- -
- 100%
- +
»Was gibt’s?«
»Nichts von Belang.«
Harold war einen Meter fünfundachtzig groß. Er hatte nicht nur eine breitschultrige Figur, sondern auch eine dementsprechende Stimme. Der Blinde konnte sich leicht ein Bild von ihm machen. Er roch nach Pferden und Rindern und nach Leder.
»Aber es gibt etwas, weswegen du zu mir kommst.«
»Ja.« Das Ja klang verlegen. Harold knautschte den Cowboyhut in der Hand. »Vielleicht haben sie Sie nicht damit belästigt, Chief Crazy Eagle, aber wenn …«
» … dann …?«
»Ich habe keine Angst. Das ist dummes Geschwätz.«
»Wovor sollte auch ein Bursche wie du Angst haben!?«
»Eben.« Harold atmete auf. »Mir kann das egal sein, wer sich auf der Reservation herumtreibt. Ich möchte nur nicht, dass er Queenie belästigt. Dann schlage ich zu.«
»Queenie? Die Queen unter euren Teenagern?«
Harold lachte kurz, freundlich, aufgeschlossen. »So ist’s.«
Der Blinde hörte, dass Harold an seiner Lederweste herumknöpfte, aufknöpfte, zuknöpfte, aufknöpfte, tastete. Er konnte nicht sehen, dass Harold in einem Anhänger an silbernem Kettchen ein Bild mit sich trug.
»Und was soll ich tun, Harold?«
»Nichts. Deswegen komme ich. Sie brauchen nichts zu unternehmen. Ich gehe nicht zum Tanz und nicht zum Trinken. Ich bleibe auf unserer Ranch, dort wird er sich nicht wieder sehen lassen. Oder ich besuche die Eltern von Queenie. Sie kommt jetzt in den Ferien heim.«
»Und bei den Eltern von Queenie stoßt ihr dann zusammen?«
»Kaum. Der Vater würde ihn nicht ins Haus lassen.«
»Woher kennt ihr drei euch?«
»Wir waren einmal in der gleichen Schule … damals war Queenie noch ein kleines Mädchen, ja.«
»Lernt sie nicht jetzt auf der Kunstschule?«
»Ganz recht. Aber in den Ferien kommt sie heim. Nächstes Jahr macht sie den Abschluss. Endlich.« Das »Endlich« klang unzufrieden.
»Ist es nicht gut, dass sie so lange lernt?«
»Es kommt darauf an, was. Sie hätte bei ihren Eltern lernen können, was eine Frau auf einer Ranch wissen und können muss.«
Das verborgene Lächeln legte sich um die Mundwinkel des Blinden. »Sie ist auf der Ranch des Vaters aufgewachsen. Es wird nicht schwer halten, dass sie sich einmal auf einer größeren zurechtfindet.«
»Das denke ich mir eben auch. Aber man hört, dass die auf der Kunstschule …«
»Was?«
»Dass sie dort nicht gut erzogen werden können. So viele Künstler auf einen Haufen, Chief Crazy Eagle, wie soll das gutgehen? Das ganze Jahr über hat sie mir nie geschrieben. In der Schule herrscht keine Ordnung. Wie soll es Ordnung geben, wenn Dakota und Siksikau und Hopi und Navajo und Apachen und Pima und wer weiß was noch alles in einem Haus durcheinanderwirbeln? Da gibt es keine anständigen Grundsätze.« Harold hatte immer schneller und eifriger gesprochen. »Also bin ich gekommen, um Sie zu bitten, Chief Crazy Eagle …«
»Ich bin aus Fleisch und Blut, und ich bin kein Chief. Ich kann auch nicht als Schutzgeist über Queenie schweben. Sie muss sich schon selbst behaupten.«
»Schließlich ist sie auch nur ein Mädchen. Können Sie nicht mit dem Vater reden, dass er Queenie nun hierbehält, und wir machen Hochzeit? Auf Sie würde der Vater hören.«
»Nein, Harold, ich rede nicht mit ihm. Ich bin nicht dafür, dass ein Indianermädchen ein Jahr vor dem Abschluss von der Schule abgeht. Queenies Name ist bis zu mir gedrungen, weil sie eine sehr gute Schülerin und eine begabte junge Künstlerin ist. Wir können stolz auf sie sein. Sie soll ein Vorbild für die anderen Indianermädchen werden.«
»Es kommt ja immer darauf an, worin man Vorbild ist.«
»Traust du ihr so wenig?«
»Den jungen Burschen traue ich nicht … überhaupt … hat sie sich auch einmal …« Harold brach ab und spuckte aus.
»Gespuckt wird hier nicht, Harold Booth. Das kannst du auf deiner Ranch machen, aber nicht hier auf dem Gericht.«
»Entschuldigung«, murmelte der Bursche. »Ich meine aber, es wird für mich selbst jetzt Zeit zu heiraten. Ich bin fünfundzwanzig. Es kommt ja nicht nur auf das Mädchen an und was die will. Ich kann auch andre haben. Aber die Arbeit auf der Ranch wird zuviel für uns, und der Vater drängt.«
»Das ist deine Sache, Harold Booth. Wollt ihr euch nicht jemanden zur Hilfe nehmen? Viele suchen Arbeit.«
»Fremde Hände können wir nicht bezahlen; das trägt die Ranch auf dem schlechten Boden hier nicht. Die Familie muss arbeiten. Aber das ist meine Sache, Chief Crazy Eagle, Sie haben recht.«
Harold sprach wieder ruhig und zuversichtlich. »Queenie kommt heim, dann wird man sehen, und es wird sich alles regeln. Sie kann mich hören, den Vater hören und nachdenken. – Ich danke, Chief Crazy Eagle.«
»Guten Tag, Harold.«
Als Harold Booth das Zimmer verlassen hatte, ließ sich der blinde Richter das Gespräch noch einmal durch den Kopf gehen.
»Runzelmann«, fragte er schließlich, »rechnet Harold immer so nüchtern?«
»Er hat noch nie gerechnet, Ed. Seine Mutter hat etwas Geld mit in die Ehe gebracht; die Booths haben eine große Ranch gepachtet. Harold ist der Jüngste und der Liebling der Eltern. Er war einer der besten Schüler, die Lehrer mochten ihn gut leiden, und er ist ein fröhlicher Cowboy und ein ansehnlicher Bursche geworden. Er ist daran gewöhnt, dass ihm nichts im Leben schiefgeht. Die Mädchen haben ihn gern.«
»Queenie ist schon lange seine Liebe?«
»Man sagt es.«
»Was hat er unter seiner Weste gesucht?«
»Er trägt ein Medaillon an einem silbernen Kettchen. Vielleicht ihr Bild.«
»Was gefällt dir denn nicht an ihm?«
»Ich weiß nicht. Aber was er gesagt hat und wie er es gesagt hat, das passt nicht zu ihm. Ich glaube, dass ihm das jemand anders eingegeben hat.«
»Wer?«
»Das weiß ich nicht.«
»Vermutest du etwas?«
»Ja. Aber das kann ich nicht sagen, weil ich es nicht beweisen kann.«
Queenie
Die Klimaanlagen waren in Betrieb, und es herrschte in den Räumen der Kunstschule jene gemäßigte, immer gleichbleibende Kühle, an deren Unnatürlichkeit Queenie sich erst hatte gewöhnen müssen.
Sie war erwacht, aber draußen war es noch dunkel. Der Brunnen, auf den sie vom Bett aus schauen konnte, war abgestellt. In den Bäumen rauschte der Nachtwind. Queenie hörte es, obgleich die Fenster geschlossen bleiben mussten. Sie hatte die Augen offen, und ihre Gedanken spielten zwischen Traum und klarem Bewusstsein.
Am vergangenen Abend hatte die Abschlussklasse das bestandene Examen gefeiert. Die Schüler und Schülerinnen der elften Klasse waren dabeigewesen. In Queenies Erinnerung zogen die Vorgänge noch einmal vorüber. Im kommenden Sommer wollte sie selbst unter denjenigen sein, die das Examen bestanden hatten und die Schule verließen. Dann würde auch sie den weiten Talar und die Kappe mit den vier Ecken tragen, die an das alte Zauberzeichen der vier Weltecken erinnerte.
»Unsere Vorfahren«, hatte der Sprecher der Klasse gesagt, »sahen den Mond und die Sonne, das Wasser und die Erde. Von ihnen lernten sie ihre Geheimnisse und ihre Kunst. Wir haben Lehrer. Wir haben gelernt. Wir werden weiterlernen. Wenn wir aber vergessen sollten, dass wir Indianer sind, so wird unsere Kunst leer werden, unsere Hände werden fahrig sein, unsere Augen trüb. Darum vergesst eure Väter und Mütter nicht, und nicht den Mond noch den Wind, nicht die Erde und nicht die Quellen. Ihr müsst wissen, woher ihr eure Kraft zieht. Ich habe gesprochen.«
Draußen rauschte es in den Wipfeln. Es war drückend heiß, selbst in der Nacht, und Wirbelstürme standen bevor.
Bis Mitternacht war Unruhe gewesen. Die Schüler und Schülerinnen hatten getanzt. Die Verwandten und Freunde, die zu der Abschlussfeier gekommen waren, hatten geplaudert. Hin und wieder hatte ein kleines Kind geweint, ehe es einschlief. Die Familien brachten alles mit, Kind und Kegel; wer sollte sich daheim auch ihrer annehmen, und auf die Mutter wollte keiner der Schüler an diesem Festtag verzichten. Aber jetzt, kurz vor Anbruch der Morgendämmerung, war es still rings um die großen Anlagen und die Gebäude der Kunstschule. Die meisten Gäste hatten mit ihren Wagen oder mit dem Bus die kleine Stadt im Süden schon wieder verlassen. Queenie träumte mit offenen Augen.
Sie hatte am Abend zwei Entscheidungen gefällt, und beide erschienen ihr richtig, je mehr sie darüber nachdachte. Sie verkaufte das Bild nicht. Dieses Bild verkaufte sie nicht. Der Mann, der es hatte haben wollen, war ein Interessent. Aber ein Mann der Geheimnisse war er nicht. Sie konnte ihm das Bild nicht geben. Nie.
Mochte er zufrieden sein mit dem Gemälde, auf dem der Schild auf rotem Grund dem Betrachter in die Augen sprang. Er hatte es teuer bezahlt. Indianische Künstler waren in Ausdruck und Technik ungewöhnlich früh reif. Wahrscheinlich hegte der Käufer auch die Hoffnung, sich mit dem hohen Preis für das erste ein moralisches Anrecht auf das zweite Bild zu erwerben.
Nein. Tashina hatte gesprochen.
Vielleicht hätte Queenie nachgegeben. Aber dieses zweite Bild hatte nicht Queenie gemalt, die den weißen Männern und Frauen von der Schönheit altindianischer Kunst neu erzählen wollte. Dieses zweite Bild war das Bild Tashinas, die in Queenie verborgen war und von der die Lehrer nichts wussten. »Ich befehle meinem Gesicht, eine Maske zu werden. Meine Gefühle sind verwundbar. Sie müssen bedeckt bleiben …« Dieser Zweizeiler war gedruckt, aber Queenie hatte nie gestanden, dass er aus ihren Gedanken geboren war. Sie hatte ihn auf einen Zettel mit Druckbuchstaben aufgeklebt, und diesen Zettel hatte sie Conny finden lassen. Conny glaubte zu wissen, was er zu tun habe. Er hatte sich bereit gefunden, ein solches Gedicht auf seinen Namen zu nehmen, obgleich die Lehrer nun Geheimnisse in seinem vordergründigen Empfinden vermuteten, zu denen er nie Zugang hatte. Queenie lächelte.
Waren Männer dumm?
Waren Künstler eitel?
Das Bild mit den offenen Händen verkaufte sie nicht. Der Lehrer meinte, dass es eine Studie sei, eine Skizze. Sie hatte dazu genickt und hatte nicht nur den Schleier ihres Schweigens über diese Hände gebreitet. Sie hatte den Geheimnisschleier geknüpft, der nach den Mythen, in denen sie erzogen war, alles schützte und barg, was mit dem Heiligen Geheimnis in Berührung stand. Der Lehrer hatte seine Überraschung gezeigt. »Originell«– sie hörte seine Stimme noch –, »höchst eigenartig, die Verbindung von zwei ganz verschiedenen Techniken: Öl … und Stoff.«
Schleier über die offenen Hände. Tashina wollte ihre Hand offen hinhalten. Aber das sollten nur die sehen, die es verstehen konnten.
Für das Gemälde mit dem Schild hatte sie soviel Geld erhalten, dass ihr fast schwindelte. Soviel Geld auf einmal sahen Vater und Mutter und die Geschwister für ihre harte Arbeit nie. Sie freute sich darauf, ihnen die Hand zu öffnen. Aber das würde nur die einfache Bewegung dieser einfachen Hand sein, die sie zuerst gemalt hatte. Die anderen Hände hatten anderes und noch viel mehr zu geben. Die anderen Hände waren größer. Diese, die das Geld geben konnte, war die kleine.
Queenie wechselte den Wachtraum und lachte auf einmal vor sich hin. Walt hatte eine Wette verloren. Er war ein hübscher Bursche, eben so frech, dass er reizvoll wirkte, und so schüchtern, dass man ihn liebhaben musste. Er konnte Spaß machen, und er konnte sentimental sein, je nachdem, ob ein Mädchen sich das wünschte. Viele Mädchen hatten sich an ihn geschmiegt und sich von ihm umarmen lassen; er war auch ein gewandter Tänzer. Mit großer Liebe und allen Wirrnissen, die dadurch entstehen konnten, hatte er nie etwas zu tun gehabt. Am hübschesten sah er aus, wenn er den Twist tanzte oder wenn er mit ernster Miene, die Zungenspitze ein wenig aus den Lippen hervorgedrängt, vor dem Bild stand, das nie der ganz große Wurf werden wollte … Walt hatte gewettet, dass es ihm gelänge, Queenie in die Arme zu nehmen. Sie hatte das nicht gewusst. Queenie war unbefangen gewesen. Walt holte sie zum Tanz, Walt plauderte mit ihr, Walt machte sie heimwehkrank und wieder fröhlich. Auf einmal waren sie allein im Garten. Der Wind rauschte noch nicht in den Bäumen, die Wagen parkten noch, aus dem Saal klang Musik, alte indianische Musik mit neuen Instrumenten. Walt wollte Queenie an sich ziehen … Sie packte sein Kinn und stieß ihn mit gestrecktem Arm zurück, mit einem so kräftigen Schwung, wie es der Tochter eines Ranchers zukam. Walt wirkte komisch mit dem nach hinten gebogenen Kopf. Queenie hatte lachen müssen. Ella, Queenies Freundin, und zwei Schüler, die an der großen Glastür des Gebäudes standen, hatten mitgelacht. Walt war abgezogen.
Ella war zu Queenie gelaufen und hatte ihr die Sache mit der Wette gestanden.
»Du bist merkwürdig«, hatte Ella dann wie nebenbei gesagt. »Ich habe gewusst, dass du dich nicht umarmen lässt. Warum eigentlich nicht?«
Queenie hatte nicht geantwortet. Sie war nur vom Lachen zum Lächeln übergegangen. Jetzt, im Wachtraum, erlebte sie das Ganze noch einmal. Sie spürte noch einmal das Vergnügen, mit dem sie Walt den Kopf zurückgebogen hatte, was ihn so komisch aussehen ließ.
Queenie streckte sich. Sie wusste, dass sie einen ebenmäßigen Körper hatte, glatte, weiche Glieder und eine Haut, so braun wie die Nuss, wenn sie eben reif wird. Sie hatte die schwarzglänzenden Haare nicht gelockt, und sie legte kein Rouge auf die Lippen. Aber sie hatte sich einen rohseidenen japanischen Schlafanzug gekauft, weil sie schön sein wollte, schön wie der Teufel, wenn er achtzehn wird.
Ella wurde jetzt auch wach. Die beiden Mädchen bewohnten zusammen ein Zimmer. Sie schliefen auf weichen Betten unter leichten Decken, der Boden war mit einem hellen Teppich belegt, die Wände mit einer stillen, schweigsamen Farbe abgeschattet, auf der die Bilder sprechen konnten. Durch die Fenster und die durchlässigen Gardinen drang der erste Morgenschimmer. Ella betrachtete ihre Freundin Queenie lange und eindringlich, und Queenie hielt den Blick mit freundlicher Miene aus, denn sie war von einer allgemeinen, unbestimmten wohltuenden Erwartung erfüllt. Heute war der erste Ferienmorgen … heute durfte sie packen … heute würde sie beginnen, nach Hause zu fahren, den weiten Weg aus dem Süden in die nördliche Prärie … fort von den spanischen Häusern mit den flachen Dächern und den schwer duftenden, bunten Gärten, hin zu den Holzhütten und graugrüner, endloser Weite.
Ella vermochte die Natur dieser Freude nicht ganz zu verstehen. Ella war im Süden daheim, und ihr Elternhaus war ein Lehmbau auf den kahlen Felsen, von denen man über Mais, Schafe und Wüste blicken konnte. Aber in Queenies Heimat gab es nicht Schafe, sondern ungesattelte Pferde und schwarze Rinder, nicht Mais, sondern ein paar Kartoffeln oder Korn, und die Hütten waren nicht aus Lehm, sondern aus Holz; sie standen auf den Hügeln oder in den Tälern, die das harte Büschelgras bewuchs. Die Freundschaft der beiden Mädchen war etwas Neues; sie wussten es und freuten sich daran. Ihre Stämme, Büffeljäger und Maisbauern, wohnten weit voneinander entfernt, und dennoch beschimpften sie einander auch jetzt noch, wie es vor Jahrtausenden die Nomaden und die Ackerbauern taten, obgleich die Büffeljagd längst der Vergangenheit angehörte und von Kriegen nicht mehr die Rede war.
Ella hatte ein eigentümlich flaches Gesicht, als ob Stirn, Mund, Augen, Nase ein Einziges bildeten. In Queenies Zügen unterschied sich alles deutlicher.
»Das Merkwürdige bleibt«, sagte Ella, ihre Gedanken abschließend, »dass bei dir alles so verschieden ist und doch in Harmonie.«
Die Mädchen verständigten sich auf englisch, denn keine kannte die Stammessprache der anderen.
Queenie hatte die Decke beiseite geschoben und sich zusammengekuschelt wie eine junge Katze. »Du siehst es nicht richtig, Ella. Bei mir ist nichts verschieden. Es ist alles eine Einheit, weil es alles in der Mitte ist … durchschnittlich, würde Mr Lazy Eye sagen, weil er nicht weiß, was das ist, eine Mitte. Ich bin ein mittleres Mädchen, mittelgroß, unauffällig, weil mein Körper und meine Glieder und meine Augen eben so sind, wie sie nach den Maßen sein sollen – mittelbegabt, weil ich das sehe, was ein Mädchen der Prärie seit vielen hundert Sommern und Wintern eben zu sehen und zu erkennen pflegt, und weil ich imstande bin, die genaue Hälfte von dem zu begreifen, was die weißen Männer und Frauen uns erzählen. Vielleicht kommt es auch daher, dass mein Vater eine mittlere Ranch hat, in der sich alles die Waage hält, das Vieh, die Pferde, die Kartoffeln, das Gärtchen, die Mutter und die Kinder. Ich habe nicht viel und auch nicht wenig gelernt. Ich bin nicht die beste, aber auch nicht die schlechteste Tänzerin.«
»Aber du bist wie eine Kugel, rund, in sich geschlossen, deshalb bist du vollkommen, und das macht uns alle verrückt.«
Queenie lachte wieder. Sie hatte das volle Lachen der Jugend, nicht mehr und nicht weniger. »Wenn ihr keinen triftigeren Grund habt, verrückt zu werden –!«
»Die Burschen träumen von dir, Queenie. Ich bewundere dich, dass du so standhaft bleibst.«
»Ich bin nicht tugendhaft, Ella. Es hat nur der noch nicht zu mir gefunden, der mich verführen kann. Und was das Runde betrifft … du bist viel runder als ich.«
»Weiche mir nicht aus. Ich will zufällig einmal ernsthaft sein. Ich bin rund, ja, von Natur, ganz und gar, und es geht bei mir alles zusammen, das Alte und das Neue, die Geheimnisse und das Wissen, die guten Katchina, unsere Ahnen und Geister, die aus der Erde kommen, und Christus, der aus dem Grabe steigt, der Mais und die Kunst. Es ist alles ein großes buntes Spiel. Aber das ist es bei dir nicht. Du hast irgendeinen starken Reifen, mit dem du das, was nicht zusammengehört, zusammenzwingst … aber wiederum zwingst du es so leicht, als ob keine besondere Kraft dazu gehörte, oder deine Kraft ist so stark, dass das Schwere ein Spiel wird …«
»Hör auf, Ella, du spinnst.«
»Und du fängst dich in den feinen Fäden. Was ist das?«
Ella hielt einen kleinen vertrockneten Kaktus in die Höhe. Queenie glitt aus dem Bett, und ehe Ella es sich versah, war ihr der Kaktus aus den Fingern gewunden. Queenie zuckte vor Zorn. Es lagen ihr Worte auf den Lippen, die die Freundschaft für immer zerstören würden. Aber sie sprach sie nicht aus.
Sie verwahrte den Kaktus in einem kleinen Lederbeutel, dann lief sie hinüber in den Baderaum und ließ sich die Brause eiskalt über den Rücken rinnen. Sie musste etwas wegwaschen. Hatte Ella spioniert? Oder hatte sie etwa selbst diesen Kaktus achtlos liegengelassen, nachdem sie die Stachelspitzen in ihre Haut gedrückt hatte? Sie spürte ihren eigenen Körper auf einmal auf eine neue Art. Sie musste Abschied nehmen von der Zeit, in der sie noch ein Kind gewesen war oder noch das Kind gespielt hatte.
Als Queenie in das Zimmer zurückkam, ging Ella in das Bad. Danach war von dem Kaktus und von dem, was sich darum abgespielt hatte, nicht mehr die Rede.
Um acht Uhr fünfundvierzig standen die Mädchen und Jungen mit ihrem wenigen Gepäck an der Haltestelle und warteten auf den Überlandbus.
Begegnungen
Für die letzte Strecke ihrer Reise hatte Queenie sich zum ersten Mal in ihrem Leben eine Flugkarte gekauft. Zwar hatte sie ursprünglich alles Geld des »Interessenten« ihren Eltern bringen wollen, aber dann war sie der Versuchung erlegen und hatte einige Dollars abgezweigt. Sie hatte ihre Flugkarte schon von der Kunstschule aus vorbestellt und den Eltern geschrieben, dass sie einen Tag früher in New City eintreffen werde. Zur elterlichen Ranch ging zwar keine Post, aber Queenie hoffte, dass ihr Bruder Henry in diesen Tagen, in denen Post von ihr erwartet werden konnte, zur Agentursiedlung ritt und auf dem Postamt nachfragte.
Nun saß sie in der Propellermaschine der Frontier Airlines, die in ihrem Namen die Erinnerung daran bewahrten, dass die Orte, die sie anflogen, vor noch nicht langer Zeit Grenzgebiet zwischen Wildnis und Zivilisation gewesen waren und in blutigen Jahren zum Wilden Westen gezählt worden waren.
Queenie hatte einen Fensterplatz. Tief unter ihr dehnte sich schon heimatliches Land, endlose Prärie unter dem Nachthimmel; nur hin und wieder erschien für das Auge der Zaun einer Ranch, noch seltener eines der einsamen Häuser. Die Sandfurchen an den Präriehügeln, in denen im Frühling und nach Gewittern das Wasser herunterschoss, lagen ausgetrocknet und gaben dieser Prärie, die schon seit Tausenden und Abertausenden von Jahren bestand, etwas Aufgerissenes, Bloßes und Wildes. Nur zweimal erkannte Queenie Gruppen schwarzer Punkte, das war schwarzes Vieh, und es waren Büffel, die wieder gezüchtet wurden, weil sie die Unbilden von Witterung, Sturm, Schnee, Hitze am besten überstanden, das karge, harte Gras, wenn nicht mit Lust, so doch ohne Widerwillen weideten und neben dem Fleisch das wertvolle Fell lieferten.
Queenie schloss die Augen, und für einen flüchtigen Augenblick wurde sie ganz Tashina. Sie träumte davon, wie Hunderttausende von Büffeln über die Hügel und Täler gezogen waren und Tausende von braunhäutigen Jägern das heilige Tier erlegt hatten, um Nahrung, Kleidung, Zelte zu gewinnen. Dann waren die Watschitschun gekommen, diese Geister in Menschengestalt, die sich Weiße nannten, und sie hatten mehr Wild erlegt, als sie brauchten. Mit ihren Repetiergewehren hatten sie die Büffelherden nicht gejagt, sie hatten gemetzelt. Tashinas Großväter hatten um ihr Land gekämpft, aber sie waren besiegt worden. Die weißen Männer hatten die Prärie, die Wälder, Berge und Flüsse geraubt. Sie hatten New City gebaut und der Erde das Gold aus dem Leibe gerissen. Die großen Häuptlinge waren gefallen, ermordet worden, gestorben, und von manchen kannten ihre Kinder und Kindeskinder nicht einmal das Grab. Die Nachkommen lebten nun auf dürrem Land, das man ihnen als Reservation übriggelassen und immer wieder beschnitten hatte. In allem mussten sie den weißen Männern, dem Superintendenten und seinen Beamten, gehorchen; für jeden Schritt brauchten sie die Erlaubnis und das Geld der weißen Männer; arm waren sie trotz aller Renten und verbrieften Verträge, und sie wurden gehalten wie Unmündige.
Auf Geheiß der weißen Männer aber besuchte Queenie die Kunstschule für Indianer. Sie wollte nicht undankbar sein, denn sie genoss dort, fern der Reservation, eine gute Ausbildung und ein gutes Leben. Aber sie wollte eine Indianerin bleiben, wie der Sprecher der Schüler bei der Schulabschlussfeier gesagt hatte, und sie wollte einmal denen helfen, die darbten.
Queenie wurde wieder wach.
Ein heller rötlicher Schimmer spielte durch ihre Lider, und als sie die Augen öffnete, sah sie unter sich die Prärie in dem Leuchten der hervorkommenden Sonne und in Richtung des Fluges schon die waldigen Berge, an deren Fuß die Gründer von New City sich vor einem Jahrhundert angesiedelt hatten. Autos fuhren, für den Blick von oben so klein wie Spielzeug, Schornsteine rauchten, Scheiben blitzten, Dächer zeigten ihre Konturen mit Licht und Schatten.
Queenie musste den Sicherheitsgurt anlegen, das Flugzeug setzte zur Landung an. Noch schwirrten die Propeller, das Flugzeug setzte auf und rollte aus.
Queenie hatte nicht gewusst, dass der Flug trotz einer Tornadowarnung vor sich gegangen war. Sie ahnte nicht, wie der Pilot jetzt aufatmete. Sie bedauerte nur ein wenig, dass der Flug schon zu Ende war. Als letzte der sieben Passagiere stieg sie aus, das Köfferchen in der Hand. Ihr Geld hatte sie in einem Brustbeutel verwahrt. Es war noch immer sehr viel. Die Eltern würden sich freuen.
Als Queenie frische Luft nicht nur durch den Filter bezog, sondern eingehüllt war von Staub und Wind, von dem Duft vertrockneter Erde und vertrockneten Grases, von einem Hauch wilder Kakteenblüten, wenn auch vermischt mit den Gerüchen der Stadt und der Motoren, da wusste sie auf einmal ebensoviel, wie der Pilot gewusst hatte: Es roch nach kommendem Sturm. Am blauen Himmel standen über den ziehenden Wolken unbewegliche Wolkenstreifen, und auf irgendeine Weise war die Atmosphäre gelb.
Queenie lief durch die Ein- und Ausgangshalle des bescheidenen Flughafens. Unter den wenigen Wartenden fielen ihr drei Gestalten auf von jenem Typ, den sie nicht gerne sah. Obgleich die Kerle still an der Wand lehnten und niemandem Aufmerksamkeit zu zollen schienen, fühlte sich das Mädchen von ihnen beobachtet. Sie wich nicht aus, schlug auch die Augen nicht nieder, sondern verhielt sich, als ob sie nichts Auffälliges bemerkt habe und nichts beabsichtige, als den Flughafen zu verlassen. Aber sie hätte, befragt, jeden der drei schon genau beschreiben können. Der kleinste, ein Weißer, mochte 1,78 m oder 1,80 m groß sein und etwa zwanzig Jahre alt. Er trug Bluejeans, wie es allgemein üblich war, und ein braunrot kariertes Hemd dazu, was nicht eben für Geschmack zeugte. Seine Stulpenstiefel waren von billigem Leder, aber reich verziert, sein Cowboyhut war fleckig, der Rand verbogen. Seine beiden Kumpane lehnten ebenso unbeweglich wie er an der Wand. Diese beiden waren Indianer. Ihre Kleidung war genau die gleiche wie die des Weißen, nur in den Farben unterschied sie sich. Sie hatten zu den dunkelblauen Hosen rot-blau karierte Hemden an.