Markus Blume führt dich durch die Zeit

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Nach meinen inneren Unterredungen meldete sich endlich Interesse in mir an der Geschichte. Eigentlich gar nicht uninteressant, dieser Fall! Ich musste sofort an die Akte aus Pankow! Seite für Seite durchforschte ich die Papiere, aß dabei mein Pausenbrot und trank wie immer meinen obligatorischen halben Liter Fruchtsaft.
Nachdem ich mich mit den Unterlagen etwas vertraut gemacht hatte, schrieben meine Hände eine Liste der zu klärenden Punkte auf. Ich fange meist mit dem Grundbuch an und setze meinen Weg dann systematisch in die Vergangenheit fort. Irgendwie ist es doch erstaunlich, welche Schaffenskraft der Mensch zu erreichen vermag.
„Komisch, der eine sucht den Weg, allem aus dem Weg zu gehen“. Andere suchen ihr Heil im Streit und Zerwürfnis. Der Dritte ist mehr mein Naturell: Er sucht nach dem verborgenen Schatz. Natürlich nicht den materiellen, nein, dazu ist die Zeit zu schade. Er sucht nach dem, was uns auszeichnet, nach dem Spürsinn, der kleinen Trüffelnase.
Das ist unser Lebenselixier, das lässt uns Freiraum, um von dem Alltäglichen Abstand zu bekommen. Ja, das ist es, was wir suchen, kleine Trüffelsucher in dieser Stadt …
Nachdem ich mir die Eckdaten zusammengestellt hatte, wollte ich mir am nächsten Tag das Grundstück in Pankow ansehen – natürlich nur, wenn der Sturm sich gelegt hatte und ich in der Lage war, den Ort sicher zu betreten. Denn in Gefahr wollte ich mich nicht begeben, dazu hing ich doch zu sehr an meinen Leben.
Wie es aussah, war der Tag fast zu Ende. Die ersten Kollegen verließen ihre Büros. Ralf und ich waren fast immer die Letzten. Heute saßen wir gegenüber von unserem Büro noch ein bisschen im Café und unterhielten uns über die Dinge des Lebens.
*
Ralf brauchte nichts mehr einzukaufen; er hatte für seine Familie schon alle Geschenke beisammen.
„Und, Ralf“, fragte ich ihn, „wie sieht es bei dir aus? Gehst du zu jemand Heiligabend?“
„Nee, ich bleibe zu Haus und werde mich mal so richtig ausschlafen.“
„Was, du besuchst keine Bekannten?“
„Nein, Ich habe dir doch gerade gesagt, ich bleibe zu Haus.“
Als ich durch die Scheibe nach draußen guckte, bemerkte ich, wie Ralf mich anschaute. Er schüttelte den Kopf. Ich tat so, als ginge es mich nichts an.
Wir gönnten uns noch einen Milchkaffee und einen kleinen Kuchen. Draußen schneite es unaufhörlich; der Sturm hatte sich noch nicht gelegt. Nachdem wir ein Glas Barolo getrunken hatten, verließen wir gegen halb sieben das Kaffee. Ralf lief zum Bus. Er brauchte nur drei Stationen zu seiner Wohnung.
Die Akte Petach, die ich für morgen in meine Tasche stecken wollte, suchte ich vergebens. Meine Aktentasche war leer. Ein heißer Blitz durchfuhr mich: Ich hatte sie auf der Heizung im Büro liegengelassen! Also wieder zurück ins Büro. Im Haus war keiner mehr – nur Norbert, der Hauswart. Er wohnte im zweiten Stock. Ich klingelte ein paar Mal kräftig.
„Ja, wer stört mich beim Abendbrot?“
„Ich bin es, Markus!“
„Mann oh Mann, nicht du schon wieder! Warte, ich komme runter!“
Der Sturm schüttelte mich vor dem Eingang durch; die Zeit wollte nicht vergehen. Ungeduldig stand ich vor der Tür – wo er wohl blieb? Es vergingen nur Minuten, bis der Hauswart an der Tür war, aber durch das missliche Wetter wurde die Zeit ellenlang.
Norbert und ich fuhren mit dem Fahrstuhl ins zweite Geschoss. Hier trennten sich unsere Wege. Der Fahrstuhl summte leise bis zum siebten Geschoss. Es waren nur ein paar Schritte bis zum Büro. Ich schloss die Tür auf. Im Halbdunkeln fiel mein Blick auf die Heizung. Hier lagen die Unterlagen.
Beim Einpacken der Akte fiel ein alter Schlüssel aus einem kleinen Seitenfach auf den Boden. Ich hob ihn auf, schob ihn in die Aktentasche und machte mich endlich auf den Heimweg.
Minuten später saß ich entspannt in der U-Bahn. Auf einmal fiel mir der Schlüssel ein. Ich stellte mir vor, morgen in der Frühe in Pankow im Schnee zu stehen, keinen Schlüssel dabei. Das wäre für mich ein Grund gewesen zu hinterfragen, ob das, was mir so alles unterlief, noch ganz normal war. Ich brachte meine Gedanken schnell auf einen anderen Weg und dankte dem Zufall, dass ich meinen Weg noch mal über das Büro genommen hatte.
In der U-Bahn war nicht viel los. Schräg gegenüber unterhielten sich zwei Frauen mit vollen Taschen. Die hatten bestimmt viel Geld für Weihnachten ausgegeben. Ich fühlte Ruhe in mir und diese quirlige Gelassenheit, Menschen zu taxieren. „Ich bin ein Meister in meiner Welt, Markus, eben.“
„Mir gegenüber saß ein Mann, der diese Zeitung zwischen seinen fetten Fingern hielt“. An der linken Hand trug er einen übergroßen Ring mit einem Löwenkopf mit roten Augen. Seine Fingernägel hatten schwarze Ränder. Als ich meine Augen auf seine Schuhe lenkte sah ich, sie waren voller verkrustetem Dreck. Schlampe!
Ich versuchte, mit meinen Blicken die Zeitung zu durchdringen, um in das fette Gesicht dieser Type zu gelangen. Zuerst lief alles gegen mich. Er rührte sich nicht. Ab und zu stiegen kleine Wolken Zigarrenrauch auf. Beim Betrachten der Wölkchen fiel mir auf, dass der Mann die Zeitung auf dem Kopf hielt. Was für eine Kunst! Rauchend im Zug, dazu noch die Zeitung rückwärts lesend, perfekt! Meine Blicke vertieften sich noch mehr in die Zeitung.
„Ich starrte auf ihren Mittelpunkt. Langsam, ganz langsam senkte sie sich, sachte, zuerst sah ich nur die nach Gel triefenden angegrauten krausen Haare am Schädel angepresst, dann erschien das Gesicht. Erst die Stirn mit kleinen Falten, dann die buschigen Augenbrauen, seine stahlblauen Augen passten überhaupt nicht zu diesem Typen.“
Oh Schreck, was für eine rote Nase der hat, dachte ich. Ich sah in sein Gesicht, aufgeblasen wie ein rosa Luftballon und dieses schaute mich über die Zeitung geradewegs an. Dabei zog er kräftig an seiner Zigarre.
„Ich lachte ihn an, sagte fröhlich, wie man eben zu seinen Mitmenschen sein sollte: „Sie haben schon seit zwanzig Minuten Ihre Zeitung auf den Kopf gelesen! Wie machen Sie das denn?“
Der Fette bekam einen hochroten Kopf. Oh Mann, gleich platzt er!
In diesem Moment sprang der Kerl auf. Ich fürchtete, dass er sich mit einem Wutschrei auf mich werfen würde. Aber nein, was tat er? Er nahm die Zeitung, zerriss sie in Fetzen und schmiss sein Werk auf den Boden, um es mit seinen großen Füßen zu bearbeiten. Dann rannte er ans andere Ende des Abteils. Beim nächsten Bahnhof verließ er den Zug. Was es doch für Menschen gibt.
In der Residenzstraße sah ich plötzlich (Wunder gibt’s doch noch, ich habe meinen Bus erwischt!) war alles voll, Leute mit Paketen und Päckchen zogen durch die Straßen, ja, bald war Weihnachten.
Zu Hause zog ich mich erst einmal aus meinen Körperverpackungen, dann kochte ich mir eine Kanne Tee, Friesentee, und machte mir ein paar belegte Brote. Eigentlich wollte ich noch ein bisschen lesen, hatte aber doch keine richtige Einstellung zur Literatur an diesem Tag. Nachdem ich meine Abendpflege erledigt hatte, schlief ich schnell ein.
*
Am nächsten Tag, dem 22. 12. 1991, stand ich gegen sechs Uhr auf und schaltete schlaftrunken das Radio ein, meinen Lieblingssender, RIAS. Laut Wetterbericht sollte es ein schöner Wintertag werden. Ich freute mich. Der Tag konnte kommen! In mir war ein gutes Gefühl, alles lief prima. Ich hatte nichts vergessen und stand mit allem, was ich für den Tag brauchte, vor meiner Wohnungstür. Im Haus roch es nach Zimt und Honigkuchen. Im zweiten Stock öffnete Erika die Tür.
„Markus, könnten Sie mir heute Abend vielleicht ein paar Sachen mitbringen?“
„Aber sicher doch.“ Ich nahm den Einkaufszettel. Erika wollte mir gleich Geld geben.
„Nein, lassen Sie mal, das können wir doch heute Abend abrechnen …“
Ich machte mich auf den Weg nach Pankow. Auf der Straße überlegte ich: Wie kommst du jetzt am besten zur Wandlitzer Allee 32? Es sind von hier nicht mehr als acht Kilometer, aber die Verbindung mit der BVG ist nicht sehr gut. Ich entschloss mich, ein Taxi zu nehmen. Das konnte mit der Spesenabrechnung eingereicht werden.
Ich ging zur nächsten Ecke, winkte mir ein Taxi heran und setzte mich auf den Beifahrersitz. Der Taxifahrer, ein junger Mann mit Zickenbart, begrüßte mich überschwänglich, als wären wir alte Freunde.
Die Fahrt war schwierig. Überall war die Stadtreinigung dabei, den Schnee in den Griff zu bekommen. Etwas später als ich gedacht hatte, erreichten wir das Ziel.
Ich stieg aus und zahlte im Stehen. Nachdem das Taxi weg war, schaute ich mich um. Ich befand mich in einer Vorortstraße. Die Häuser waren groß, dunkel und wirkten irgendwie, als sei die Zeit stehengeblieben. Ein Großteil von ihnen schien leer zu stehen. Mir gegenüber lag das Grundstück Nr. 32. Der schmiedeeiserne Zaun, der ein großes Anwesen einschloss, war an einigen Stellen brüchig, trotzdem ahnte man noch seine alte Pracht. Hinter dem Zaun standen zwei große Tannen, auf ihren Ästen lag Schnee. Sonnenstrahlen glitzerten darauf.
Beim Betreten des Grundstücks verfing ich mich in einer Rosenranke; die versteckt unter einer weisen Wolke aus Schnee lag, ich brauchte einige Minuten, um mich zu befreien. Alles lag unter einem halben Meter Schnee. Ich versuchte einen Rundgang über das Grundstück. Dabei arbeitete ich Punkte auf meiner Liste ab: Baumbestand, Erschließung, Nebengebäude, eventuelle Altlasten, Abwassergruben lagen unter Schnee verborgen, Zustand der Zäune und Mauern … Gott sei Dank, das hatte ich geschafft!
Ich stieg die flache Außentreppe empor und stand vor dem alten Eingang. Nachdem ich den Schlüssel ins Schloss gesteckt hatte, versuchte ich die Tür zu öffnen. Sie klemmte. Als ich mich dagegen presste, ging es auf einmal leicht.
Ich stand in einem halbdunklen Raum und ließ meine Blicke schweifen. Die Scheiben waren durch den Frost mit Winterrosen verziert – ein schöner Anblick. Nachdem ich mich etwas gesammelt hatte, schloss ich die Haustür hinter mir, nahm meine Taschenlampe und suchte den Keller. Meist liegt er hinter der Küche, richtig, ich stand vor der Kellertür! Bei meinen Recherchen hatte ich einen eigenen Bearbeitungsstil entwickelt: Ich durchsuchte erst immer den Keller auf Feuchtigkeit und Schimmel, nahm dann die Wände sorgsam unter die Lupe und stieg schließlich zu den Speichern hinauf. Dabei erledigte ich meine Strichliste, ging mechanisch Raum für Raum ab.
Der Keller war kalt und dunkel, aber das war ich gewöhnt. Ich leuchtete die Wände mit meiner Taschenlampe ab und fand alles so weit in Ordnung. Nachdem der Keller fertig war, kümmerte ich mich um das Dachgeschoss. Das Treppenhaus lag im Halbschatten; mit meiner Taschenlampe leuchtete ich mir den Weg nach oben. Überall waren Spinnennetze, aber sonst war alles, was ich bis jetzt gesehen hatte, in einem erstaunlich guten Zustand.
Oben angekommen, prüfte ich die Sparren des Dachstuhls. Kein Befall vom gemeinen Holzwurm vorhanden! Komisch, so etwas hatte ich noch nicht erlebt, nicht der geringste Befall. Ich machte ein großes Kreuz auf meiner Liste.
Als ich gerade mit den Zimmern im Obergeschoss anfangen wollte, sah ich einen Lichtschein aus einem Türspalt hervorschimmern. Dazu hörte ich leises Summen. Verdutzt drehte ich den Kopf. Sollte die Sonne schon eine solche Kraft haben? Das konnte zu dieser Jahreszeit eigentlich nicht sein! Langsam öffnete ich die Tür einen Spalt weit. Was ich sah, verschlug mir den Atem. Ich schob meine Hände an den Kopf: „Nee, Fieber haste nicht, alles in Ordnung.“ Ich schlug meine Augen wieder auf.
Ein großer Kerzenständer mit neun Kerzen brannte hell und klar mitten im Raum. Auf einem Plüschsessel vor dem Fenster saß ein Mädchen von vielleicht zehn Jahren. Es spielte mit ihrer Puppe, dabei summte es leise ein Lied vor sich hin. Sie trug ein weißes Rüschenkleid mit Spitzen an den Ärmeln. Ihre roten Haare waren zu Zöpfen geflochten; an ihren Enden hingen weiße Schleifen. Die Schuhe glänzten dunkelrot und waren bis eine Handbreit über den Knöcheln geschnürt.
Plötzlich sprang sie vom Sessel auf und rannte auf mich zu. In der letzten Sekunde drehte sie sich jedoch wieder in Richtung Stuhl und ließ sich fallen wie ein Stein.
Ich hörte, wie sie sang – ein Kinderlied, wie meine Großmutter es mir oft vorgesungen hat.
„Hallo, du, wo kommst du denn her?“
Das Mädchen schien mich nicht zu hören. Mein Puls raste. Ich betrat das Zimmer und wollte das Kind an der Schulter berühren. Meine Hand griff ins Leere.
Erschrocken wich ich zurück. Das Mädchen war so angezogen wie vor achtzig Jahren, auch die Umgebung schien alt zu sein. Ich konnte keinen vernünftigen Gedanken fassen.
Langsam verließ ich das Zimmer wieder, verschloss die Tür bis auf einen Spalt. Wo war ich bloß gelandet? Auf der Treppe setzte ich mich auf die Stufen. Ich versuchte, meine Sinne in normale Bahnen zu lenken, schaffte es aber nicht. Den Handlauf schon in der Hand, sah ich gegenüber aus einer anderen Tür Licht. Meine Neugierde war größer als meine Furcht.
Meine Trüffelnase wurde wach; vorsichtig öffnete ich die Tür. Im Schaukelstuhl wippend, saß ein Mann von etwa siebzig mit einer Pfeife in der Hand, aus der unentwegt Wölkchen stiegen. Langsam bewegte er sein Bein hin und her, im Rhythmus mit seinem sich hebenden und senkenden Brustkorb.
Auf einmal stieg mir ein Duft von Kaffee und Kuchen in die Nase, der von unten zu kommen schien. Was war das jetzt wieder? Ich ging langsam die Treppe nach unten. Durch eine Glasscheibe sah ich altmodisch gekleidete Menschen in einem Raum, der einer Konditorei ähnelte. Sie saßen an Tischen und tranken Kaffee und Kuchen. Markus, du bist in einer Bäckerei gelandet!
Mein Herz schlug schneller. Ich öffnete die Tür. Niemand drehte sich nach mir um. In der Ecke neben der Tür stand ein Weidenkorb, in ihm schlummerte ein kleiner brauner Hund mit schwarzen Augen. Ich winkte ihm zu, aber auch er konnte mich nicht sehen. Was für eine unglaubliche Geschichte!
Immer wieder kamen Menschen, holten Brot und Stollen, ein reges Treiben. In dem Raum, der etwa vierzig Quadratmeter groß sein mochte, leuchteten überall kleine Sterne. Auf einem Tisch in der Mitte stand ein Adventskranz mit drei brennenden Kerzen. Ich blickte auf den Kranz als stände ich unter einem Narkotikum. Hier ist ja die gleiche Zeit wie bei uns 1991!
Neben mir öffnete sich die Tür. Das Mädchen und der alte Mann von oben kamen herein, gingen an mir vorbei, setzten sich an den einzigen noch freien Tisch und sangen Weihnachtslieder. Der alte Mann spielte auf seiner Mundharmonika. Ein schönes Bild. Ich fühlte mich wohl, Tränen traten aus meinen Augen, rollten meine Wangen entlang, fielen zu Boden und platzten wie Knospen im Frühling. Dabei benetzten sie den Raum und berührten den Weidenkorb unter mir.
„Welcher Frieden auf dieser Gemeinschaft ruht, dachte ich.“
Die Zeit ging dahin; langsam wurde es dunkel. Ich bemerkte es nicht. Beiläufig schaute ich auf meine Uhr: Was, schon Viertel nach Vier? Bin ich schon sechs Stunden hier? Ich konnte es mir nicht erklären. Ich musste mich schleunigst auf den Heimweg machen.
Ich hatte überhaupt nicht bemerkt, dass der kleine Hund mir nachlief. Am Ausgang, für den ich immer noch den Schlüssel hatte, stand er neben mir, schaute hoch und roch an meinen Schuhen. Dabei wedelte er mit dem Schwanz.
Was ist geschehen, Markus, fragte ich mich? Es kann doch nicht sein, dass ein Hund mich erkennt, aber all die anderen nicht? Ich trug den Kleinen zurück in den Verkaufsraum, ging schnell zur Tür und verschloss sie hinter mir. Auf der Straße angekommen, konnte ich links neben dem zweiten Eingang an der Scheibe eine Aufschrift erkennen:
Bäcker und Konditormeister Petach
Meine Erlebnisse – „waren sie real gewesen, oder hatte ich mich überarbeitet und sah nun Gespenster?“
Ich ging zur nächsten Bushaltestelle und stieg ein. Auf dem Weg nach Hause fiel mir der Zettel von Erika in die Hände: Schillerstraße bei Edeka: Brot - Butter - Honig - Flasche Rotwein, lieblich stand auf den Zettel, und: schwarzen Tee besorgen. Diese Dinge kaufte ich schnell ein.
Im Haus angekommen, ging ich gleich zu Erika in den zweiten Stock, um ihr ihre Sachen zu bringen.
„Na, Markus, Sie sehen aber ganz schön abgekämpft aus! Was haben Sie denn den ganzen Tag gemacht, dass Sie so fertig sind?“ Sie zog mich in ihre Wohnung. Im Wohnzimmer neben dem Klavier musste ich mich erst einmal setzen.
„Hier, Markus, trinken Sie erst mal einen Tee, dann werden Ihre Lebensgeister schon wieder erwachen!“ Erika lachte.
Auf dem großen Eichentisch stand ein Bunter Teller mit Pfefferkuchen und ein Weihnachtskranz aus Holz, den Erika sich in den zwanziger Jahren bei einem Winterurlaub im Erzgebirge gekauft hatte. In den vergangenen Jahren hatte ich mich hier oft nach schweren Tagen eingefunden. Ich fühlte mich wohl bei ihr, eigentlich wie früher – daheim. Erika setzte sich mir gegenüber an den Tisch, schaute mich durch ihre starke Brille an. Schon als kleines Kind hatte sie Augengläser (Brille) tragen müssen.
„Markus, etwas stimmt nicht mit Ihnen! Möchten Sie darüber sprechen?“
Ich nickte, zum Sprechen war ich in diesem Moment nicht fähig. Erika war eine Frau, die warten konnte – oh ja, und wie! Es war ruhig im Haus, nur von weitem hörte man ab und zu ein Auto. Durch den Schnee war alles leiser als sonst. Ich versuchte, die Ereignisse in meinem Inneren chronologisch zu ordnen, schaffte es aber nicht. Ich räusperte mich noch einmal. Markus, lass einfach los!
Ich begann ihr alles zu erzählen: von dem Haus, dem Kind, dem Mann, von der Bäckerei, von meinen Tränen und von den vielen Menschen. Zum Schluss vergaß ich natürlich auch nicht den Hund: wie er mich erkannt hatte und alles andere. Nachdem ich fertig war, ging Erika in die Küche und schenkte uns erst einmal einen großen Pott Tee ein.
„Markus, was Sie mir da erzählen, das ist ja eine unglaubliche Geschichte.“
„Ja, aber … Erika glauben Sie mir?“
Sie sah meine flehenden Augen. Ein Lächeln huschte über Ihr Gesicht. „Markus, ja, ich fühle, dass Sie die Wahrheit sagen.“
„Ich möchte wissen, warum der Hund mich erkannt hat. Erika, haben Sie dafür eine Erklärung?“
„Dazu, Markus, fällt mir eine Geschichte ein. Vor langen Jahren war mein Vater mit seinem Bruder in den Bergen. Das Wetter änderte sich schlagartig: Sturm kam auf und die beiden waren den Unbilden der Natur hilflos ausgeliefert. Stunde um Stunde tobte der Sturm durch den Wald. Rennend erreichten Sie ein altes moosbewachsenes Haus. Fenster und Tür waren geschlossen. Beide waren völlig durchnässt und warfen sich gegen die Tür, die sofort aufbrach. Vor Schwäche stürzten sie zu Boden und lagen dort bestimmt einige Stunden. Vater ist dann als erster wach geworden, sein Bruder lag neben ihm, weiß im Gesicht. Vater hörte keinen Atem, er schüttelte ihn, aber er wurde nicht mehr wach. Vater weinte bitterlich, er hatte nicht erwartet, in dieser Stunde seinen Bruder zu verlieren! Auf einmal veränderte sich alles: Die Tür ging auf, zwei Männer kamen auf meinen Vater zu, hoben seinen Bruder empor, legten ihn auf den Eichentisch mitten im Raum und sprachen mit sonderbaren Lauten zueinander. Der eine hob seinen Kopf und flößte ihm einen Trank ein.
Innerhalb weniger Sekunden war Vaters Bruder wieder wach, als wäre nichts geschehen. Seine roten Backen strahlten, wie immer. Die Gestalten aber, die dem Bruder neues Leben eingehaucht hatten, verschwanden im Nebel! Das Zimmer wurde wieder zur Nacht. Nachdem der Sturm sich am Morgen gelegt hat, sind beide wieder wohlbehalten zu Haus angekommen. Beide, Vater und Bruder Gustav, lebten noch viele Jahre in Berlin. Er hat mir dies alles erst an seinem Todestag erzählt.“
„Vielleicht ist es die Magie der Tränen, welche die Menschen schützen und in sie dringen, an das Gute zu glauben?“
„Ja, Markus, deine Tränen, sie haben diesen Hund zu deinem Freund gemacht! Lass nicht los, geh wieder hin! Mach deine Arbeit weiter! Aber erst müssen Sie mir eins versprechen, Markus: Erzählen Sie nur mir Ihre Geschichte. Sonst wird alles umsonst sein.“
*
Am nächsten Tag, dem 23. Dezember, meldete ich mich in der Firma und sagte, dass ich noch einen zweiten Außentermin in Pankow bräuchte, weil das Anwesen unerwartet weitläufig sei. Ich wollte die Akte „Wandlitzer Allee 32“ noch bis zum Heiligen Abend fertig stellen.
Gegen zehn war ich wieder vor Ort. Der Schlüssel passte. Die Tür ging leicht auf. Sie klemmte nicht wie gestern. Alles war still. Ich ging nach oben, um meinen Bericht zu vervollständigen. An der Tür angekommen, wo gestern das Mädchen gespielt hatte, klopfte ich. Niemand antwortete. Mit Herzklopfen öffnete ich die Tür. Ich fand alles leer. So begann ich damit, Zimmer für Zimmer in meinen Protokollen festzuhalten.
Zum Schluss vermaß ich den Verkaufsraum. Auch hier war alles leer – fast alles. In der Ecke, wo gestern das Mädchen mit dem alten Mann gesessen hatte, lag eine weiße Schleife. Ich bückte mich und steckte sie in die Seitentasche meines Mantels. Ich war glücklich, weil ich nun wusste, dass alles, was ich erlebt hatte, vielleicht doch real gewesen war.
So verging der Tag.
Ich wollte auch morgen nicht in die Firma. Ich hatte einfach keine Lust mehr, morgen noch für fünf Stunden ins Büro zu fahren! Ich rief Jansen an und meldete mich krank. Er war stinkig, schwafelte was von der Weihnachtsfeier. Mir doch egal, soll er doch seine blöde Weihnachtsfeier ohne mich machen! Ich hatte keine Lust, mir immer die gleichen Redensarten anzuhören. Der Typ ging mir wirklich auf den Keks.
2
Endlich, der 24. Dezember. Weihnachten war da! Ich lag bis um zwei Uhr mittags im Bett und ließ fünfe gerade sein – das hatte mein Großvater immer gesagt, wenn er seine Seele baumeln lassen wollte. Nachdem ich mich so gegen drei fertig machten wollte, klingelte es an der Tür.
Jochen stand draußen. „He, Markus, hast du vergessen, dass wir dich zum Essen eingeladen haben?“
Ich wurde rot. „Scheiße, Jochen, ich habe es wirklich vergessen!“
„Macht“ ja nichts. Los, altes Haus, rein in die Hosen und ab nach unten in die gute Stube!“
Rums, und schon war er wieder weg. Ja, diese Rentner hatten wirklich keine Zeit!
*
Im Treppenhaus fühlte ich zum ersten Mal Weihnachten. Bei Lampe im Erdgeschoss klingelte ich nur einmal. Frau Lampe machte die Tür auf.
„Kommen Sie rein, Markus.“
Im Wohnzimmer waren alle da: Erika saß mit roten Wangen am Ofen, Heinz Grahn und seine Frau links neben Erika. Ich nahm den Platz rechts daneben. Vor dem Essen sangen wir. Es gab Ente mit Rotkohl und Wein. Der Nachtisch bestand aus Mandelpudding mit Sahne und einem kräftigen Schuss Rum.
Wir redeten und lachten, es wurde ein schöner Abend. Schnell verging die Zeit; gegen neun verabschiedete ich mich. Ich wollte noch ein paar Briefe schreiben.
In meiner Wohnung angekommen, fiel mir die weiße Schleife ein, die ich gestern gefunden hatte. Behutsam nahm ich sie aus der Seitentasche des Mantels und hielt sie in meinen warmen Händen. Ich wurde müde und ging schlafen. Lange lag ich auf dem Bett, konnte aber nicht einschlafen. Dreimal stand ich wieder auf.
Markus, was ist mit dir? Wenn du nicht schlafen kannst, geh ein wenig spazieren und lass das Grübeln! Schon gut, hast ja Recht!
Ich zog wieder meine Sachen an und machte mich daran, die Nacht meiner Seele zu spüren. Innerlich war ich von Unruhe erfüllt. Ich ging nach unten auf die Straße. Kein Mensch weit und breit. In den Fenstern leuchteten Sterne und Engel. Wie die Uhren die Zeit ließ mich ein innerer Antrieb einen Straßenzug nach dem anderen ablaufen, ohne Ziel. Als ich endlich auf die Uhr schaute, war es kurz vor zwei. Ich musste zurück nach Hause.
Als ich meinen Kopf hob, oh Schreck, stand ich vor der Haustür Nr. 32! Das alte Haus lag im Dunkeln. Meine Hände tief in den Taschen meines Mantels vergraben, wollte ich mich auf den Weg nach Hause machen – da fühlte ich den Schlüssel in der linken Tasche. Ich zog ihn hervor und hielt ihn fest umschlossen in meiner Faust.
Wie unter einem inneren Zwang bewegte ich mich auf die Tür zu, schloss sie auf und trat in das dunkle Haus. Es war totenstill. Langsam suchte ich meinen Weg in den großen Raum der Konditorei. Die Tür war nicht zu. Langsam öffnete ich sie. Alles war dunkel und leer.

