Euroskeptizismus auf dem Vormarsch

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Auch sind die Handlungsbahnen des Euroskeptizismus bisher noch nicht eindeutig zu bestimmen. Es wird zwar viel zu euroskeptischen Parteipositionen und deren VertreterInnen geforscht, wenn man dies aber auf die öffentliche Meinung anwenden will, ist unklar, wie sich der Euroskeptizismus entwickelt hat. Demnach stellt sich die Frage, ob der Euroskeptizismus die Quelle oder das Ergebnis bestimmter Einstellungen ist. Dies zeigt auch die bereits erwähnte Studie von Vasilopoulou (2018). Zusätzlich zum Fokus der Euroskeptizismusforschung untersuchte sie, ob der Euroskeptizismus vorwiegend als ein selbständiges Phänomen („independent variable“) oder als von anderen Entwicklungen abhängig verstanden wird („dependent variable“):
meistzitiert Veröffentlichungen 2014 Verständnis Abhängige Variable 17 17 Unabhängige Variable 8 7 Beides 3 0 Sonstiges 0 2Abb. 3: Kausalitätsbeziehung von Euroskeptizismus nach Vasilopoulou (2018).
Aus Abbildung 3 geht hervor, dass die meisten Artikel zu Euroskeptizismus das Phänomen als abhängige Variable behandeln, die es zu erklären und verstehen gilt. Nach dieser Betrachtungsweise könnte man den Euroskeptizismus bspw. als Reaktion auf die Eurokrise von 2008 oder die Asyl- und Migrationspolitik der EU verstehen. Auf der anderen Seite gibt die Studie jedoch auch Auskunft darüber, dass einige WissenschaftlerInnen den Euroskeptizismus als unabhängige Variable wahrnehmen und versuchen, mit seiner Hilfe aktuelle politische Entwicklungen – wie bspw. das Erstarken rechtspopulistischer Parteien in Europa – zu erklären. Während der Recherche wurde auch festgestellt, dass oftmals entweder die Betrachtung als abhängige oder die Betrachtung als unabhängige Variable untersucht wurde, ohne diese zu kombinieren und verschiedene Untersuchungen aufeinander aufzubauen und somit neue Dimensionen in der Euroskeptizismusforschung zu eröffnen und so mögliche Entwicklungen des Euroskeptizismus zu prognostizieren.
Ein Beispiel: Bereits mit der Einführung des Schengenraums in den 1980er Jahren wurden erste kritische Stimmen zur Abschaffung der Grenzkontrollen laut. Als schließlich die Personenfreizügigkeit in den Besitzstand der EU aufgenommen wurde und dies in der Folge – vor allem nach der ersten Osterweiterung 2004 – zu erheblichen Problemen in Bezug auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit führte, wurden diese Stimmen noch lauter. Die kritischen Reaktionen auf beide Ereignisse können bereits als (unterschiedlich starke) Ausprägungen euroskeptischer Haltungen angesehen werden. Daran, dass das Argument der unkontrollierbaren (Arbeitskräfte-)Migration in der pro-Brexit-Kampagne sehr beliebt war, erkennt man, dass verschiedene Ereignisse, die unterschiedliche euroskeptische Reaktionen hervorgerufen haben, deutlich miteinander verkettet sind. In der Folge dieser kontinuierlichen, aufeinander aufbauenden Entwicklung verfestigte sich zunehmend eine euroablehnende Haltung und führte schließlich zum Brexit-Votum (vgl. hierzu auch Vasilopoulou 2016). Es geht also nicht nur um die Ursache-Wirkung-Relation und die Position des Euroskeptizismus innerhalb dieser Kausalitätsbeziehung, sondern auch um die Auswirkungen und Folgen des Euroskeptizismus.
Und genau dies ist das dritte Hauptproblem des Forschungsfeldes. Trotz Brexit ist noch ungewiss, was die euroskeptischen Strömungen wirklich bewirken können und wie diese den öffentlichen Diskurs in Zukunft mitbestimmen werden. Leruth et al. (2018: 5) weisen darauf hin, dass man trotz der überwiegend negativen Lesart des Euroskeptizismus nicht mit Sicherheit sagen könne, welche Ereignisse aufgrund des erstarkten Euroskeptizismus aufgetreten sind und welche ohnehin aufgrund der ‚normalen‘ Diskussionskultur innerhalb der EU eingetreten wären. Auch Szczerbiak und Taggert (2018: 17) bemerken, dass es neben Großbritannien auch in anderen Ländern bedeutsame euroskeptische Strömungen gibt und die entsprechenden Parteien teilweise auch an der Regierungsbildung beteiligt sind, ohne dass dies bisher Auswirkungen auf die Europapolitik gehabt hätte. Dennoch sollte gerade das Problem der ungewissen Auswirkungen nicht zu sehr als Kritik an der bisherigen Forschung verstanden werden, da man in der Tat keine eindeutigen Kausalitätszusammenhänge bestimmen kann. Offen bleibt aber, ob eine frühzeitige Auseinandersetzung mit möglichen Auswirkungen des Euroskeptizismus beispielsweise die möglichen Folgen eines Brexit-Votums hätte vermuten lassen können. Immerhin schaffte es bereits im Oktober 2011 erstmals eine kleine Gruppierung Konservativer im britischen House of Commons über ein mögliches Referendum zum EU-Ausstieg abstimmen zu lassen (von Ondarza 2016b: 4). In der Folge war sogar schon 2012 die Rede von einem „Brixit” und es wurde erklärt, dass „the chances of Britain leaving the EU in the next few years [were] higher than they have ever been” (The Economist 2012). Aus wahlstrategischen Gründen und in der Hoffnung, zusätzliche Stimmen aus dem euroskeptischen Lager zu gewinnen, erklärte der amtierende Premierminister David Cameron 2013 – anders als noch 2011 –, dass er sich bei einer Wiederwahl 2015 für ein Referendum starkmachen würde (vgl. Cameron 2013). Nichtsdestotrotz scheint es als hätten sowohl die europäische Politik als auch der wissenschaftliche Euroskeptizismusdiskurs diesen nie wirklich als so große Bedrohung angesehen, dass er wirklich einmal spürbare Auswirkungen auf die gesamte EU haben könnte. Umso wichtiger sollte die Euroskeptizismusforschung in der Zukunft werden, da vor allem nach dem Brexit-Referendum und den stärker werdenden rechten Strömungen in den nationalen Parlamenten klargeworden sein sollte, dass euroskeptische Strömungen ernst genommen werden müssen und man sich aktiv mit den Ursachen und möglichen Auswirkungen auseinandersetzen muss.
Zusätzlich zu den drei aufgeführten Hauptproblematiken im Forschungsfeld des Euroskeptizismus erweist sich auch die Messung desselben als äußerst schwierig. Vor allem die fehlende oder geringe Relevanz europabezogener Themen auf nationaler Ebene ist hier von Bedeutung und wird von Mudde (2011: 17) als „Achilles heel of Euroscepticism studies“ bezeichnet. Dies bedeutet, dass sich die meisten etablierten Parteien lange Zeit nicht ausdrücklich mit europäischen Themenfeldern auseinandergesetzt oder Position bezogen haben und daher keine eindeutigen Stellungnahmen festzustellen waren. Exemplarisch lässt sich das an zwei Beispielen festmachen: In einer weitreichenden quantitativen Studie von 1999 wurden Umfragen durchgeführt, in welchen LänderexpertInnen die jeweiligen nationalen Parteien in ein siebenstufiges Bewertungssystem von „strongly opposed to European Integration“ bis „strongly in favor of European Integration“ einsortieren sollten, um so die allgemeine Haltung zu Europa zu bestimmen (Ray 1999: 288). In einer solchen Umfrage bleibt jedoch die Gültigkeit der Ergebnisse fragwürdig, da man nicht nachprüfen kann, ob die befragten Personen tatsächlich über die nötige Expertise des jeweiligen Landes oder der Parteien verfügen. Aus diesem Grund spricht Mudde (2011: 14) bei Rays Untersuchung nicht von ExpertInnenumfragen, sondern bezeichnet diese eher als „peer surveys“. Ein weiterer Kritikpunkt an der Umfrage ist sicherlich auch die Kernfrage der Untersuchung „What is the overall orientation of the party leadership to European integration“ (Ray 1999: 286), da sie doch sehr vage gestellt ist (vgl. Szczerbiak & Taggert 2018: 14). Daher verfolgten Szczerbiak und Taggert (2008) in ihrem zweibändigen Werk Opposing Europe einen anderen Ansatz. Der Sammelband ist eine Zusammenstellung von Untersuchungen verschiedener LänderexpertInnen zu Aussagen ausgewählter Parteivorsitzenden, Parteiprogrammen und Debatten. Aus den Analysen sollte hervorgehen, ob bestimmte Parteien als hart oder weich euroskeptisch eingestuft werden können. Problematisch bei dieser Herangehensweise sind die subjektiven Interpretationen der Ergebnisse durch die jeweiligen LänderexpertInnen und erneut die zu undifferenzierte, dichotome Einteilung in harten und weichen Euroskeptizismus. Dies, so kritisieren u. a. Szczerbiak und Taggert (2018: 14) selbst, führe dazu, dass keine repräsentativen oder zuverlässigen Aussagen zu den Parteipositionen möglich wären.
2.1.3 Erklärungen für Euroskeptizismus
Gründe und Begründungen für euroskeptische Einstellungen und das Erstarken euroskeptischer Parteien gibt es zahlreiche. Doch auch hier muss man unterscheiden, ob sich die Argumentationen jeweils auf die EU im Allgemeinen – und damit auf das gesamte System – oder auf aktuelle Entwicklungen und ein vermeintliches Versagen der EU in bestimmten Angelegenheiten zurückführen lassen. An den verschiedenen Typologisierungen hat sich bereits gezeigt, dass man in Bezug auf den Euroskeptizismus durchaus zwischen einer grundsätzlichen Ablehnung der EU als System und der gezielten Kritik einzelner Aspekte des aktuellen Zustands der EU unterscheiden kann und muss. Dennoch wäre eine alleinige Erklärung des Euroskeptizismus auf dieser Grundlage zum einen zu einfach und zum anderen zu allgemein.
Die fortschreitende Erweiterung der EU und die Ausweitung ihrer Kompetenzen haben die möglichen Potenziale für Spannungen innerhalb der EU vervielfacht (Harmsen & Spiering 2004: 13). Aus diesem Grund unterscheidet Sørensen (2008: 8) zwischen vier verschiedenen Argumenten für den Euroskeptizismus. Das erste Argument ist die Legitimation der EU. Im Sinne eines utilitaristischen Euroskeptizismus wird die Frage gestellt, ob eine Mitgliedschaft in der EU bzw. eine weitere europäische Integration wirklich Vorteile für die Nationalstaaten und ihre Bevölkerung mit sich bringt. Ein zweiter Grund ist die Souveränität bzw. der Souveränitätsverlust der Mitgliedstaaten. Hierbei ist vor allem der Widerstand gegen die supranationalen Strukturen der EU hervorzuheben und die Meinung, dass die Supranationalität der EU nicht in Konkurrenz zu den Nationalstaaten stehen sollte. Boomgaarden et al. (2011: 248) geben in diesem Zusammenhang zu Bedenken, dass das Gefühl der Abneigung in Verbindung mit dem Souveränitätsverlust des eigenen Landes oftmals auch mit Gefühlen der Angst oder Wut gegenüber der EU einhergeht und die EU-Einigung auch als Bedrohung der (nationalen) Interessen angesehen wird. Drittens kritisiert der demokratische Euroskeptizismus die ungeeigneten politischen Strukturen und äußert die Unzufriedenheit mit der Demokratie innerhalb der EU und die Ansicht, die EU würde unter einem Demokratiedefizit leiden (Sørensen 2008: 8). Als vierten Grund für Euroskeptizismus bezeichnet die Autorin die Kritik an der Sozial- und Finanzpolitik der EU. AnhängerInnen dieser Haltung argumentieren, die EU sei zu liberal und nicht sozial genug. Heutzutage lässt sich dieser Aufzählung sicherlich auch noch eine Art ‚kultureller Euroskeptizismus‘ hinzufügen, der sich an der Kritik der Migrationspolitik der EU festmachen lässt. Diese allgemeinen Konzeptionen für mögliche Auslöser euroskeptischer Haltungen können durchaus vereinzelt auftreten, müssen dies aber nicht. So kann eine Person, die mit den internen Strukturen der europäischen Institutionen unzufrieden ist nach Taggert und Szczerbiak (2001) als weich euroskeptisch angesehen werden, sofern sie die EU ansonsten grundsätzlich befürwortet. Weßels (2007: 290) merkt hierzu ergänzend an, dass sich eine weich euroskeptische Einstellung über einen längeren Zeitraum oder aber auch die Unzufriedenheit mit verschiedenen Aspekten der EU zu einem harten Euroskeptizismus und somit einer vollständigen Ablehnung der EU entwickeln kann. In diesem Zusammenhang sei hier beispielhaft eine Studie von Hooghe et al. (2002) zu nennen, die den Zusammenhang zwischen der Parteipositionierung im politischen Spektrum und dem Grad der Ablehnung der Europäischen Integration untersuchte. In der Studie kamen die Forschenden zu dem Ergebnis, dass die Ablehnung der Europäischen Integration größer wird, je weiter eine Partei vom politischen Zentrum entfernt ist (Hooghe et al. 2002: 969). Diese Beobachtung ist darauf zurückzuführen, dass man davon ausgehen kann, dass es weniger Schnittpunkte zwischen den europäischen Interessen und den Interessen der extremeren Parteien gibt.
Im Stile einer weiteren Typologisierung für Euroskeptizismus untersuchte Trenz (2014), inwiefern der bisherige Verlauf der Europäisierung im Sinne einer Geschichte sozialen Wandels für euroskeptische Entwicklungen verantwortlich ist. In diesem Zusammenhang kommt er zu einer umfassenden Erklärung des Aufkommens von Euroskeptizismus und unterteilt die Wahrnehmung der Europäisierung in (1) eine erfolgreiche Europäisierung (Glorifizierung), (2) eine einfache Europäisierung (Banalisierung), (3) einen Euroskeptizismus (Entglorifizierung) und (4) eine politische Krise (Misere). Die Kategorien (1) und (2) bezeichnen Erfolgsgeschichten, die auf eine Bestätigung des (Mehr-)Werts einer europäischen Integration und eine Betonung der außergewöhnlichen Errungenschaften Europas zurückgehen. Im Gegensatz hierzu stellen (3) und (4) den (Mehr-)Wert der europäischen Integration in Frage (Trenz 2014: 2). Im Sinne der Banalisierung wird als größter Erfolg der Europäisierung angesehen, dass Europa ein Teil des alltäglichen Lebens geworden ist und enge Interaktionen zwischen EuropäerInnen vereinfacht hat. Aus einem endlosen Kampf um Macht innerhalb Europas ist eine Gemeinschaft geworden, die sich durch gegenseitiges Lernen, Sozialisierung und institutionelle Anpassung auszeichnet. Demzufolge ist die europäische Integration erfolgreich, weil sich die europäische Bevölkerung daran gewöhnt hat, dass es sie gibt und nicht mehr über deren Existenz nachdenkt (ebd. 9). Dennoch weist Trenz (2014: 10) darauf hin, dass die Banalisierung mindestens zwei Gefahren birgt: Erstens, die Europäisierung mobilisiert nicht so sehr, wie es Ideologien wie bspw. der Nationalismus, der Sozialismus etc. in der Vergangenheit getan haben; zweitens, die Sozialisierung innerhalb der EU bedeutet auch, dass die Bevölkerung lernt, ihre Stimme zu erheben, gegen die EU zu protestieren oder zu rebellieren. In diesem Zusammenhang wird Europa oft als eiserner Käfig der Bürokratie gesehen und daher nicht nur als „dull and boring […] [but also] as annoying and pretentious“ (ebd. 9) empfunden. In der dritten Kategorie, dem Euroskeptizismus oder der Entglorifizierung, erklärt Trenz (2014: 10), dass es verschiedene Gründe gibt, die zu einer Skepsis gegenüber Europa führen können. Hierbei ist es zunächst wichtig, zu verstehen, dass nicht alle BürgerInnen Europas die europäische Integration als positive Entwicklung oder Fortschritt wahrgenommen haben und sich somit als Leidtragende der europäischen Integration ansehen. In diesem Zusammenhang wird bspw. kritisiert, dass es der EU bislang nicht gelungen ist, gleiche Lebensverhältnisse für die gesamte europäische Bevölkerung zu schaffen. Die hohen Erwartungen an den EU-Beitritt und die damit verbesserte persönliche Situation wurden demnach nicht nur nicht erfüllt, es wurden gleichzeitig auch die falschen Versprechungen der EU aufgedeckt (Majone 2014: 238). Wenn man zu dieser Sichtweise vereinzelter BürgerInnen nun noch die Bedrohung der Souveränität des Heimatlandes hinzufügt und in dem Aufstieg der EU eher einen Zerfall der Nationalstaaten erkennt, dann führt dies zwangsläufig zu einem (Wieder-)Erstarken des Nationalismus, während die Unterstützung für die EU abnimmt. Trenz (2014: 12) gibt in diesem Zusammenhang zu bedenken, dass dies darauf hindeutet, dass die Europäisierung der Massen fehlgeschlagen ist. Demnach gäbe es eine elitäre Voreingenommenheit in Bezug auf die europäische Integration, die zwar die Elite als wichtige Akteurin der Europäisierung ansieht, die Masse der Bevölkerung jedoch als mögliche Antagonistin vernachlässigt. Der euroskeptische Teil dieser Masse sei daher von der Vorstellung geleitet, die Erfolge des Nationalstaates seien in Bezug auf Wohlfahrt, Demokratie und Volkssouveränität als schützenswert anzusehen und betrachten die Europäisierung als „a story of a collective trauma“ (ebd.). Ein kollektives kulturelles Trauma also, welches die Geschichte eines europäischen Volkes erzählt, dass unter den Folgen der Entscheidungen der EU – wie bspw. der Finanzkrise oder der Migrationsströme – leidet. Aus dieser Perspektive betrachtet kommt Trenz (2014: 12) zu dem Schluss, dass der Euroskeptizismus ein Mittel ist, um den verschiedenen kritischen Aspekten der Europäisierung eine politische Stimme zu geben und somit dem Abbau der nationalen Identität und der Demokratie gegenübersteht. Ein weiterer Punkt ist die Tatsache, dass der Euroskeptizismus prinzipiell nur als Gegennarrativ zur eigenen Legitimierung von Seiten der EU auftreten kann. Demzufolge werden euroskeptische Reaktionen umso mehr provoziert, je häufiger die EU die positiven Aspekte der Europäisierung hervorhebt (Trenz 2014: 13). De Wilde und Trenz (2012: 540) merken hierzu an, dass der Euroskeptizismus auch als diskursive Formierung angegangen werden kann, die die Legitimität der europäischen Integration als Projekt und die EU-Politik als institutionelle und konstitutionelle Einheit, welche politische Autorität über Menschen und Mitgliedstaaten ausübt, in Frage stellt. Den vierten Punkt seiner Typologisierung bezeichnet Trenz (2014: 14) als politische Krise, und legt diesem Punkt zugrunde, dass sich das Fundament der europäischen Integration zahlreichen – teilweise hausgemachten – Krisen gegenübersieht, die auf Defizite innerhalb des Plans der europäischen Integration zurückgehen. Demnach wird die Europäisierung nicht mehr als die bessere oder effizientere Regierungsform angesehen, sondern als Beeinträchtigung des privaten Lebens im Alltag, während sie gleichzeitig die Ängste und das allgemeine Gefühl der Unsicherheit stärkt. Greift man das von Trenz gewählte Bild auf, so erkennt man im euroskeptischen Diskurs Staatsschuldenkrisen in einigen europäischen Ländern, eine prinzipielle Legitimationskrise der EU, eine seit Jahren anhaltende Asyl- und Migrationskrise, eine Repräsentationskrise innerhalb der europäischen Institutionen und Verfassungskrisen in der Vergangenheit.
Ob man nun die auch heute noch spürbaren Auswirkungen der Finanzkrise von 2008, die tiefsitzenden Bedenken in Bezug auf Europas Sicherheit, die nach den terroristischen Anschlägen in europäischen Hauptstädten aufkamen, oder aber die seit 2015 anhaltende Migrationskrise betrachtet, stellt man fest, dass Europa einer ganzen Reihe großer Belastungen ausgesetzt ist. Das Ergebnis des britischen Referendums über den Brexit führte nur zu noch größerer politischer Unsicherheit, da man sich nun mit den möglichen Konsequenzen auseinandersetzen muss. Es fällt auf, dass, obwohl in den aufgeführten Modellen grundsätzlich unterschiedliche Ansatzpunkte zur Bestimmung der Beweggründe für euroskeptische Haltungen gewählt wurden, die Gründe prinzipiell immer ähnlich sind. Einer EU, die die supranationalen Strukturen weiter ausbauen und damit die nationale Souveränität einschränken will, traut man nicht. Eine EU, die seit Jahren in einer finanziellen Krise steckt, weil sie immer wieder vereinzelten Mitgliedstaaten auf Kosten der Bevölkerung der anderen Mitglieder hilft, unterstützt man nicht. Eine EU, die nationale Grenzen abschafft und gemeinsame Außengrenzen einführt und somit eine unkontrollierte Binnenmigration ermöglicht, empfindet man als fahrlässig.
Obwohl sich die direkten Auslöser für Euroskeptizismus und die Handelnden im Laufe der Zeit verändert und sich auch die Verhältnisse verschoben haben, bleiben die Argumente und Gründe vergleichbar, es ändern sich lediglich die Bezugspunkte und aktuelle Entwicklungen fließen in die Betrachtungsweisen ein.
2.2 Das (ideologische) Spektrum der politischen Rechten
In den letzten Jahrzehnten fand eine Vielzahl von Begriffen Einzug in den öffentlichen Diskurs, wenn es darum ging, Parteien, Personen oder Haltungen am politischen rechten Rand zu beschreiben. Bezeichnungen wie ‚Rechtsextremismus‘, ‚rechtsradikal‘, ‚Neonazis‘, ‚rechtspopulistisch‘, ‚neofaschistisch‘, ‚die Neue Rechte‘ oder schlichtweg ‚rechts‘ – um nur einige zu nennen – beschreiben zwar allesamt rechte Positionen, sind dennoch aufgrund unterschiedlicher rechter Ausprägungen klar voneinander abzutrennen. Aus diesem Grund ist es zunächst wichtig, das Verständnis der Begriffe (Rechts-)Radikalismus, (Rechts-)Extremismus und (Rechts-)Populismus zu klären und diese voneinander abzugrenzen. Unumstritten ist hierbei die Relevanz der jeweiligen Ausprägung der Ideologie (vgl. Mudde 2000: 16f.; Jaschke 2006: 46; Stöss 2010: 26f.).
Vor allem der Terminus ‚rechtsradikal‘ wird sowohl in der wissenschaftlichen Fachliteratur als auch im journalistischen Diskurs oftmals verwendet, um sämtliche Positionen rechts der Mitte zu bezeichnen ohne diese genauer zu spezifizieren.6 Tatsächlich wurde der Radikalismusbegriff im deutschen Sprachraum noch bis in die 1970er Jahre synonym zu Links- und Rechtsextremismus verwendet (vgl. Jaschke 2006: 17). Erst mit dem Verfassungsschutzbericht von 1973, in dem der Begriff ‚radikal‘ durch ‚extremistisch‘ ersetzt wurde, wurde – zumindest auf amtlicher Ebene – eindeutig geklärt, dass „radikale Kritik nicht mit Verfassungsfeindlichkeit gleichzusetzen ist“ (Maihofer 1974: 8960), während der Extremismus mit verfassungsfeindlichen Maßnahmen versuche, seine Ziele durchzusetzen. Diese juristische Abgrenzung der Begriffe voneinander gilt bspw. auch heute noch auf politischer Ebene in Deutschland. In der wissenschaftlichen Diskussion herrscht jedoch weiterhin Unklarheit über die Verwendung des Begriffs. Zaslove (2004: 66) definiert rechtsradikale Parteien als
„parties that accept the general constitutional parameters of liberal democracy, but challenge the limits of liberal democracies and the existing constitutional order with their transgressive critique of the socio-economic and socio-cultural norms and discourse of the post-war compromise, of the welfare-state, and of the post-war ‘traditional’ political parties.”
Insofern grenzt er sie von rechtsextremen Parteien ab, die er als „unconstitutional“ einstuft, während radikale Parteien lediglich „oppose[d to] the principles of the constitution“ seien (Zaslove 2004: 66). Dies entspricht ebenfalls der Unterscheidung zwischen verfassungsfeindlich (rechtsradikal) und verfassungswidrig (rechtsextrem) im Deutschen. Minkenberg und Perrineau (2007: 30) hingegen bezeichnen radikale rechte Parteien als eine Ansammlung nationalistischer, autoritärer, xenophober und extremistischer Positionen, die sich durch populistischen Ultranationalismus als gemeinsames Merkmal auszeichnen. Den ultranationalistischen Kern im rechtsradikalen Denken begründet Minkenberg (2011: 113) damit, dass „in der Konstruktion nationaler Zusammengehörigkeit spezifische ethnische, kulturelle oder religiöse Ausgrenzungskriterien verschärft, zu kollektiven Homogenitätsvorstellungen verdichtet und mit autoritären Politikmodellen verknüpft werden“. Es fällt auf, dass Minkenberg und Perrineau (2007) anders als Zaslove (2004) den Extremismus nicht vom Radikalismus abgrenzen, sondern Ersteren vielmehr als Teil der radikalen Einstellung verstehen.
Der Begriff des Extremismus hat eine lange Tradition, die sich bis in die griechische Antike zurückverfolgen lässt. In seiner ersten Staatsformenlehre bezeichnete Aristoteles die Extreme als wichtige Bestandteile des politischen Systems, die sowohl zueinander als auch zur Mitte gegensätzliche Positionen darstellten (vgl. Backes 2006: 41). In diesem Sinne stellte er unter Berücksichtigung des Gemeinwohls drei gute (Monarchie, Aristokratie und Politie) und drei schlechte Staatsformen (Tyrannis, Oligarchie und Demokratie) vor. Die Demokratie sah er jedoch zunächst als verfehlte Staatsform, da sie nicht das Wohl der Allgemeinheit, sondern das Wohl des herrschenden Volkes – nach seiner Auffassung die freien Armen – vertrete und somit dem Eigennutz der Bevölkerung diene. Daher bevorzugte er die Politie, da diese weder die Reichen noch die Armen – also die beiden Extreme – bevorteile, sondern auf dem Wohl der mittleren Schichten aufbaue (vgl. Backes 2006: 233; Schmidt 2010: 30; Jesse 2018: 29). Erst mit der Französischen Revolution, im Laufe derer sich die Rechts-Links-Unterscheidung in Anlehnung an die Sitzordnung im Parlament etablierte, bekamen die beiden Extreme erstmals eine spezifische Zuordnung am rechten bzw. linken Rand des Systems und wurden mit konkreten politischen Einstellungen verknüpft (Backes 2006: 234). So zeichneten sich die Delegierten auf der linken Seite des Spektrums durch ihre egalitäre Position und die Befürwortung sozialer Reformen aus, während auf der rechten Seite die Vertreter der Aristokratie und des Konservatismus saßen (Lipset 1972: 449). Einzug in den wissenschaftlichen Diskurs erhielt der Begriff des Extremismus erst nach 1917, als sowohl auf rechter als auch auf linker Seite von Extremismus gesprochen wurde (ebd. 450). Im Gegensatz zum ebenfalls um diese Zeit aufkommenden Totalitarismusbegriff, der sich auf das faschistische Regime Italiens unter Mussolini bezog (vgl. Petersen 1996: 20), beschrieb der Extremismus zunächst vornehmlich linke Bewegungen (Jesse 2018: 31). So wurden v. a. in Frankreich und Großbritannien die Ansichten des russischen Kommunismus als systemfeindlich bezeichnet und mit dem Extremismus gleichgesetzt, während rechte Ideologien als Faschismus bezeichnet wurden.

