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Aber jetzt hatte sie beschlossen, das neue Jahr zu ihrem werden zu lassen. Mit dem Beginn des neuen Jahres, und ihren Vorsätzen, sah sie sich in der Lage, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen. Wer brauchte schon eine nervende Beziehung und eine Familie mit quengeligen Kindern, wo man doch einen tollen Job hatte, der einen hoffentlich genug stresste, um jeglichen Anfall von Trübsal blasen im Kein zu ersticken.
„Hallo, ja, Ihnen auch ein schönes, neues Jahr. Klar habe ich schön reingefeiert“, verkündete Isabel einige Male, bevor sie den Fahrstuhl erreichte. Dabei warf sie ihre langen, braunen Haare nach hinten und ging erhobenen Hauptes durch das riesige Gebäude.
Sie fuhr mit dem Lift nach oben und betrat das obere Stockwerk. Hier war zum größten Teil die Chefetage, und Isabel steuerte das große, helle Büro an. Ihr riesiger Schreibtisch mit Blick auf den kleinen See, der auch zu dem Grundstück gehörte, erwartete sie, und ihre neue Aussicht auf einen arbeitsreichen Beginn des neuen Jahres. Doch noch bevor sie ihren Schreibtisch erreichte, schwang die Tür hinter ihr auf und ihre Chefin trat ein.
„Guten Morgen und ein schönes neues Jahr wünsche ich dir!“, rief sie freudestrahlend und gutgelaunt.
Isabel legte ihre Tasche an die Seite und ließ sich von der blonden, schlanken Frau umarmen.
„Das wünsche ich dir auch, Cornelia.“
„Dann wollen wir das neue Jahr mal anlaufen lassen. Ich hoffe, es wird so erfolgreich wie das vergangene.“ Lächelnd lief sie zu einer weiteren Tür, die fast an Isabels Schreibtisch angrenzte. Sie stieß sie auf und verschwand dahinter, als im gleichen Moment auch schon das Telefon auf Isabels Schreibtisch läutete. Isabel hörte Cornelia noch rufen: „Ich bin noch nicht im Haus!“, bevor ihre Tür zuschlug und die andere Tür vom Flur her sich öffnete.
Isabel griff über ihren Schreibtisch hinweg zum Hörer und meldete sich. Während sie dem Anrufer lauschte, schaltete sie den Computer an.
„Nein, tut mir leid. Frau Albers ist noch nicht im Haus. Aber wenn sie Sie zurückrufen soll, dann werde ich ihr das ausrichten. Sie können mir aber auch sagen, worum es sich handelt.“
Isabel spürte heißen Atem an ihrer Schulter und sah auf.
Hardy stand lächelnd hinter ihr.
Sie sah ihn fassungslos an. Es war das erste Mal, dass er sich von seinem entfernten Stützpunkt in die Chefetage verirrte. Dabei versuchte sie zu erfassen, was der Telefonteilnehmer am anderen Ende ihr mitteilte.
„Hm, das ist in der Tat etwas seltsam. Ich werde das gleich überprüfen und Frau Albers ausrichten. Sie wird sie dann verlässlich zurückrufen. Und ich werde Ihnen die nötigen Unterlagen zusenden“, versuchte sie den Kunden zu beruhigen und fühlte sich schon am ersten Tag des neuen Jahres überfordert. Sie warf Hardy einen düsteren Blick zu und sah zu dem freien Schreibtisch hinüber, der noch auf seinen Einsatz wartete, und zu Cornelias Tür, die gottseidank verschlossen war.
„Das tut mir wirklich leid. Ich werde sehen, was da schiefgelaufen ist und wir melden uns dann bei Ihnen so schnell es geht. Auf Wiederhören!“
Isabel warf den Hörer auf das Telefon und fauchte Hardy an: „Was willst du hier? Dass du dich noch unter meine Augen traust!“
„Aber Mäuschen! Es tut mir schrecklich leid wegen Silvester. Ich wollte gerade zu dir, als meine Eltern überraschend vorbeikamen. Ich konnte ihnen doch nicht sagen, dass ich noch auf Silvester ausfahre, während meine Frau mit den Kindern Zuhause bleibt. Versteh doch! Meine Eltern sind in solchen Dingen echt spießig. Bitte verzeih mir. Ich mache alles wieder gut.“
Isabel war einen kurzen Moment versucht, ihm wirklich zu verzeihen. Doch dann hörte sie wieder das Gelächter und die laute Musik, die sie gehört hatte, als sie fast schon früh am Morgen bei ihm angerufen hatte. Sie glaubte ihm kein Wort.
„Verschwinde! Ich möchte nicht mehr, dass wir uns treffen. Hast du verstanden?“ Sie wollte ihrer Stimme etwas mehr Nachdruck und einen bösen Unterton verleihen, aber sein verletzter Gesichtsausdruck ließ ihre Stimme nur traurig und niedergeschlagen klingen. So setzte er auch gleich an, es noch einmal zu versuchen. Doch Isabel winkte ab: „Vergiss es. Es ist mir wirklich ernst. Ich brauche keinen von euch Trotteln. Ihr seid es doch alle nicht wert, sich mit euch einzulassen.“
Puh, das klang gar nicht nett. War sie in der letzten Nacht etwa zu einer emanzipierten Frau herangereift, die wirklich meinte, was sie sagt?
Irgend so ein hirnloses Männchen in ihrem Inneren schrie: „Vergib ihm! Sonst bist du wieder völlig allein und deine vielleicht letzte Chance ist vertan.“
Nur mit Mühe konnte sie diese Stimme überhören. Die Sache mit der starken Frau gefiel ihr.
Geschlagen drehte Hardy sich um und ging langsam zur Tür. Bevor er sie hinter sich zuschlagen ließ, drehte er sich noch einmal um. Sein Blick war herzerweichend.
„Trotzdem Danke für die schönen Rosen. Aber es ist besser so“, rief sie ihm hinterher und setzte sich an den Schreibtisch.
Über sein Gesicht schob sich einen kurzen Moment lang ein überraschter Ausdruck. „Welche Rosen?“ Doch als Isabel schnell abwinkte, ging er.
Also waren die Rosen nicht von ihm.
Wieder wurde die Tür aufgerissen und Tanja kam im Eilschritt herein. „Hallo. Ein frohes Neues wünsche ich dir! Ich hatte doch glatt einen Platten … und das im neuen Jahr. Das fängt ja gut an.“
Sie hing ihre Jacke auf und setzte sich an den Schreibtisch, um den Computer hochzufahren.
„Was wollte dieser Kerl denn hier drinnen?“ Sie wies mit dem Kinn auf die Tür, hinter der Hardy kurz vorher verschwunden war. „Du hast doch nichts mit dem, oder?“
Isabel schüttelte den Kopf und erwiderte aufgebracht: „Wie kommst du denn darauf? Der ist doch verheiratet!“
„Ich meine nur. Was ich von dem schon alles gehört habe. Naja, ist auch egal. Ist die Chefin schon drinnen?“
„Ja, aber wir sollen noch keine Gespräche durchstellen. Aber … was … was hast du denn von dem gehört?“ Isabels Hand wedelte in Richtung Tür, hinter der Hardy verschwunden war, als wäre das eigentlich gar nicht von Belang. Aber ihr Herz begann unruhig zu schlagen.
Tanja sah noch einmal prüfend in einen Spiegel, den sie in ihrer untersten Schreibtischschublade immer bereitliegen hatte, und strich sich das kurze, blonde Haar zurecht. Dann sah sie ihre Tischnachbarin an. Sie machte eine wegwerfende Handbewegung und packte den Spiegel zu den anderen Schminkutensilien. „Ach, das ist so ein Weiberheld. Trotz Frau und Kinder. Der kriegt jede! Das behauptet er zumindest, der Spinner. Der ist sowas von eingebildet, hält sich für den Größten und Schönsten und ist dabei ein völliges Arschloch. Und er macht einen beschissenen Job, habe ich gehört. Wenn er Pech hat, ist er bald seinen Posten als Logistikleiter los, weil er ständig irgendeinen Scheiß fabriziert.“
„Ach so“, schaffte Isabel nur zu erwidern und starrte auf die vielen Zahlen und Adressen, die der Computer ausspuckte, ohne wirklich etwas zu sehen. Sie wusste nur zu gut, wie es um seinen Einsatz für die Firma stand. Sie selbst hatte den einen oder anderen Fehler von ihm in den letzten vier Wochen ausgebügelt. Aber damit war jetzt Schluss. Und wenn er auch nur einem verriet, dass sie sich von ihm erweichen lassen hatte, dann wird sie sogar selbst dafür sorgen, dass er nicht mehr länger in dieser Firma tätig ist.
Sie sah in Tanjas blaue Augen, die sie herausfordernd musterten, als sie nichts weiter dazu sagte. Wahrscheinlich wusste sie sowieso schon Bescheid. Wahrscheinlich wussten alle Bescheid!
Am liebsten würde Isabel sich verkriechen. Warum machte sie sich in den letzten Jahren nur immer wieder zum Gespött der Menschen? Was war nur los? Konnte sie denn wirklich nicht mehr Gut von Böse unterscheiden? War sie nicht mehr in der Lage, vernünftig zu denken? Nah, das wird sich jetzt ein für alle Male ändern.
Eine blecherne Stimme meldete sich. „Isabel, es können jetzt Gespräche durchgestellte werden. Gab es heute Morgen schon etwas Wichtiges?“
„Ja, ein Herr Sachser von der Firma Mellcopp fragte nach, warum die letzte Lieferung ausgeblieben ist und wieso noch kein Katalog für dieses Jahr zugesandt wurde. Ich habe ihn erst einmal vertröstet und suche jetzt die Unterlagen heraus. Ich bringe sie dir dann rein.“
Cornelia bedankte sich nachdenklich und die Verbindung wurde beendet.
„Weißt du etwas darüber, dass die Firma Mellcopp die letzte Lieferung nicht bekommen hat und warum an die Firma keine neuen Kataloge geschickt wurden? Die haben wir doch schon Anfang Dezember verteilt. Da muss etwas schiefgelaufen sein.“ Isabel sah Tanja fragend an, die aber nur unwissend die Schultern hochzog.
Ein ungutes Gefühl beschlich sie. Hatte sie die Sache vielleicht verbockt?
„Mellcopp, Mellcopp …“ Ihr wollte nichts so recht zu dem Namen einfallen. Doch sie war sich darüber im Klaren, dass es durchaus möglich sein konnte, dass sie die Firma irgendwie aus dem Computer gekickt hatte. Auch jetzt fand sie nichts in ihren Listen und sie ging zu dem großen Aktenschrank, um in den alten Karteikarten nachzusehen.
„Tatsächlich. Da ist sie!“ Isabel wurde blas. Das war eine Firma aus ihrem Ressort. Sie ging mit der Karte in der Hand zu ihrem Schreibtisch zurück und gab die Daten neu ein. Der Computer zeigte ihr an, dass diese Firma in einer anderen Rubrik abgespeichert war. Isabel sah nach und fand sie bei den Importeuren wieder.
Das konnte doch nicht sein! In welchem seltsamen Wahn hatte sie denn das verbockt?
„Hast du etwas gefunden?“, fragte Tanja, während sie ihre Finger über die Tastatur jagte, um die Inventur für das vergangene Jahr abzuschließen. Sie musste das bis zehn Uhr dem Chef vorlegen.
Es war Isabel etwas peinlich. Sie war seit fast zehn Jahren hier und solche Fehler durften ihr eigentlich nicht passieren. Dazu kam, dass sie in den letzten Monaten öfters falsche Eingaben gemacht hatte. Das hatte zum Teil verheerende Auswirkungen gehabt. Dazu kamen noch andere Patzer.
„Ich glaube schon. Ich meine, ich weiß es. Es ist wohl mein Fehler. Ich habe das verbockt.“ Isabel seufzte betroffen und fing sich einen beunruhigten Blick von Tanja ein. Sie wusste, dass Isabel im letzten Jahr einige Fehler gemacht hatte, die nicht alle im Verborgenen gehalten werden konnten.
Das kommt nur wegen der Männer. Du läufst schon seit Monaten mit einem Brett vor dem Kopf durch die Welt und hast wirklich lange gebraucht, endlich etwas zu begreifen.
„Jaja!“
„Was sagst du?“, rief Tanja mit einem seltsamen Blick.
„Ach nichts!“ Isabel winkte schnell ab.
Das Telefon läutete und sie nahm den Hörer in die Hand, der tonnenschwer war, und meldete sich. Nach einem kurzen Gespräch stellte sie zu ihrer Chefin durch.
Für sie stand fest, dass sie Cornelia noch am selben Vormittag ihren Patzer beichten musste. Sie schluckte schwer. Diese Fehler kamen in letzter Zeit einfach zu häufig vor. Sie wusste schon, was dann kommen wird …
„Ich glaube, du hast ganz dringend einen längeren Urlaub nötig. Seit vier Jahren lässt du dir das meiste davon ausbezahlen, ohne wirklich mal länger auszuspannen. Das kann doch nicht gut gehen. Sieh das doch mal ein!“
Isabel hasste das Wort Urlaub. Das hieß morgens aufstehen, nichts mit seinem Tag anfangen zu können, herumzulungern, traurig, überflüssig und nutzlos zu sein.
Sie brauchte diese Firma. Sie brauchte die Menschen hier und die Arbeit. Zuhause war sie nur einsam. Sie hasste diese Einsamkeit, diesen Frust. Es reichte ihr schon, dass sie am Samstagnachmittag oft früh nach Hause gehen konnte und sonntags frei hatte. Sie traf sich dann zwar mal mit Freunden oder ging abends zu einer Geburtstagsparty. Aber ihr Bekanntenkreis bestand immer mehr aus Ehepaaren, die zum Teil schon Kinder hatten, Pärchen, die schon ewig zusammen waren oder den wenigen Singles, bei denen sich das, wie bei ihr, nie ändern wird. Manchmal beneidete sie diese verheirateten, verlobten, verliebten. Doch wie oft wurde sie schon Zeuge von Tragödien. Es hatte schon bitterböse Scheidungen gegeben und Zänkereien. Sie mochte diese Traurigkeit bei anderen nicht, weil sie dann immer mitlitt.
Liebe ist doch nur etwas für Schwachköpfe. Nur ein Mittel, um sich zu Quälen.
Isabel musste erneut an Silvester denken und die vielen Tränen, die sie geweint hatte. Es war auch wirklich zu dumm, dass man nicht in der Lage war, Gefühle aus dem Spiel zu lassen. Eine Beziehung ohne Liebe und Gefühle … nur blanker, wilder Sex …
Schön wärs, wenn das ihr Ding wäre. Aber der bloße Gedanke daran trieb ihr die Schamröte ins Gesicht. Außerdem musste sie feststellen, dass solche Begegnungen meist ziemlich unbefriedigend verliefen. Es musste schon mehr sein. Sie musste wenigstens das Gefühl haben, dass sie ihrem Bettgefährten auch wirklich echte und aufrichtige Gefühle entgegenbrachte … oder ihn zumindest irgendwie mochte. Meistens entpuppte sich das zwar sehr schnell als Fehlfunktion einer ihrer Gehirnregionen, aber der Sex wurde damit zumindest angenehmer.
„Isabel, es klingelt. Soll ich abnehmen?“
Isabel griff schnell zum Hörer und meldete sich. Tanja sollte nicht merken, dass sie mit ihren Gedanken wieder einmal weit weg gewesen war.
Auch das zweite Telefon läutete und Tanja übernahm. Langsam wurde es rege. So liebte Isabel das. Dann wurde sie zumindest von ihren Gedanken abgelenkt. Außerdem gewann sie so Zeit, um sich eine plausible Erklärung für die erneut aufgetretenen Missstände auszudenken, die sie ihrer Chefin noch beichten musste.
Aber ewig konnte sie das nicht hinausschieben und was dann geschah würde sich zeigen.
Erschöpft und unzufrieden fuhr Isabel am Abend in die Garage, die sie vor zwei Monaten endlich mieten konnte. Damit war ihr heißgeliebter Beetle nicht mehr schutzlos dem Wetter ausgesetzt.
Sie nahm die Tüte mit dem gebratenen Huhn in süßsaurer Soße vom Beifahrersitz und ging über den Hinterhof, um das Haus herum, zur Eingangstür. Noch bevor sie ihren Schlüssel aus der Handtasche geklaubt hatte, wurde die Tür von innen aufgezogen und ein Mann sprang ihr eilig entgegen.
Isabel stolperte erschrocken zur Seite und umklammerte ihr Huhn in Soße.
„Guten Abend!“, meinte sie gehörte zu haben und sah dem Davoneilenden hinterher. Doch ihr Blick erhaschte nur noch die dunkelblonden, welligen Haare und die große, schlanke Gestalt in einem ziemlich konservativen Anzug.
Schnell schlüpfte sie durch die Tür ins Haus und ließ sie kopfschüttelnd zuschlagen. Sie hatte diesen Typ hier noch nie gesehen. War das ein neuer Nachbar?
„Ist doch egal“, ermahnte sie sich aufgebracht, weil ihr Innerstes schon wieder zu lechzen begann, wie ein Hund nach einem fleischigen Knochen in erreichbarer Höhe.
Schnell ging sie die Treppe zu ihrer Wohnung hinauf, wo ihre Atemwege immer noch einen aufregenden, männlichen Aftershaveduft wahrnahmen. Sie reagierte schon immer besonders auf Aftershaves und dieses war extrem angenehm.
Als wolle ihr Gewissen sie an andere Aftershaveerlebnisse erinnern, kam ihr Carsten in den Sinn. Der hatte sich immer so viel eines furchtbar süßen Duftes ins Gesicht, und auch sonst wohin, geschmiert, dass ihr davon regelmäßig schlecht wurde. Als sie ihm das sagte, meinte er nur, dass sie ihn nicht wirklich lieben würde, wenn sie seinen Duft nicht ertrug, - und ging.
An ihrer Wohnungstür angekommen, wurde ihr bewusst, dass immer noch dieser Duft in der Luft lag. Isabel sah sich um. War dieser Mann vielleicht hier oben vor ihrer Tür gewesen? Nichts deutete darauf hin und sie verwarf den Gedanken. Mehr als ihren Namen auf dem Klingelknopf gab es hier auch nicht zu sehen. Wahrscheinlich war er in einer der unteren Wohnungen gewesen und der Duft war bis hier heraufgezogen.
Sie schloss aber dennoch beunruhigt die Tür auf und betrat vorsichtig die Wohnung. Doch hier war dieser Geruch definitiv nicht vorhanden.
Schnell schloss sie die Tür wieder zu, um ihn gar nicht erst in ihre Wohnung ziehen zu lassen. Dort hatte Männerduft nichts zu suchen … vor allem nicht, wenn der dazugehörige Mann ausblieb.
Sie warf ihre Jacke über den Küchenstuhl und setzte ihr Tütenhuhn auf den Tisch. Im Wohnzimmer drückte sie den Anrufbeantworter an, der zwei Anrufe anzeigte und hörte sich kurz das Band an. Das erste war ihre Mutter, die sie für Sonntag zum Essen einlud. Das zweite war von Susanne, die ihr mitteilte, bei wem sich diese Woche der Handarbeitsclub traf.
Isabel holte einen Teller und Besteck und setzte sich seufzend an den Küchentisch. Sie aß ohne viel Appetit das Huhn. Vielleicht sollte sie sich diese Woche einmal aufraffen und ihre gehäkelte Spitze einpacken und wieder einmal hingehen. Sie hatte es in dem letzten halben Jahr auf ganze zehn Zentimeter Spitze gebracht und würde das Ding wohl in hundert Jahren nicht fertigbekommen. Sie muss an geistiger Umnachtung gelitten haben, als sie sich dazu überreden ließ, dort mitzumachen.
Sei nicht albern. Ein Treffen mit ein paar Frauen wird dir ganz guttun. Wo es keine Männer gibt, gibt es auch keine Probleme.
Blödsinn! Bei diesen Frauentreffen wurden doch Probleme erst zu welchen gemacht. Fühlte man sich vorher kerngesund, wurde man dort über alle möglichen Erkrankungen, und vor allem bevorzugt „Krebsleiden“, aufgeklärt. Wer hinterher nicht die eine oder andere Krankheit an sich entdeckte, muss schwer von Begriff sein.
Wer Kinder hat, stellte bald fest, dass bei der Prahlerei der anderen über ihren Nachwuchs man selbst nur einfältige Kreaturen auf die Welt gebracht hat. Unfähige Lehrer und Kindergärtnerinnen gaben einen weiteren Lieblingsgesprächsstoff ab. War dann auch dieses Thema erschöpft, hatte bestimmt die eine oder andere noch etwas über seltsame Todesfälle im Ort oder wenigstens über eine Affäre eines Nachbarn oder einer Nachbarin zu berichten. Dabei kam es nicht selten vor, dass so manch eine das wichtige Häkeln oder Stricken ganz vergaß.
Isabel schob den Rest des Huhns weit von sich und streckte ihre Beine erschöpft unter dem Tisch aus. Irgendwie fühlte sie sich diesen Frauensitzungen im Moment gar nicht gewachsen. Sie hatte schließlich auch nichts zu bieten. Keine Kinder und deren Lehrer, keine Krankheiten und keine nennenswerten Beziehungen oder gar einen fremdgehenden Ehemann. Nein, sie hatte nur ihre Arbeit und die interessierte niemanden.
Mit Schrecken fielen Isabel die Vorkommnisse dieses Tages ein. Das war ein ausgesprochener Scheißtag gewesen. Dass ihr das mit der Firma Mellcopp passiert war, erweckte in ihrem Magen das Huhn in süßsauer Soße wieder zum Leben. Jetzt wusste sie den Namen und würde ihn bestimmt so schnell nicht wieder vergessen. Außerdem waren ihr noch weitere Patzer passiert. Sie hatte einige Rechnungen angemahnt, obwohl diese schon beglichen waren, eine falsche Warenliste an ihre Chefin weitergereicht, die den Kunden deshalb etwas anpries, was er gar nicht haben wollte, und zwei Bestelllisten vertauscht, woraufhin zwei Firmen beinahe mit falscher Ware beliefert wurden. Letzteres wurde allerdings durch die Achtsamkeit des Logistikleiters Hardy Meiners verhindert.
Ironie des Schicksals. Aber er war ihr diese Kleinigkeit sowieso schuldig.
Naja. Dann kam, was kommen musste. Cornelia hatte ihre „langjährige rechte Hand“ vor ihrem Nachhausegang nochmals an die Seite genommen und sie lange angesehen. Dann hatte sie mit sorgenvoller Miene gefragt: „Was ist nur in letzter Zeit mit dir los? Du bist so zerstreut und unkonzentriert, dass ich versucht bin, dir einen Zwangsurlaub zu verpassen. Vielleicht sollte ich dich in eine Kur schicken?“ Cornelia hatte dabei beide Hände auf Isabels Schultern gelegt.
Sie war für Isabel nie wie eine Chefin gewesen, sondern immer wie eine große, in letzter Zeit sehr besorgte Schwester.
„Nein, bitte nicht! Ich werde mich jetzt auch zusammenreißen und verspreche dir, dass so etwas nicht mehr vorkommen wird.“
Isabel waren dabei Tränen in die Augen getreten und sie hatte sich so unglaublich niedergeschlagen gefühlt. Was sie jetzt auf keinen Fall gebrauchen konnte war Urlaub!
„Macht dir denn dein Beruf gar keinen Spaß mehr? Du bist so zerstreut und wirkst unzufrieden.“
„Doch! Ich liebe meinen Job!“, hatte Isabel gerufen.
Cornelia nickte daraufhin nur und sah sie unschlüssig an. „Ich werde mit meinem Mann sprechen. Mal sahen, was der sagt.“
Für Isabel hatte das wie eine Drohung geklungen. Sie kannte den Chef gut. Er war ein netter Mann und schätzte sie als langjährige Mitarbeiterin. Doch seine Firma stand für ihn immer im Vordergrund und er würde nicht zögern, sie sogar zu kündigen, wenn sie untragbar wurde. Nur von Cornelia konnte sie etwas Nachsicht erwarten.
So saß sie nun an ihrem Küchentisch vor dem halb aufgegessenen Huhn von ihrem Lieblingschinesen und stützte frustriert ihren Kopf in den Händen ab.
Was, wenn die jetzt ernst machen? Entlassen werden sie sie wohl nicht gleich, aber vielleicht wird ihr Chef sie erbarmungslos beurlauben. Was sollte sie dann machen?
Wieder schossen ihr Tränen der Verzweiflung in die Augen. Unwillig schüttelte sie den Kopf. Sie war so schrecklich deprimiert und weinerlich in letzter Zeit, dass es schon zum Fürchten war. Vielleicht wurde sie langsam geisteskrank wie ihre Tante Ingeborg? Oder es lag einfach an der Jahreszeit und am Vitamin D Mangel. Schon immer schlugen ihr die dunklen Wintertage etwas aufs Gemüt. Doch niemals so stark wie dieses Jahr. Und sie war doch erst sechsunddreißig Jahre alt, also noch kein Alter für die Wechseljahre. Oder?
Das Wort ließ das Huhn in ihrem Magen auch noch Samba tanzen. Wechseljahre hieß Schluss mit allem. Damit war der letzte Zug unwiderruflich abgefahren. In drei Monaten wurde sie schon siebenunddreißig. Wo war nur die Zeit geblieben? Was war aus ihren Träumen geworden?
Es war schon seltsam. Früher hatte sie noch an die große Liebe geglaubt, wollte heiraten, Kinder kriegen und alles tun, um den Mann an ihrer Seite glücklich zu machen.
Der Mann an ihrer Seite …
Isabel verdrängte die aufkommenden Gedanken daran. Eigentlich hatte es in ihrem Leben nur einen Mann gegeben, den sie sogar heiraten wollte.
Nicht diese Geschichte! Du wusstest in dem Alter noch gar nicht, was heiraten eigentlich heißt.
Doch! Sie glaubte damals, dass er der Richtige für immer und ewig war. Lange war sie ihm hinterhergelaufen und lange hatte er ihr ganzes Sein und Handeln bestimmt. Aber er wollte sie nicht!
Das war ein dunkles Kapitel in ihrem Leben, dass sie besser unangetastet ließ.
Da warst du jung und dumm! Sehr jung und dumm, und nicht mal volljährig. Also vergiss das endlich.
Isabell seufzte auf. Dieses Kapitel aus ihrer Jugendzeit zu vergessen war aussichtslos. Immer wieder hatte sich in den vergangenen zwanzig Jahren diese tiefe, aber nicht erwiderte Liebe an die Oberfläche gespült. Und wie immer folgen auch diesmal die anderen zwischenmenschlichen Missgeschicke ihres Lebens auf dem Fuße. Denn niemand von ihnen hatte je wieder die Gefühle in ihr wecken können wie Cedric. Er war immer ihr goldener Ritter auf dem schneeweißen Pferd geblieben, der alles verkörperte, was sie sich wünschte.
Das lag einzig und allein daran, dass er dich von Anfang an links liegen gelassen hatte. Er war immer unnahbar gewesen und deshalb konnte daraus auch keine missratene Beziehung werden.
Isabel wollte daran nicht denken. Dass Cedrik und sie nie eine Chance hatten, lag an dem damaligen schlimmen Schicksalsschlag und an nichts anderem. Sie wollte weiterhin daran glauben, dass er es sonst für sie gewesen wäre.
Ihr Gewissen reagierte mit einem grummelnden Abwerten dieses Gedankenganges, das ihr ein flaues Gefühl in der Magengegend bescherte. Deshalb dachte sie schon fast panisch an die anderen Männer in ihrem Leben, um da ja nichts nachkommen zu lassen. Und da hatte es einige gegeben. Aber keiner war so gewesen, wie sie ihn sich gewünscht hatte. Sie wollte einen Freund, einen Gesprächspartner, einen Seelenklempner, einen Schmeichler, einen Liebeshungrigen, der aber jederzeit ein Nein akzeptierte und einen, der immer mit ihr durch dick und dünn ging. Er sollte immer zu ihr halten, sie unglaublich und bedingungslos lieben und vor der Welt beschützen und sie doch niemals einengen. Außerdem musste sie ihn auch lieben und immerwährende tiefe Gefühle sollten sie verbinden. So sollte ihr Traummann sein. Dazu kam natürlich noch, dass er ausgesprochen kinderlieb, absolut treu und ein leidenschaftlicher Hausmann sein sollte - und ihr bedingungslos ergeben.