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Wenn Mammy in die »City« der Reservation, in die Agenturstraße, kam und besonders wenn sie einkaufte, öffneten sich die Schleusen ihres Redebedürfnisses, und was sie erzählte, wurde Mr Booth senior stets zuviel.
Er pflegte deshalb auch schon seit Jahren nicht mehr mit ihr zum Einkauf zu fahren. Aber heute hatte Harold gefehlt – worüber Isaac Booth mehr ärgerlich als besorgt war –, und die letzte unverheiratete Tochter musste sich um eine kranke Kuh kümmern. Es war ein im ganzen durchaus schwarzer Tag für Booth senior, und dementsprechend reagierte er jetzt. Er gab seiner Frau überhaupt keine Antwort, winkte mit einer barsch wirkenden Bewegung des ganzen Arms, dass sie sich mit dem Einsteigen beeilen möchte, und fuhr schnurstracks mit ihr zum Stammesgericht, in dem um diese Tageszeit irgend jemand anwesend zu sein hatte.
Als er eintrat – seine kleine Frau wirkte hinter ihm wie versteckt –, begegnete er zunächst Runzelmann, der eben durch den schmalen Korridor lief.
»Richter Ed Crazy Eagle?« fragte Booth kurz und fordernd.
»Nicht da. Nur der Präsident.«
»Muss ihn sprechen.«
»Es findet eine Verhandlung statt. Sie müssen leider warten.« Runzelmann begriff, dass der Pächter der großen Ranch, Isaac Booth, sein Ansehen in jeder Weise gewahrt wissen wollte. Er führte ihn daher in das zur Zeit leere Arbeitszimmer von Ed Crazy Eagle und bot ihm und seiner Frau die vorhandenen drei Stühle zur Auswahl an.
Isaac Booth setzte sich.
»Der Präsident wird nicht gern gestört, und die Verhandlung ist wichtig und schwierig«, erklärte Runzelmann. »Wenn ich einzutreten und zu stören und zu fragen wage, ist es besser, ich weiß irgendein Stichwort. Wollen Sie mir einen Hinweis geben?«
Isaac Booth kämpfte mit sich. Er gab nicht gern bloßes Geschwätz weiter, aber es ging um seinen Sohn, und er wünschte auch diesen Gerichtsbeamten zu zeigen, dass Booth senior nur kam, wenn er ein Anliegen hatte, das in das amtliche Getue wie ein Blitz einzuschlagen geeignet war.
»Joe King hat meinen Sohn ermordet.«
Die Wirkung war da.
Runzelmann blieb eine Sekunde fassungslos, zog dann jene Runzeln zusammen, die er nur bei besonderen Anlässen, vielleicht alle fünf Jahre einmal, krauste, und entfernte sich ohne ein weiteres Wort langsam, im Tempo und Rhythmus eines Leichenträgers. Nicht anders war ihm innerlich zumute.
So hatte es also kommen müssen.
Er zögerte noch einen Augenblick vor der Tür des Präsidentenzimmers, verstand die Worte, die herausdrangen, vor Aufregung nicht, obgleich sie hörbar waren, und klinkte dann auf. Erst zu klopfen, schien ihm der gegebenen Situation nicht angemessen. Der indianische Gerichtspräsident war mitten im Sprechen, sah den Eintretenden mit dem Blick an, der warten hieß, und fuhr dann fort.
Seinem Tisch gegenüber standen die beiden Polizisten, der lange und der kleine, in ihrer Mitte Joe King. Er hatte die schwarzen Jeans und das weiße Hemd an. Seine Hände steckten, auf den Rücken genommen, in Handschellen.
Runzelmann blieb in der Nähe der Tür stehen, die er hinter sich wieder geschlossen hatte.
»Es sind Schüsse gehört und es sind Leichen gefunden worden«, sagte der alte Richter. »Wo warst du in der Sturmnacht, Joe King?«
»Ich verweigere die Aussage.«
Es schien Runzelmann schon viel, dass Stonehorn diese vier Worte aussprach. Runzelmann hatte nichts als Schweigen erwartet, so, wie er Stonehorn beurteilte und sein Verhalten schon mehr als einmal erlebt hatte.
Der alte Richter war erbittert. »Du willst uns die Sache schwer machen. Das hat dir schon manchmal genützt, aber es wird dir nicht immer nützen. Du bist hier bei der Agentur gesehen worden, am Abend, dafür gibt es Zeugen genug. Dann bist du verschwunden. Wenn du nicht nachweisen kannst, wo du warst, wird es nicht schwerfallen, den Indizienbeweis zusammenzustellen. Du hast schon zweimal unter Mordverdacht gestanden und bist nur aus Mangel an Beweisen freigesprochen worden. Du hast dich jetzt widersetzt, als du vor Gericht erscheinen solltest. Schon dafür wirst du bestraft werden.«
»Ich habe mich nicht widersetzt.«
»Die Aussagen der beiden Polizisten liegen vor.«
»Ich habe mich nicht widersetzt. Wenn ich mich widersetze, bin ich mit den beiden Figuren hier in spätestens fünf Sekunden fertig. Davor haben sie vielleicht Angst gehabt, und darum haben sie mich angegriffen, ehe sie überhaupt ein Wort gesagt hatten.«
»Die gegenteiligen Aussagen der beiden Polizisten liegen vor.«
»Die Aussagen sind falsch.«
»Nimm deine Zunge in acht, Joe King. Die Aussagen werden beschworen werden, daran zweifle ich nicht.«
Die Polizisten nahmen eine zustimmende Haltung ein.
»Ich frage zum letzten Mal: Wo bist du gewesen, und woher stammt dieses silberne Halskettchen, das man bei dir gefunden hat?«
»Ich verweigere die Aussage.«
Der Richter atmete unwillig und wandte sich, um eine Pause auszufüllen, Runzelmann zu. »Was ist?«
»Die Eltern von Harold Booth sind da und wünschen Sie zu sprechen.«
»Isaac Booth soll hereinkommen.«
Runzelmann führte den Rancher in das Präsidentenzimmer, das als vorläufiger Verhandlungsraum einer Voruntersuchung diente. Als Booth Joe King in Handschellen sah, wurde er wesentlich sicherer. Bis dahin hatte er noch etwas gezweifelt, ob es richtig sein könne, einen Joe King zu beschuldigen, wenn man auf einer einsamen Ranch lebte.
»Sie haben ein Anliegen, Booth?«
»Mein Sohn Harold ist verschwunden. Er ist seit jener Sturmnacht verschwunden. Am Abend war er noch in der Nähe des Supermarkts gesehen worden, zu der gleichen Zeit wie Joe King. Queenie Halkett kam dazwischen.«
Der Richter schaute starr auf den Mann, der diese Angaben machte. Dann holte er langsam, als ob es ihm selbst schwerfalle, das silberne Kettchen heraus, das die Polizisten bei Joe Kings Verhaftung beschlagnahmt hatten. Er winkte Booth, näher zu treten, und gab ihm das Kettchen in die Hand.
»Kennt Ihr diesen Gegenstand?«
»Ja.« Die von Arbeit zerfurchte, mit harter Haut überzogene Hand zitterte. »Das … das ist … das Kettchen, das mein Sohn … stets … um den Hals trug.«
Isaac Booth gab das Kettchen an den Richter zurück, mit einer mühsamen Bewegung. Seine Schultern waren vorgesunken. Er hatte beim Richter vorsprechen wollen, aber im Innersten hatte er gehofft, dass sich der Verdacht sofort in nichts auflöse. Er wollte seinen Sohn nicht tot, sondern lebendig wissen. Aber jetzt gab es für ihn keinen Zweifel mehr. Das Geschwätz enthielt grausige Wahrheit.
Der Richter fasste Stonehorn fest ins Auge. »Joe King … du hast Harold Booth ermordet.«
»Nein.«
»Wo warst du in jener Sturmnacht?«
»Ich verweigere die Aussage.«
»Wie bist du in den Besitz dieses Kettchens gekommen?«
»Ich habe es gefunden.«
Auf der Stirn des Richters schwoll eine dicke Ader. »Dein Volk schämt sich deiner, Joe King. Wenn du nicht nachweisen kannst, wo du in jener Nacht gewesen bist, und nicht nachweisen kannst, wie du in den Besitz dieses Kettchens kamst, so ist dir das Todesurteil dieses Mal gewiss.«
Stonehorn schwieg.
»Sag mir doch wenigstens, du Mörder, wo du meinen toten Sohn gelassen hast!« schrie der alte Rancher. »Sag mir doch das, damit ich ihn in die Erde legen kann und ihn nicht irgendwo die Geier zerhacken!«
Booth stand an der Seite des Richtertisches. Er konnte Joe King in das Gesicht sehen, das völlig unbeweglich blieb. »Du Bandit und Sohn einer Mörderin …« Booth kannte sich nicht mehr. Er wollte auf den Gefesselten einschlagen. Ein Polizist fing seinen Arm ab.
Booth keuchte. »Wo ist … seine Leiche?«
Joe King schwieg.
»Wo willst du das Kettchen gefunden haben?« Auch der Richter vermochte seine Erregung kaum mehr zu unterdrücken.
»Ich habe es am Straßenrand im Gras zufällig gefunden, hundertfünfzig Fuß von den Häusern hier entfernt, in Richtung New City. Es machte den Eindruck, dass es dort schon länger lag.«
»Wie bist du darauf gekommen, dort dieses Kettchen zu suchen?«
»Ich habe es nicht gesucht. Ich habe es rein zufällig gefunden.«
»So. Du hast es rein zufällig gefunden. Wann?«
»Vor einer Woche.«
»Warum hast du es nicht abgeliefert? Es ist aus Silber.«
»Das interessierte mich nicht.«
»Das interessierte dich nicht. Was interessiert dich denn?«
»Ich verweigere die Aussage.«
Es trat eine Pause ein. Der Richter hatte ein weißes Blatt vor sich, auf dem schon einige Punkte notiert waren, und vervollständigte jetzt mit eigener Hand diese Protokollunterlagen. Er wollte sich damit zur Ruhe und zur Sachlichkeit zwingen.
Isaac Booth war auf einem Stuhl zusammengesunken und legte die Hand über die Augen. Runzelmann lehnte an der Tür.
Straff standen nur die beiden Polizisten und Joe King. Der größere der Polizisten hatte Joe King fest am Arm gepackt, der kleinere hatte die Pistole gezogen, denn beide fürchteten einen Ausbruchsversuch des Angeschuldigten. Er hatte immerhin die Füße frei.
Joe King schaute auf die Pistole mit einem Ausdruck jener mitleidigen Verachtung, die ihm schon viele Feinde gemacht hatte.
»Können wir heute vormittag noch etwas tun, um mehr Licht in die Sache zu bringen?« fragte der Richter Runzelmann, der als besonders bewandert in allen Stammesverhältnissen und -wirrnissen galt. Runzelmann beantwortete die Frage nur ungern, aber er tat es.
»Vielleicht kann Queenie Halkett irgendeinen Hinweis geben. Sie ist an jenem Abend vor dem Supermarkt gesehen worden. Ihr Wagen stand dort.«
»Das Mädchen weiß überhaupt nichts«, sagte Stonehorn kurz und heftig mit einem feindseligen Blick auf Runzelmann. Der Richter hob langsam den Kopf und schaute Joe King von unten herauf an. »Das war in allen deinen vielen Verhören das erste Mal, dass du voreilig und ungefragt und unklug geantwortet hast, Joe King. – Wir werden Queenie rufen.«
Der Angeschuldigte kam in die denkbar schlechteste Stimmung, nachdem er sich eine Blöße gegeben hatte. Nichts konnte er weniger ertragen, als verwundbar oder überhaupt in seinen eigenen Augen unvollkommen zu erscheinen. Tashina würde denken, dass er es war, der sie in diese Sache durch irgendwelche Aussagen hineingezogen hatte. Natürlich wurde sie erst getrennt von ihm vernommen. Er konnte ihr keinen Wink geben; er konnte sie von sich aus nichts wissen lassen, gar nichts. Wahrscheinlich spielte sich dann eine Szene ab, in der sie ihn zu verleugnen suchte, oder sie sagte, vom Richter gedrängt, zuviel. Die Polizisten, die Richter, diese Familie Booth würden triumphieren, und Queenie würde zu leiden haben. Stonehorn war nahe daran, wirklich einen verrückten Ausbruchsversuch zu wagen, um die Vernehmung von Queenie noch abzuwehren.
Aber er sagte sich, dass auch dieser Weg nicht mehr gangbar war, denn die Zeugin Queenie wurde durch einen solchen Vorgang nicht weniger interessant.
Der Richter ließ Stonehorn abführen. Er wurde in die Zelle mit vergittertem Fenster gebracht, die gleich neben dem Gerichtshaus zu dem primitiven Polizeigefängnis gehörte.
Stonehorn kannte die Zelle schon lange und zur Genüge. Er ließ sich auf dem Hocker nieder. Seine Hände blieben gefesselt. Dauernd schaute bald der eine, bald der andere Polizist prüfend durch den Spion an der Tür.
Unterdessen war Runzelmann beauftragt worden, Queenie unauffällig herbeizuschaffen. Der Richter wollte der Familie Halkett und dem Mädchen selbst möglichst alle Schande ersparen. Wenn ein Name überhaupt im Zusammenhang mit Joe King ins Gerede kam, gleich, aus welchem Grunde, so schien er beschmutzt. Der alte Richter bereute schon fast, dass er auf den Vorschlag Runzelmanns eingegangen war.
Aber nur an diesem Punkt konnte die Raubtierfalle für Joe King aufgestellt werden.
Runzelmann stand auf der Straße und überlegte.
Queenie konnte an diesem Tag nur an zwei Plätzen gefunden werden, rechnete er, denn es war Donnerstag, und für jeden Donnerstag hatte sich das Mädchen mit der Töpfermeisterin verabredet, die in der kleinen Werkstatt nahe der Agenturstraße Töpfereien mit alten symbolischen Mustern herstellte. Queenie wollte die Töpferarbeit studieren, um künstlerische Entwürfe vielleicht dafür nutzbar machen und den Absatz heben zu können. Die Leute auf der Reservation waren arm, und noch waren viel zu viele arbeitslos. Man musste sich Gedanken machen, was es Nützliches und Schönes zu schaffen gab, um mehr Hände zu beschäftigen. Der Stammesrat und auch Mr Haverman hatten Queenies Vorhaben begrüßt; man sprach davon. Wie tüchtig war dieses Mädchen, das sich selbst Ferienarbeit suchte und nicht auf die Bemühungen der Verwaltung wartete.
Der alte Wagen der Familie Halkett parkte nicht an der Straße, aber das wollte nichts sagen, denn Queenie konnte mit einem Pferd gekommen sein, oder vielleicht hatte irgendein entfernter Nachbar sie unterwegs mitgenommen. Aber es schien Runzelmann gewiss, dass Queenie entweder zu Hause, wahrscheinlicher aber in der Töpferei zu finden war. Die Töpfermeisterin war eine Verwandte Runzelmanns. Sie war eine kluge und stille Frau.
Runzelmann schlenderte zu der Werkstatt. Er traf dort die Töpferin und Queenie, wie er gehofft hatte, grüßte und tat, als ob er es keineswegs eilig habe. Queenie ließ sich eingehend die Technik der Töpferei erklären, denn ohne diese zu kennen, konnte sie natürlich keine Vorschläge machen. Sie fragte schließlich, ob sie nicht erst einmal in den Ferien mitarbeiten dürfe und vielleicht dann nächstes Jahr neue Entwürfe zeigen könnte. Da hörte sie, dass es wenig Aufträge gab und kein Geld, um auf Vorrat zu arbeiten. Die Reservation war vom Tourismus noch kaum berührt, und die Erzeugnisse des Kunsthandwerks verkauften sich hier schwerer als in jenen Gebieten, die durch landschaftliche Schönheit Urlauber anzogen.
Die Praxis mochte Queenie in diesem Augenblick wie eine altbackene, eingeschrumpfte Frau erscheinen, die den hochfliegenden Luftgebilden guten Willens Gewichte anhängte und sie herabzog.
»Wirst du auch die 12. Klasse der Schule besuchen?« fragte Runzelmann aus dem Hintergrund; er lenkte damit ab und fing Queenies Aufmerksamkeit für sich ein.
»Natürlich. Ich springe doch nicht ein Jahr vor dem Abschluss ab.« Queenie hatte diese Antwort schnell, aus ihrem ganzen bisherigen Gesichtskreis her gegeben. Als der Satz zu Ende gesagt war, fiel ihr ein, dass sie in diesem Jahr vielleicht einem Kind das Leben schenken würde.
»Das ist gut. Und dann wird geheiratet?«
Queenie war einen Moment verblüfft. Wovon sprach denn dieser Runzelmann? Sie fing sich noch rechtzeitig.
»Wie kommt Ihr denn darauf, Runzelmann?«
»Nun, weil Harold Booth schon so ungeduldig ist.«
»Es ziemt sich für einen Indianer, geduldig zu warten. Ein Jäger muss lange auf der Lauer liegen können, bis der rechte Moment kommt.«
Runzelmann begriff, dass das Mädchen von dem Verschwinden Harolds nichts ahnte. Queenie konnte viel in sich verschließen, aber sich derart zu verstellen, das hatte sie wohl kaum gelernt.
»Stonehorn ist verhaftet«, sagte er.
»Warum?« fragte Queenie ernst und ruhig.
»Er hat Harold ermordet.«
»Wer sagt das?« In Queenies Verhalten gab es kein Zeichen der Unruhe.
»Das Kettchen, das Harold immer um den Hals trug, wurde bei Stonehorn gefunden, und Stonehorn kann nicht nachweisen, wo er sich in der Sturmnacht befand, als Harold zum letzten Mal gesehen wurde.«
»Er muss doch irgendwo gewesen sein.«
»Allerdings, denn ein Geist ist er nicht, wenn es auch manchmal so scheint.«
»Was sagt er denn aus?«
Runzelmann wusste sehr gut, dass er seine Befugnisse überschritt. Er sollte Queenie nicht aushorchen und sie auch nicht etwa informieren, er sollte sie lediglich zum Zeugenverhör bringen. Aber so, wie er Queenie kannte, bestand die Gefahr, dass sie dort den Mund noch weniger auftat als Joe King. Hier bei der Töpferin ließ sich ein Gespräch besser an. Er wollte aber Queenie helfen, wenn es möglich war, denn er war es gewesen, der ihren Namen in die Verhandlung hineingezerrt hatte.
Er gab dem Mädchen Antwort: »Stonehorn verweigert die Aussage.«
»Warum?«
»Das weiß wohl nur er selbst.«
»Aber klug ist es nicht?«
»Wenn er den Mord begangen hat, ist es das einzige, womit er die Sache noch hinziehen kann. Denn verlässliche Zeugen für ein Alibi findet ein Joe King nicht. Die Indizien sind aber eindeutig. Diesmal werden sie ihn wohl hinrichten.«
Queenie hatte die Lider gesenkt.
»Die Kassiererin des Supermarkts hat dich am Abend vor dem Sturm gesehen.« Das war eine weitere Testfrage.
»Natürlich. Ich hab dort eingekauft.«
»Ja, so hat die Kassiererin auch berichtet. Und in der Nacht darauf hat es Schüsse gegeben, die sind gehört worden, und es hat Tote gegeben, die sind gefunden worden. Dein Vater hat Anzeige erstattet, und Joe King wurde verhaftet, weil er am ehesten eines Mordes verdächtig ist.«
»Harold war unter den Toten?«
»Nein, unter diesen Banditen war er nicht. Wir haben die Toten schon identifiziert. Es sind Kumpane von Stonehorn gewesen, die ein unrühmliches Ende verdient und gefunden haben. Bandenkrieg. Darum kümmert sich unser Gericht nicht.«
»Und was ist nun? Warum bist du hierhergekommen?«
Runzelmann lächelte verstohlen. Das Mädchen war nicht dumm. »Der oberste Richter will dich befragen, da du zu denjenigen gehörst, die Harold und Joe zuletzt vor der Sturmnacht gesehen haben.«
»Gut. Wann muss ich kommen?«
»Am besten gleich. Aber wenn du dich erst mit deinem Vater besprechen willst, Queenie, dann werde ich dir die Zeit dazu auf irgendeine Weise verschaffen.«
»Es gibt gar nichts zu besprechen.«
Runzelmann atmete auf. »Also komm mit, dann hast du es hinter dir.«
Die beiden machten sich zusammen auf den Weg zum Stammesgericht. Als Queenie in das Zimmer des alten Gerichtspräsidenten eintrat, war dieser allein, und auch Runzelmann, der Queenie bis dahin begleitet hatte, zog sich zurück.
Der Richter lud Queenie ein, Platz zu nehmen.
»Es tut mir leid, Queenie. Du bist ein angesehenes Mädchen aus einer angesehenen Familie. Allein dadurch, dass dich ein Bandit begrüßte und … und … dass … du! … du! … seinen Gruß erwidert hast, wirst du nun in diese Verhandlung hineingezogen, die den Namen ›In Sachen Joe King‹ tragen wird. Du siehst, dass es besser ist, sich von solchen Menschen vollständig fernzuhalten. Aber was geschehen ist, lässt sich leider nicht ändern.«
Queenie zeigte in ihren Mienen die Erwartung, dass der Präsident weitersprechen werde.
»Es geht um einen Mord, und so geht es jetzt auch hier vor unserem Gericht um Tod und Leben. Es geht aber auch darum, dass wir vor künftigen Mordtaten sicher sein wollen, und das wird nur der Fall sein, wenn wir den Mörder nie mehr unter uns zu haben brauchen.«
Queenie schwieg. Es wurde auch keine Antwort von ihr erwartet.
»Ich habe mir das überlegt«, sprach der alte Richter weiter. »Ich wollte dich möglichst schonen. Aber du bist ein Mädchen aus der Familie Halkett, und deine Vorfahren sind Ratsmänner unseres Stammes gewesen. Ich kann dir zutrauen, dass du immer tapfer bleibst und dass du nicht diese überflüssigen und unnützen Regungen kennst, die die weißen Männer Nerven nennen.«– Der alte Richter machte eine Pause, als ob er einen Entschluss noch einmal überlege, und gab ihn dann bekannt: »Ich werde dich jetzt dem Joe King gegenüberstellen. Was er auch sagen mag, fühle dich nicht befleckt durch seine möglichen Lügen. Damals vor dem Supermarkt wurdest du überrumpelt, aber nun bist du auf alles gefasst.«
»Das bin ich.«
Ich befehle meinem Gesicht, eine Maske zu sein … meine Gefühle sind verwundbar … sie müssen bedeckt werden …
Queenie dachte an diese Worte, die aus ihr geboren waren und die Conny als die seinen hatte drucken lassen. Diese Zeit war vorbei. Es waren erst zwei Wochen vergangen, und schon schien ihr die Schule weit in der Ferne zu liegen, in einer Ferne, die sie nie mehr würde erreichen können, auch dann nicht, wenn sie einmal in jenes Zimmer mit den schweigsam abgeschatteten Farben und den sprechenden Bildern zurückkehrte.
Sie wies alle schweifenden Gedanken fort, denn der Richter hatte Runzelmann beauftragt, Joe King herüberbringen zu lassen. Sie hörte, wie Runzelmann das Gerichtshaus verließ.
Sie hörte, wie wenige Minuten später die Haustür wieder geöffnet wurde, wie schwere und mittlere Tritte hereinkamen, zwischen denen sie leichte nicht zu erlauschen vermochte. Vor der Tür des Raumes, in dem sie saß, machten alle Tritte halt. Der große Polizist öffnete und zog Joe King am Arm hinter sich her, der kleine folgte, die Pistole wieder in der Hand.
Die Tür wurde von Runzelmann verschlossen; er drehte den Schlüssel zweimal im Schloss. Dann stellte er sich auf die linke Seite des Verhafteten, während der Polizist mit der schussfertigen Pistole hinter dessen Rücken stand.
»Was ist los?« fragte der alte Richter. Er befürchtete, dass man ihm Vorwürfe machen würde, wenn in Gegenwart des Mädchens irgend etwas geschah, was der Ordnung nicht entsprach.
»Der Bursche da ist schlechter Laune.«
»Weiter nichts?«
»Noch nicht.«
Queenie sah Stonehorn an. Sie suchte unentwegt seine Augen, und er wich nicht aus, sein Ausdruck war aber abwesend.
»Joe King!« begann der Richter mit jener scharfen Stimme, die Ed Crazy Eagle schon einmal aufgefallen war. »Wo warst du in der Sturmnacht?«
»Ich verweigere die Aussage.«
»Woher hast du das silberne Kettchen, das Harold stets um den Hals getragen hat?«
»Ich habe es gefunden.«
»Wir wissen bereits mehr, als du zu glauben scheinst. Es ist besser für dich zu gestehen.«
Auf den Zügen des Angeschuldigten erschien die verächtliche Herablassung, die dem alten Richter oder auch möglichen Aussagen von Queenie gelten konnte. Wer wusste es? Joe King kannte die Taktik richterlicher Vernehmungen.
»Wie kamst du dazu, Miss Halkett auf offener Straße wie eine Bekannte zu grüßen?«
»Wir sind früher in die gleiche Schule gegangen.«
»Grüßt du alle ehemaligen Schüler dieser Schule?«
»Mag sein. Aber das übersteigt mein Erinnerungsvermögen.«
»Das übersteigt dein Erinnerungsvermögen.«
»Ja.«
»Du hast in den vielen Untersuchungen, zu denen du die Gerichte gezwungen hast, und im Gefängnis offenbar nicht wenig gelernt.«
»Ich war immer ein schlechter Schüler.«
»Und ich habe es satt, dass du junger Bursche und Bandit mir auf diese unverschämte Weise begegnest! Verstanden?«
»Ja.«– Stonehorn sprach dieses Ja stets ganz kurz, wie abgehackt.
Der alte Richter war über sich selbst ärgerlich. Er hatte sich von der Vernehmung Joe Kings in Gegenwart des Mädchens irgend etwas versprochen, was nun nicht eintrat. Joe hatte seine volle Selbstbeherrschung wiedergewonnen und spielte mit Aussagen wie mit einem Colt in der geübten Hand.
»Du scheinst dich damit abgefunden zu haben, dass du als Mörder hingerichtet wirst, denn du bist klug genug, um zu wissen, dass deine Aussageverweigerung die Indizien nicht mehr entkräften kann. Zweimal hast du dieses Spiel gespielt, das dritte Mal bist du dran.«
Stonehorn schwieg. Er wusste genau, dass der Richter ernst machen wollte und ernst machen konnte. Harold Booth war zwar nicht als Leiche gefunden worden, und die Indizien waren schwach, aber gegen einen Joe King konnte man jetzt jedermann aufbringen.
Tashina sah immer noch unentwegt auf Joes Gesicht. Wann auch immer er ihren Blick suchen würde, er sollte ihn finden. Und in diesem Moment blitzte ein Gruß in seinen Augen auf. Der Richter hatte es bemerkt.
Er wandte sich Queenie zu. »Haben Sie etwas zu sagen? Irgend etwas beobachtet, was hier dienlich sein kann? Wissen Sie, wohin sich Joe King gewandt hat, als Sie mit Ihrem Wagen abfuhren?«
»Ich war in dieser Nacht mit ihm zusammen.«
»Du … wo?!« Der alte Richter musste alle Nervenkräfte zusammennehmen, um die Frage in würdig bleibendem Ton zu stellen.
»Darüber verweigere ich die Aussage.«
»Queenie! Was heißt das?«
»Ich war mit ihm zusammen.«
Der Richter erhob sich. »Queenie! Er hat dich vergewaltigt?«