Markus Blume führt dich durch die Zeit

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Ich setzte mich in die Mitte des Raumes und sang mein Lieblingslied, das ich schon als Kind in der Familie gesungen hatte: Stille Nacht, Heilige Nacht. Dabei hielt ich die kleine Schleife in meiner Hand. Tränen liefen mir die Wangen herab.
Ich war allein und sang in einem leeren, kalten Haus ein Weihnachtslied! Wenn mich jemand hören würde, dachte ich. In meiner Hand aber spürte ich Wärme, die meinem Körper, meine Seele traf wie ein Pfeil der Glückseligkeit.
Ein Licht durchfuhr meine Faust, erschrocken öffnete ich sie. Der Raum wurde von Sekunde zu Sekunde von meiner linken Hand aus, in der die Schleife lag, heller, strahlender. Ich sah plötzlich Konturen von Möbeln und Menschen. Zuerst waren sie nur schattenhaft sichtbar, aber Sekunden später konnte ich alles klar erkennen.
An den Tischen saßen die gleichen Menschen wie bei meiner ersten Begegnung: der alte Mann und das Mädchen. Alle im Raum sangen mein (unser!) Weihnachtslied. „Ich spürte etwas Feuchtes meine Hand berühren.“ Es war die Nase meines Freundes, der kleine braune Hund mit den schwarzen Augen. Ich saß noch immer auf dem Boden. Ich nahm den Hund auf meine Arme und streichelte ihn. Gemeinsam sangen wir. Ich war glücklich. Ja, in mir waren nicht die Zweifler am Werk.
Zum Ende des Liedes erhoben sich alle und drückten mir die Hand. Das kleine Mädchen lachte mich an: „Markus, habe keine Angst, wir möchten uns bei dir bedanken für das Lied, das du für uns gesungen hast! Als Zeichen unserer Liebe möchten wir dir etwas geben, das dich immer an diesen Tag erinnern wird. Unser Weihnachtsgeschenk hast du schon auf den Arm. Es wird dich immer lieben – bis zu seinem letzten Atemzug!“
Langsam verschwanden die Gestalten. „Zuletzt war auch das Mädchen mit den roten Zöpfen fort.“
Ich war glücklich und zufrieden. Ich machte mich auf den Weg nach Haus. Es war schon spät. Der kleine Hund, den ich von jetzt an „Prinz“ nannte, begleitete mich.
Er lief neben mir im Schnee, sprang hier und dort in eine Schneeverwehung.
Ich war ein zufriedener Mensch. Mich konnte jetzt nichts mehr aus der Ruhe bringen! Prinz sollte von diesem Tag an viele Jahre bei mir leben. Über diese Geschichte habe ich noch mit keinem Menschen gesprochen – nicht einmal mit Erika.
*
Zu Hause angekommen, war alles still. Alle schliefen schon. Prinz und ich machten uns daran, die Etagen zu erklimmen. Sein kleiner Stummelschwanz wackelte hin und her, wenn er an den Wohnungstüren der Nachbarn schnupperte. Oben angekommen, blieb er vor meiner Tür stehen. Hier wurde er richtig wild, sprang an der Tür hoch.
„Schon gut, Kleiner, wir sind gleich drin!“
Ich schloss auf. Ich trocknete Prinz erst einmal sein Fell und reinigte ihm die Füße. Danach war ich dran: Ich setzte mir Wasser für eine Tasse Grünen Tee auf.
„Na, Prinz, hast du noch einen Wunsch?“
Prinz schaute an mir hoch, seine Zunge hing aus seiner Schnauze. Was er mir wohl sagen wollte? Ich musste erst einmal nachdenken: Was braucht mein Kleiner? Ein Tier hatte ich bis jetzt noch nicht gehabt. „Meine Gedanken zogen mich wieder in eine andere Zeit.“ schweiften zurück in die Vergangenheit, ich hörte dieses Bellen schon von Weitem mir in der Gedankenwelt entgegen rufen, unser Junge ist zurück.
Hier fiel mir mein Großvater ein, der früher Hunde gezüchtet hatte. Harte Burschen, bissfreudige Monster, gute Auslese für Munitionslager der Armee, ich war ein Mitglied Ihres Rudels geworden. „Damals als Junge …“
Natürlich Markus, ein Hund muss essen und trinken!
Ein Trinkgefäß fand ich im Schrank der Spüle und füllte es mit Wasser. Als Fressnapf nahm ich eine alte Edelstahlschale, die brauchte ich nicht mehr. Was aber sollte ich meinem Hund geben? Hundefutter hatte ich nicht, ich hatte ja noch nie einen eigenen Hund gehabt! Meine Gedanken suchten verzweifelt nach Essbarem. Ich mischte dem Kleinen schließlich ein Fressen à la Markus zusammen: Thunfisch mit Haferflocken und Mohrrüben. „So, mein Kleiner, an die Arbeit!“
Ich war gespannt, wie Prinz diese meine Kreation finden würde.
Seine Nase schnüffelte am Topf. Er drehte sich zu mir um und ich hörte zum ersten Mal sein Bellen – leise, aber wohlwollend. Er ließ nichts übrig, alles wurde mit der Zunge blank geputzt.
Danach gingen wir schlafen. Ich überließ Prinz meinen alten Waschkorb, in den ich noch eine Decke gelegt hatte.
In dieser Nacht begann für mich ein anderes Leben. Die vergangenen Tage ließen mich im Traum alles noch einmal erleben. Schweißgebadet schwamm ich in meiner Traumwelt. Irgendetwas hat mich in seinen Bann gezogen - Das fühlte ich, wer seid Ihr, diesen Hauch, der mich in seine Welt zog, kannte ich noch nicht. sollte ich das noch zu spüren bekommen, oh ja.
*
Am anderen Morgen, als ich meine Augen öffnete, stand Prinz mit seiner feuchten Schnauze am Bett. Als er merkte, dass ich wach wurde, sprang er am Bett hoch, als wollte er sagen: Raus hier, genug geschlafen!
Müde und unausgeschlafen begrüßte ich meinen neuen Freund. Schwankend betrat ich den neuen Tag, tollte mit ihm durch die Wohnung. Laut bellend raste er hinter mir her.
„So, Kleiner, erst mal Pause!“
Ich machte mir einen Tee und verrichtete meine morgendliche Körperpflege. An Essen war noch nicht zu denken, mir war schlecht.
Leise versuchte ich, das Haus allein zu verlassen. Natürlich klappte es nicht: Prinz raste die Treppe runter, dabei sah ich es schon kommen: Seine Krallen versuchten, sich in den Boden zu verkrallen, aber er hatte keine Chance, der Boden wurde von unserer Hauswartsfrau zu gut gebohnert. Prinz purzelte die Treppe runter, ich hörte ihn quieken. Er rappelte sich wieder auf. Jetzt bewegte er sich bedächtiger.
Vor dem Haus Eiseskälte. Prinz stürzte sich in den erstbesten Schneehaufen und forderte mich auf, bei seinem wilden Treiben mitzumachen. Natürlich hatte ich keine Lust, mich am frühen Morgen in einen Schneehaufen zu werfen. Wir gingen die Straße entlang, alles lag noch in stillem Frieden. Ich jagte Prinz mit Schneebällen durch den nahen Park.
„Markus, hörte ich seine, diese bestimmenden Worte, ab nach Hause, deine Füße sind kalt und dein Hunger ist auch nicht ohne!“
Wir machten uns auf den Weg zurück. An der Haustür begegnete uns Heinz Grahn. Erst bemerkte er meinen Hund nicht – als wir allerdings beide im Hausflur waren, spürte er, dass etwas an seinem Hosenbein zupfte. Heinz musste lachen, als er meinen Kleinen sah.
„Mann, wo kommt der denn her? Markus, wie bist du denn auf den Hund gekommen?“
Ich musste innerlich lachen. „Tja, Heinz, eine lange Geschichte.“
*
In den nächsten Tagen wurde unsere Wohnung zur WG. Alle meine Nachbarn wollten Prinz sehen! Hier war es, das Leben im Einklang, das ich mir so wünschte. Nach einigen Tagen normalisierte sich unsere Hausgemeinschaft leider wieder.
Die Tage vergingen; das neue Jahr begann mit Alltag. In der letzten Nacht meiner Freiheit beschlich mich eine seltsame Beklemmung. „Was wollt Ihr von mir?“ In mir sollte sich etwas breit machen, das ich noch nicht kannte. Was es war, wusste ich nicht. Nur spüren konnte ich es. Ich versuchte, meine Gedanken noch ein wenig auf Schlaf zu stellen und mich zu lösen. Ich war angekommen in meiner zweiten Lebenswelt.
Am Morgen machte ich mich auf den Weg zur Arbeit. Alles normal, kein Schneesturm. In der U-Bahn benahm Prinz sich, als wenn er hier zu Hause wäre. Komisch, dachte ich, machte mir aber keine Gedanken darüber. Gelassen schaute sich Prinz die Menschen an, bei einigen verharrte er länger. Manchmal, wenn er die Leute betrachtete, wedelte er leicht mit dem Stummelschwanz, als würde er in ihre Seele schauen und die Guten und weniger Guten erkennen. Welch eine Gabe, dachte ich versunken.
In meinem Inneren merkte ich nicht, wie sich jemand neben mich setzte. Ich hörte ein leises Knurren, augenblicklich erwachte ich. Prinz fixierte mit seinem feinen Gespür einen Mann. Neben mir, oh Schreck, hat sich, dieser aus der Vergangenheit über Kopf lesende Fette niedergelassen! Seine stahlgrauen Augen taxierten mich.
Gott sei Dank mussten wir umsteigen. Wir rannten den Bahnsteig entlang, um den Anschlusszug zu erreichen. So schafften wir in kurzer Zeit den Weg zum Büro.
Hier gab es erst einmal ein großes Hallo. Wir wünschten uns alle ein neues Jahr. Prinz stand natürlich im Mittelpunkt. Er genoss es. Allen musste er Hallo sagen – außer Jansen. Ich sah in seinen Augen Missgunst. Er wollte nicht eine gute, freundschaftliche Atmosphäre – nein, er wollte der Boss sein, ignorant gegenüber dem Normalen, Zwischenmenschlichen. Der Tag konnte nicht gut werden. Scheiße, nicht schon am ersten Tag!
Ich vermisste meinen alten Freund Ralf, hörte, er sei mit Fieber zu Hause geblieben.
Im Büro entledigte ich mich erst einmal meiner Winterklamotten. Am Schreibtisch ordnete ich meine Unterlagen. Prinz legte sich unter meinen Tisch und döste.
Es klopft. Ich rief: „Herein!“ Ich wollte meinen Augen nicht trauen: Jansen stand im Raum an meiner Bürotür! Ich spürte Unheil aufziehen. Seine Augen flackerten nervös und seine Mundwinkel hingen herab wie bei einem Boxer, der sich nach einem Niederschlag aufrappelt.
Ich hörte ihn schwer atmen. „Herr Blume, welche Frechheiten erlauben sie sich eigentlich noch? Erst kommen sie nicht zur Weihnachtsfeier, dann melden sie sich einfach krank und jetzt schleppen sie mir auch noch diesen Köter ins Büro! Es reicht mir mit Ihnen, Blume!“ Seine Gesichtshaut verfärbte sich bläulich.
Ich dachte, er fällt um – sicher sein Herz. Ich merkte: Hier geht es nicht mit rechten Dingen zu. Prinz lag immer noch unter dem Bürotisch. Ich sah, wie er Jansen fixierte. Markus, hörte ich meine innere Stimme, Mach was, sag was, du musst jetzt die Initiative übernehmen!
Ich sprang auf. „Was ist bloß mit Ihnen los, Herr Jansen? Sie kommen einfach in mein Büro und machen mich am ersten Tag hier fertig? Eine verdammte Sauerei ist das!“
Jansens Gesichtshaut verfärbte sich erneut; aus dem Blauton wurde ein schönes tiefes Rot. Er schnappte nach Luft, gleichzeitig fing er an, zu stottern: „Herr Blu-hume, Herr Blu-hume, nicht in diesem Ton mit mir, ha-haben sie mich verstanden!!“
Ich nickte, drehte mich um und ließ mich auf den Bürostuhl fallen. Ruhig, Markus, ruhig, lass den Arsch, ist doch nicht deine Art, dich wegen diesem Blödmann aufzuregen! Ach ja, stimmt, du hast auch recht, was soll’s …
Ich lächelte Jansen an. „Was nun, Herr Jansen?“, fragte ich.
„Was nun, was nun“, quatschte er mir nach, „morgen ist der Köter nicht mehr hier, ist das klar? Oder sie können gleich mit zu Hause bleiben!“
Ich lächelte immer noch. „Aber Herr Jansen, soll ich vielleicht Ihre Worte so zu verstehen wissen: Komme ich morgen noch mal mit meinen Begleiter (wohlweislich nahm ich den Begriff Hund nicht in den Mund), dann schmeißen sie mich raus?“
Jansen schaute mich grimmig an. „Worauf sie Gift nehmen können, Blume! Und einmal raus ist immer raus! Haben wir uns verstanden, mein Freund?“ Türenknallend verließ er mein Büro.
Markus, durchatmen, Fenster auf, lass die negativ geladene Luft entweichen! Mein Kleiner stand neben mir, als würde er mich auffordern, an positive Dinge zu denken.
Na, Lust auf Arbeit? fragte ich mich. Ich hörte mich antworten: Die kannst du für heute ja wohl vergessen! Dabei musste ich so laut lachen, dass einige Kollegen ins Zimmer stürmten und mich verwundert anschauten.
„Markus, alles in Ordnung?“
„Ja“, lachte ich, „alles im grünen Bereich!“ Auf die Attacken Jansens hatten sie überhaupt nicht reagiert. Ja, wie traurig hat sich hier alles zur „Normalität“ entwickelt!
*
Ich fühlte mich gut. Mein Kleiner schlummerte unter dem Tisch, meine Tasche lag noch immer verschlossen vor mir. Mutig zog ich sie an mich, spürte das alte Leder in meinen Händen. Ich wollte sie nicht mehr loslassen. Ach, die vielen Jahre, die sie mit mir meine Wege gegangen ist und mit meiner Trüffelnase die Welt erforscht hat! Ich fühlte die Vergangenheit; in ihr war ich meiner Seele nah. Die Zeit meiner inneren Reise wollte sich in mir austoben. Ich musste mich wieder einmal höllisch zwingen, diesen Weg nicht zuzulassen. He, Markus, du bist auf deiner Arbeit! Schweren Herzens löste ich mich, ja, ich machte mich an die Arbeit – an meinen Auftrag, die Akte Petach.
3
Der Winter war gegangen. Mein erster Blick an diesem Morgen führte mich in mein Selbst. Ordne dich, Markus! Was machen wir mit der Zeit nach dem Aufstehen? He, das fragst du mich jeden Morgen! Hör auf, mich zu bevormunden! Mein Lachen brachte Prinz auf den Plan. Er sprang mit einem Satz auf mein Bett, seine braunen Augen suchten mich. Ach, du meine Güte, Prinz will raus in die Natur!
Noch müde, gerade der Nacht entsprungen, in den Knochen noch halb taub, ungewaschen, nur die Augen leicht mit Wasser gespült, halb angezogen, stolperte ich über den Stuhl in der Küche. Meine Hände konnten gerade noch die Tür umklammern und den Sturz abdämpfen. Ein Glück!
Auf der Straße führte Prinz seinen morgendlichen Tanz auf. Jedem Baum schnüffelte er mit der Nase am Boden entgegen. Er las die Zeitung seiner Hunde Welt: neue Spuren, andere neue Markierungen, wer seid ihr.
Am Kiosk holten wir eine Zeitung. Der Mann hinter dem Tresen nuschelte ein „Juten Morgen“, mehr nicht. Viel redete ich nie mit ihm, manchmal ein paar Worte mehr, wenn ich meinen Lottogewinn abholte. Dann sagte er: „Soll ick et verrechnen?“ Und meine Worte waren, außer einem kurzen „ja“, auch nicht viel mehr.
Draußen hörte ich meine innere Stimme: He, Markus, der will mit dir nicht reden! Na und? Ist mir doch egal! Es ist Sonntag und mir geht es mit meinem Freund gut! Der Winter ist vorbei, ein langer und harter noch dazu, wir haben ihn überstanden, dachte ich.
Der Tag war so richtig etwas für meine Seele. Am Teich in der Morgensonne fühlte ich mich wohl. Meine Augen gingen neugierig umher, sahen Schwäne mit einer kleinen Bugwelle durch den Teich paddeln, ein paar Erpel stritten sich um ein Entenweibchen.
Im Haus gegenüber im zweiten Stock öffnete meine alte Dame Erika gerade die Fenster, der Duft des Morgens zog an ihr vorbei, die Gardinen flatterten, legten sich mächtig ins Zeug. Komisch, hier unten am Teich spürte ich nichts davon. Plötzlich meldete sich mein Magen, tanzte Boogie-Woogie und knurrte wie im Kampf – Hunger!
„Prinz, komm jetzt!“
Wir machten uns auf den Weg. Im Treppenhaus hörten wir leise Musik. Oben angekommen, machte ich mich erst einmal daran, meinem Freund Futter zu geben.
Ich bin auch noch da, rief er in mir. Na, klar doch, aber erst ab in die Dusche, mir ist kalt. Schnell noch Kaffee aufgesetzt! Der Kessel summte seine Melodie.
Ein Brausen am Morgen im nassen Element, stehend im Wellenbad der Gefühle! „Heiß und kalt im Wechsel der Zeit geschafft“, blicke ich in den Spiegel, noch mit einem leichten Hauch Duschnebel behangen, Tropfen rannen dem Boden entgegen. Hier sah ich mich selbst in meiner Verschwommenheit. Meine Hände befühlten meinen Bart.
Rasieren? Nein, morgen, Markus, ich habe Hunger jetzt! Na gut, dann eben nicht.
Nach einer Tasse Kaffee und einer Scheibe Schwarzbrot mit einem Becher Quark war mein Hunger schon so gut wie gestillt. Noch ein Apfel und ich hatte genug. Müdigkeit machte sich in mir breit, ein Blick auf die Uhr: dreiviertel acht. Ja, wenn man einen Freund wie Prinz hat, vergeht die Zeit eben anders!
Ich machte mir ein Zwischenlager fertig. Beim Lesen eines Berichts aus Lateinamerika fiel mir die Lektüre aus der Hand. Schlaf, Markus, schlaf!, hörte ich wie ein Echo meine innere Stimme, ruh dich aus, deine Kraft braucht dich noch!
Im Schlaf erwachten die Erinnerungen. Sie führten mich wie auf einem vorbestimmten Weg in die Welt des anderen Lebens. Es begann wieder der Kampf mit den anderen. Wellen schlugen hoch über mir zusammen, Stürme und Donner peitschten meine Seele. Ich rief mich, aber ich war nicht da. Da und dort sah ich meinen Freund Prinz, wie er von Wellen erfasst wurde. Er trieb in den Zeiten des Jetzt, des Gewesenen dahin.
Schweißnass, hustend und mit Krämpfen stürzte ich von einem Grauen ins nächste. In mir wollte die Lunge alles ausstoßen, was ich nicht brauchte. Mein Herz kämpfte wie ein Schiff in einem Sturm auf dem Meer. Es ließ mich nicht los. Was war es, was mich trieb? Wer zeigte mir dieses Leben, das ich nicht kannte? Leidend in den Zuckungen des Jetzt, die Lebenskraft gemindert, versank ich in Tiefschlaf.
Es war schon tiefe Nacht, halb eins, als ich wieder ins Leben zurückfand. Ich hatte den ganzen Tag geschlafen! Prinz lag am Fußende. Als ich ihn mir so betrachtete, war er noch auf einer Reise: Seine Pfoten rannten um die Wette.
Mit den Füßen wieder auf dem Boden der Tatsachen, machte ich mich daran, den Abendspaziergang mit meinem Freund vorzubereiten. Prinz lugte aus müden Augen herüber.
„Los, komm schon!“, rief ich.
Mit einem Satz sprang er aus dem Bett und rannte zur Tür. Er hatte es gut: Seine Garderobe war immer dabei! Treppab ging es der Nacht entgegen.
*
Am nächsten Morgen gab ich Prinz, wie immer während der Woche, bei meinem alten Freund Heinz ab. Manchmal dachte ich schon: He, gib mir meinen Hund zurück, das ist meiner! Aber nein, im Ernst: Ich durfte stolz sein auf meinen hilfsbereiten Nachbarn. In die Firma durfte ich ja nicht mehr mit dem Kleinen; Jansen hatte mit Kündigung gedroht.
Der Bus hatte drei Minuten Verspätung. Die U-Bahn war an diesem Morgen nicht so voll, ich fand einen Platz. Meine Blicke erfassten ein junges Paar beim Turteln, schön wie am Teich am Sonntag dachte ich, hm.
Der Weg war lang, aber gewohnt. Trübsal und Gedankenspiel mit Markus gab es heute erstaunlicherweise kaum, ich versuchte es mehrfach, aber mein Ich war noch nicht in Form.
Im Büro war alles wie immer, ich warf meine Sachen auf den Kleiderständer.
„Mein Alter, wie geht es dir?“
Eine Antwort bekam ich nicht von meinem Sessel, er wartete geduldig auf mich. Ohne ein weiteres Wort ließ ich mich in ihn fallen. Knarrendes Geräusch des Leders und ein Ächzen des Gestelles entlockten meinem Sitzkameraden doch noch eine Antwort.
Gedankenverloren tat ich nicht viel, spielte an meiner Aktentasche herum, roch das alte Leder, den Geruch der Gegenwart und des Vergänglichen. Dann öffneten meine Finger endlich den Verschluss der Tasche.
Die Akte Petach lag in einem vergilbten Aktenordner ganz vorn. Dies hier also war mein Leben: Trüffelspüren am Tag, sein Zeichen der anderen Vergangenheit spielten mit meinen Fingern, den Seitenzahlen tackt gebend, welche es wenige gab, sie spielten offenbar keine eklatante Rolle in den Räumen des Lebens …
Markus? Ja? Komm jetzt zurück! Der Termin Tagesbesprechung drohte. Ich machte mich auf den Weg. Ralf war auch wieder vom Lehrgang zurück.
*
Der Besprechungsraum. Jansen wippte mit seinen Füßen dem Wellengang der Nordsee nach. Er war ruhelos. Dann ging es los: Frage- und Antwortspiel, wie eh und je. Heute erfassten seine Blicke nicht mich, sondern einen blonden jungen Mann, erst seit zwei Wochen im Dienst. „Herr Zerner, sie kommen wohl noch aus der Zeit der Schreiberlinge?“
Der junge Mann errötete. Jansen, hörte ich mich innerlich rufen, halt deine Schnauze, alter Sack, lass den jungen Mann zufrieden!
Jansen aber drehte weiter auf: „Zerner, sie schmeißen mir einen handgeschriebenen Vorgang auf den Tisch, was soll ich damit anfangen? Haben Sie keinen PC, keinen Drucker?“
Kleinlaut hörte ich ihn „doch“ antworten. Armer Junge, dachte ich.
„Jansen hat eine unheilbare Bewusstseinsspaltung“, hörte ich Ralf mir ins Ohr flüstern.
„Meinst du?“
„Na klar, so wie der sich aufspielt. Sein Job ist seine Spielwiese!“
„Was hat er, was wir nicht haben?“
„Wir haben keinen Hausdrachen der Tyrannei zu ertragen!“
Ralf und ich konnten uns das Prusten nicht verkneifen. Unser Lachen erfüllte den Raum, Tränen wollten mit im Spiel sein. Da hörten wir Jansens lauter werdende Stimme und auch die Kollegen mahnten besorgt zur Ruhe. Jansen stand mit Zornesfalten vorn. Oh Mann, wenn Blicke töten könnten!
„Kann ich nach der Lachübung der beiden Herren jetzt wohl in meiner Unterredung fortfahren?“
Nach zehn Minuten war der Spuk endlich vorbei.
*
Wir wanderten die Flure entlang, unseren Büros entgegen. Auf zu neuem Tatendrang! Normalerweise hätte Jansen uns zusammengeschissen – heute nicht, komisch.
Meine treue Sitzgelegenheit wartete schon auf mich. Ich ließ mich fallen: Augen zu und durch! Aufgeschlagen lag wieder die alte Akte vor mir. Seit Monaten versuche ich zu ermitteln, wo die Familie geblieben war … Die Welt in den Katakomben der alten Zeit, staubverhangen, sichteten ich und mein innerer Freund Markus ein Grundbuchamt in Pankow nach dem anderen.
Hier führte mich der Weg in den kommenden Tagen in sonderbare Lebenswelten.
Manchmal glaubte ich mich schon weiter in meinen Nachforschungen, dann aber schlug mir wieder die Macht des Vergessens ins Gesicht.
Verdammte Kacke, Markus, du bist auf dem falschen Weg! Hör doch auf, das bringt nichts! Da kannst du sämtliche Kirchenbücher durchforsten – es gibt hier nichts mehr! Mach Schluss! Du hast gut reden, ich muss mir dann das Gerede von Jansen anhören, nicht du! Schweigen. Markus? Was noch? Entschuldige bitte. Oh, ist schon in Ordnung. Hast ja Recht, ich reiße mir hier den Hosenboden auf für diesen Arsch!
Ich machte mich an die Arbeit, den Bericht fertigzustellen. Kalkulatorisch war ich auf dem besten Weg – aber meine Seele rebellierte. Sie führte mich sozusagen in andere Bewegungswelten – Gründe dafür wuchsen mit dem gelesenen, Menschen erscheinen mir, ich fühlte Ihre Feder in Dokumenten, dieses Kratzen lag in meinen Ohren, wie sie dadurch diese Tintenschwärze in den Unterlagen veränderten. Ich wollte, ich konnte nicht lassen von dem, was ich erlebt hatte. Ich war allein mit meinem Ich und spürte, fühlte: Es gab nur den einen Weg. Aber hier im Haus hatte ich einen Arbeitsvertrag unterschrieben, daran musste ich mich halten.
Mein Bericht war fertig. Ich heftete die Unterlagen in einen neuen Aktenordner, dann machten sie sich auf die Reise – Jansens Büro entgegen. Den alten Aktensammler behielt ich, als Erinnerung. 365.000 Mark sollte der Erlös aus dem Verkauf bringen.
Der Rest des Tages zog sich dahin; allein im Büro meinen Gedanken folgend, war ich schon gar nicht mehr hier.
„Feierabend! Los, alter Junge!“, hörte ich Ralf plötzlich an der Tür rufen.
Wir verabschiedeten uns von den Kollegen und gingen noch eine Kaffee trinken im Café gegenüber.
„Na, hast du deinen Bericht geschafft?“
„Ja, hab ich! Und was macht dein Verkauf?“
„Läuft nicht wirklich gut, Markus.“
„Bei den Preisvorstellungen im Haus – kein Wunder!“
Heute wollte ein Gespräch nicht wirklich gelingen.
Wir machten uns auf den Weg nach Hause. Im U-Bahnhof Kochstraße roch es nach Erbrochenem – oder so ähnlich. Ich wollte weg. Versunken in Gedanken, füllte sich der Bahnsteig. Ein ratternder U-Bahn-Wurm des Lebens zog sich dahin im Grau des Untergrunds. Mit einem Quietschen kündigte der Zug sich an. Lichter tanzten an den Tunnelwänden entlang, dann stand er vor mir, die Türen öffneten sich.
Los, Markus, rein jetzt! Ich hörte ein Atmen neben mir. Ein angenehmer Geruch strömte in meine Trüffelnase. Ich sah mich um. Meine Augen fanden eine Frau, die ich nicht kannte, aber trotzdem oder gerade deswegen anziehend fand. Ein Buch lag in ihren Händen - Reisen in die Welt des Lebens. Schöner Titel, dachte ich. Ich konnte sie sehen im Tunnel der Nacht, von einer Station zur anderen gleitend, Spiegelbilder einer Frau im Tanz des Abends …
Ich musste umsteigen. Draußen hörte ich meine innere Stimme. Warum hast du sie nicht angesprochen, du Egoist, du Einsiedler? Mann, ich verstehe dich wirklich nicht! Hör bitte auf, so mit mir zu reden! Ich kann und will einfach nicht – ich bin noch nicht bereit für einen Neuanfang, hast du verstanden? Schweres Atmen meines Selbst.

