vorbei. Nun kehrte wieder der Alltag ein und sie brauchte keinen Tröster mehr. Sie hatte diese schreckliche Zeit der trostlosen Einsamkeit, in der sie glaubte, das einzige, einsame Wesen auf der weiten Welt zu sein, überstanden. Auch ohne Hardy oder Charly oder Martin oder Jürgen … oder oder oder. Sie hatte es geschafft und konnte sich nun endlich wieder in die Arbeit stürzen. Sie brauchte niemanden mehr. Konnte sie nicht richtig stolz auf sich sein?
Nein, konnte sie nicht. Immer noch nagte die Einsamkeit an ihren Knochen und wie schon so oft las sie erneut in der alten Tageszeitung vom Vortag die Kontaktanzeigen durch.
Das ist alles erstunken und erlogen. Oder glaubst du wirklich, dass es irgendjemanden gibt, der lieb, nett und gutaussehend ist und trotzdem solo? Dass sind bestimmt alles Verbrecher, Schläger oder Mittellose, die eine reiche Frau suchen.
Jaja!
Ärgerlich knüllte Isabel die Zeitung zusammen und warf sie mit einem gekonnten Treffer in den Papierkorb.
Sie trank ihren Kaffee aus und knabberte an dem trockenen Zwieback, der ihr als erste Mahlzeit nach so einer Nacht als das Richtige erschien.
Doch ihr Magen bäumte sich dennoch auf und Isabel sprang vom Stuhl auf, rannte zur Toilette und übergab sich.
Der Kaffee, vermischt mit Magensäure und Bröckchen vom Zwieback, hinterließ ein Brennen im Hals. Erschöpft und elend setzte Isabel sich neben die Kloschüssel und lehnte ihren Kopf in ihre Hände.
Verdammt, wieso hatte sie nur so viel getrunken? Warum hatte Hardy ihr den Abend versaut … und wieso konnte er nicht wenigstens seine Blumen persönlich überbringen und sie dann tröstend in die Arme schließen?
Bist du verrückt? Der Kerl soll bloß bleiben, wo der Pfeffer wächst. Wie alle Kerle! Ich weise dich nicht gerne darauf hin, aber One-Night-Stands sind wirklich besser, wenn man in deiner Situation ist.
Was für eine Situation? Ihr wollte nicht richtig aufgehen, was diesen Gedanken ausgelöst hatte.
Isabel stemmte sich hoch und schlurfte in ihr Schlafzimmer zurück. Ohne sich dessen bewusst zu sein, fand sie sich plötzlich vor ihrem Fenster wieder und suchte erneut die Fenster im gegenüberliegenden Haus nach einer menschlichen Regung ab. Doch sie sah nicht nur in der Wohnung gegenüber niemanden, sondern in allen Wohnungen schienen die Menschen ausgeflogen zu sein.
Ihr Blick fiel auf die Straße, auf der im Nieselregen ein paar Kinder in den Überresten der Raketen wühlten, um sich noch etwas Brauchbares herauszupicken.
Isabel schlurfte zu ihrem Bett und setzte sich auf die Bettkante. Ihr Blick fiel auf den großen Spiegel. Ihre langen braunen Haare wirkten erschreckend kraftlos, ihre blauen Augen trüb und ihre schmalen, blassen Wangen regelrecht eingefallen. Selbst ihre vollen Lippen schienen heute die Mundwinkel nicht am freien Fall hindern zu können.
„Es ist keiner für dich da. Niemand!“, sagte sie leise zu ihrem Spiegelbild und ließ sich rücklings auf das Bett fallen. Langsam und mühevoll zog sie die Decke unter sich hervor und deckte sich zu. „Niemand!“
Sie musste noch etwas schlafen. Morgen sah dann hoffentlich alles besser aus. Dann konnte sie endlich wieder arbeiten gehen und gleichzeitig ein neues Jahr einläuten. Dann hatte sie drei Tage, bevor erneut ein Wochenende ihren Alltag zerstückelte.
Ach, was hasste sie die Wochenenden, Feiertage und Urlaube. Alles Tage der Einsamkeit, des Nichtstuns und des Unnütz seins. Wieso musste ausgerechnet nach diesem Silvester eine angebrochene Woche folgen? Sie hätte gerne 30 Tage am Stück draufgesetzt. Warum wurde sie nur so hart bestraft?
Isabel drehte sich um und schloss die Augen. Bloß nicht mehr daran denken.
Ihr musste etwas Nettes einfallen. Dann könnte sie bestimmt einschlafen.
Isabel wühlte in ihrem Gedächtnis. Sie sah sich am Schreibtisch in dem großen Büro sitzen, der erhellt von gleißendem Sonnenschein warm und gemütlich ihr Herz erwärmte. Die Tür ging auf und ihre Chefin kam herein. „Hallo Isabel! Ich hoffe du hattest erholsame Feiertage. Wir müssen aber noch unbedingt über die Sache sprechen, die dir da letzte Woche so dumm widerfahren ist.“
Isabel warf sich im Bett herum. Nein, bloß nicht daran denken.
Etwas anderes musste her. Es musste doch etwas Nettes zu denken geben!
Isabel sah sich vor dem Fenster stehen und nach draußen in die tiefe Nacht sehen. Plötzlich sah sie jemanden am gegenüberliegenden Fenster und sie fing an, sich auszuziehen …
„Nein!“ Isabel setzte sich auf. Das ist ja nicht auszuhalten. An ihren Auftritt vor dem perversen Lustmolch will sie nie wieder denken.
Sie stand auf und schlich mit ihrer Decke unter dem Arm ins Wohnzimmer. Dort ließ sie sich auf das Sofa fallen und drückte an der Fernbedienung den Fernseher an. Hier wollte sie sich einlullen lassen, bis sie einschlief. Das schien ihr die einzige Medizin gegen hemmungslos plagende Gedanken zu sein, auch wenn das hieß, die Nacht auf dem Sofa zu verbringen. Sie würde sie schon irgendwie überstehen und Morgen begann ein neuer Tag, ein neues Jahr und ein neues Leben. Sie musste sich nur überlegen, wie sie es ausfüllte.
Ihr fiel der Gedanke mit den One-Night-Stands ein, die ihre Situation bereinigen könnten. Und jetzt wurde ihr auch klar, was „die Situation“ ist, die sie damit bereinigen könnte. Sie hatte in den letzten Jahren immer wieder daran gedacht. Was wäre, wenn sie von so einem One-Night-Stand schwanger wurde? Ein Kind nur für sich.
Sie hatte sich das manchmal gewünscht, wenn der Typ nicht ganz so ein arrogantes Arschloch war und die Nacht nicht ganz so ätzend. Aber meistens gingen die One-Night-Stands erschreckend unbefriedigend aus. Irgendwie musste Isabel feststellen, dass sie so schnelle Nummern nicht mochte und ein Minimum an Gefühl für den Menschen, der einem die Klamotten vom Leib riss, schon vorhanden sein sollte. Aber sie hatte dennoch einige Male, wenn der Zeitpunkt passend war, genommen, was sich anbot. Dummerweise sind die Männer von heute nicht mehr so gutgläubig. Sie nehmen Kondome, auch wenn sie ihnen schwor, dass sie nicht nur regelmäßig ihre Pille nahm, sondern ihre Gebärmutter auch noch eine Mütze trug und sie gesundheitlich ein Unbedenklichkeitszertifikat aufweisen konnte. Sie hatte sogar schon mehrmals eine Allergie gegen Kondome ins Feld geführt, was aber keinen der Herren interessiert hatte.
Isabel versuchte weiter einzuschlafen und die Gedanken zu verdrängen. Aber sie konnte erneut den Erinnerungen über die vielen Desaster in ihrem Leben nicht entfliehen. Sie hatte nie Glück. Weder mit ihren Beziehungen noch mit den One-Night-Stands noch mit sonst etwas.
Während sie die Erinnerungen an ihre Verflossenen an sich vorbeiziehen ließ, wurde ihr klar, dass die letzten eigentlich nur noch einen Zweck erfüllen sollten. Und das erschreckte sie ein wenig. Sie hatte sich das noch nie eingestanden. Aber in den letzten Jahren verhütete sie nicht mehr und versuchte fast schon krampfhaft einen Mann dazu zu bringen, zum richtigen Zeitpunkt ohne Kondom mit ihr zu schlafen. Aber sie war nicht mehr ausnahmslos jung und schön und die Männer wirklich vorsichtig. Vielleicht war ihnen klar, dass sie eine von den Gebärfreudigen mit letzter Chance war.
Isabel warf sich auf dem kleinen Sofa erneut auf die andere Seite. Sie musste den Gedanken an ein Kind wirklich begraben oder sich künstlich befruchten lassen.
Oh mein Gott! stöhnte ihr Gewissen entsetzt auf. Auch dazu brauchst du einen Mann. Dann schaff dir doch besser ein Haustier an. Dafür brauchst du nichts weiter als dich selbst. Für dich ist der Zug echt abgefahren.
Isabel liefen Tränen auf ihr Sofakissen. Aber wenn sie in Selbstmitleid versank und herumheulte, dann ließ ihr Gewissen sie wenigstens in Ruhe, und auch die bösen Gedankenattacken. So kann sie vielleicht doch endlich einschlafen. Sie wollte doch nichts weiter als ein wenig Ruhe. Morgen begann ein neuer Tag in einem neuen Jahr. Ab Morgen würde dann alles anders werden.
Am nächsten Tag parkte Isabel ihren weißen Beetle auf dem großen Parkplatz vor dem imposanten Gebäude der Möbel Altwerna Werke. Sie arbeitete seit neun Jahren dort und würde ihre rechte Hand für diesen Betrieb geben.
Schon an der Tür wurde sie mit freundlichen Neujahrsgrüßen empfangen und erwiderte sie fröhlich. Sie hatte sich fest vorgenommen, dieses Jahr zu ihrem Jahr zu machen. Es reichte, dass sie den ganzen Neujahrstag in Selbstmitleid zerfließend und mit ihrem Schicksal hadernd vor sich hin sinniert hatte, bis sie endlich auf dem Sofa eingeschlafen war.
Als sie am Morgen erwacht war, hatte sie die Sinnlosigkeit ihres sich selbst zerfleischenden Selbstmitleids erkannt und sich überlegt, dass es so mit ihr nicht mehr weitergehen konnte. So hatte sie beim Frühstück beschlossen, ihrem Leben eine neue Wendung zu geben und sich nicht mehr so runterziehen zu lassen. Sie hatte schließlich einen tollen Job, verdiente gut, hatte eine schöne Wohnung und war gesund. Das wollte sie sich vor Augen halten und nichts anderes.
Außerdem beschloss sie, dass sie sich nicht mehr von ihrer biologischen Uhr und ihrer Familie bedrängen lassen durfte.
Als ihre Schwester Karin ihr erstes Kind bekam und ihr langsam bewusstwurde, dass sie selbst bald eine alte Schachtel war, begann sie mit Männern zu schlafen, um schwanger zu werden. Und dann, nach ihrem vierunddreißigsten Geburtstag, als ihr plötzlich nach einer Liebesnacht mit einem gutaussehenden jungen Mann auffiel, dass er nicht im geringsten Anstalt machte, sich ihr für weitere Treffen aufzudrängen, wurde ihr bewusst, dass sie ihre besten Jahre hinter sich hatte und es nicht leichter für sie wurde. Er hatte vor dem Sex ein ganzes Arsenal Kondome ausgepackt und sie war sich nicht sicher, ob er nicht sogar drei übereinander stülpte, weil es ewig dauerte, bis er endlich bereit war. Der Sex war zwar prickelnd gewesen, weil er göttlich gebaut war und so süß mit Grübchen lächelte, aber auch erschreckend kurz und nichts, um auch nur in die Nähe eines Orgasmus zu kommen. Danach war er aufgestanden, hatte noch einmal höflich gelächelt und war gegangen. Kein: „Können wir uns noch einmal treffen?“ Kein: „Ich glaube, ich habe mich in dich verliebt! Wollen wir zusammenbleiben?“ Gar nichts!
Nicht, dass sie darauf eingegangen wäre. Gott bewahre! Aber so gar keine Möglichkeit zu haben, dem Mann der letzten Nacht noch einen Tritt in den Allerwertesten zu geben, nachdem man gnädig lächelnd über seinen Anflug von romantischen Liebesbeteuerungen hinweggesehen hatte, war nicht leicht zu verkraften. Und einzusehen, dass er nicht der Vater des Wunschkindes werden würde, war bedrückend, aber erst noch kein Drama. Aber diese Fälle häuften sich und sie war bald so weit, von sich aus die Männer zu fragen, ob es vielleicht eine Zukunft geben könnte, nur um sie noch öfters ins Bett zu kriegen. Schleichend und fast unbemerkt war aus ihr das weinerliche, einsame Mäuschen geworden, das sich aufdrängte und die Männer um mehr anbettelte, nur um ihre biologische Uhr zu übertölpeln und der Einsamkeit ein Schnippchen zu schlagen. Aber die Männer waren nie um Ausreden verlegen.
Das war der Punkt, an dem sie wusste, dass alles zu spät war und sie es nur noch mit größter Mühe schaffen konnte, einen Mann für sich zu gewinnen, der zur rechten Zeit seinen Freund am rechten Ort platzierte. Von einem Mann für eine gemeinsamen Zukunft ganz zu schweigen. Mit reiner Überredungskunst war da nicht mehr viel zu gewinnen.
Gut, es gab Anwärter, die wollten sie und waren bestimmt zu allem bereit. Aber was sollte sie mit dem kahlen Nerd aus der Entwicklungsabteilung, der mit seinem Computerprogramm umgehen konnte, aber ansonsten offensichtlich weit entfernt von jeglicher Realität war. Isabels Gewissen mahnte beständig, dass der Vater ihres Kindes unbedingt ein Minimum an Intelligenz, Charakter und Schönheit mitbringen und vor allem Gefühle bei ihr auslösen sollte, um etwas zu haben, an dass man sich gerne erinnerte. Das war ihr wichtig. Sie wollte das Kind ansehen und sich daran erinnern, was sie mit dessen Vater verbunden hatte. In dem Punkt kam zumindest Isabels romantische Ader durch, die sich den Traumprinzen aber schon abgeschminkt hatte. Genauso wie den Traum von dem schönen, unglaublich süßen und lieben Kurztrip ins Glück, der wissentlich mit ihr ein Kind zeugte, weil er sie für die unglaublichste Frau in seinem Leben hielt und wert genug, um seine wertvollen Gene weiterzuverbreiten.
Aber vielleicht wollte ihr Körper kein Kind mit einem Unbekannten, der keine Gefühle in ihr auslöste. Vielleicht waren Gefühle der Erfolgsgarant für eine Schwangerschaft. Irgendwelche Gefühle. Es mussten schließlich nicht alles niederringende, große, romantische Gefühle sein. Sie wäre schon froh, wenigstens etwas zu fühlen. Aber auch das fiel ihr immer schwerer. Wahrscheinlich steuerten ihre Hormone allmählich schon die Talfahrt an und begannen den Wunsch nach zwischenmenschlichen Freuden zu reduzieren.
Das war ein erschreckender Gedanke, den Isabel lieber verdrängte. So versuchte sie sich auf das zu konzentrieren, was sie hatte: ihren Job. Und sie musste sich zusammenreißen und den wieder meistern, wie sie es all die Jahre gemacht hatte.
Leider war ihr dahingehend in den letzten Monaten etwas der Elan abhandengekommen. Sie hatte dummerweise einige Böcke geschossen, die sie nur durch die Gutmütigkeit ihrer Chefin überstanden hatte. Aber die wusste noch nicht den neusten Clou ihrer einst besten Mitarbeiterin, die sich auf den Bereichsleiter der Logistikabteilung namens Hardy Meiners eingelassen hatte. Cornelia wird ihr bestimmt nicht gerade hoch anrechnen, dass die sich mit einem verheirateten Mitarbeiter der Firma eingelassen hatte. Ihre Chefin mochte so etwas gar nicht.
Niemals, in all den vergangenen Jahren, hatte Isabel damit gerechnet, dass sie dermaßen in eine Kurzschlusspanik verfallen könnte und sich damit sogar geschäftsschädigend verhalten würde. Und Hardy und ihre missratene Beziehung mit ihm waren der Höhepunkt einer langen Reihe dummer Fehlentscheidungen.