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Da sein Fahrer nun tot war, begann der Truck langsam rückwärts zu rollen, bis er mit einem Masten kollidierte und stehenblieb. Dieser Mord warf eine Reihe von Fragen auf: Wer steckte hinter dieser Tat? Warum wurde Horace Butler ermordet? Ging es dabei um Geld? Oder um den Truck? Um Drogen? Nur eines war klar: Es würde in dieser Woche noch ein zweites Begräbnis in Compton geben.
Butlers Tod traf Eric schwer. „Er und ich trafen uns jeden Tag“, sagte er. „An diesem Abend musste ich zufällig etwas mit meiner Mutter machen. Deshalb war ich nicht dabei. Wahrscheinlich wäre ich ebenso tot wie er, wenn ich dort gewesen wäre.“
Auf Eric sollte schon bald der nächste Schock warten. Als er zum verlassenen Haus zurückkehrte, wo Butler sein Geld versteckt hatte, fand er nicht nur die Geldtüte, sondern auch ein Paket mit Kokain. Eric begriff rasch, dass er auf einer Goldmine saß. Ganz abgesehen von der Kohle war ihm nun Stoff im Wert von zehntausenden Dollar in den Schoß gefallen. Er musste es nur auf die Reihe bringen, das Zeug zu verticken.
Eric machte sich sofort an die Arbeit. Als Rucker wenig später bei ihm zu Hause aufkreuzte, staunte dieser nicht schlecht, als er Eric vorfand, wie dieser über einem kleinen Elektroherd kauerte und versuchte, Crack zu kochen. „Mann, wo hast du den Stoff her?“, fragte Rucker.
„Ich wollte das Geld holen“, sagte Eric, „und das hier war auch noch da.“
Erics mangelnde Erfahrung war offensichtlich. Er hielt Rucker ein Stück unter die Nase und spekulierte über dessen Wert: „Das hier geht für zwanzig, oder?“
„Teufel, nein!“, sagte Rucker. Der Brocken war eher sechzig Dollar wert. Rucker gab ihm daraufhin einen Crashkurs darin, wie man den Preis von Crack-Körnern berechnete. Von da an begann Rucker sein Kokain bei Eric zu kaufen. Seine Preise waren sehr gut – 1.000 Dollar pro Unze, eine Menge, für die andere 1.500 Dollar verlangten. Eric überließ ihm sogar Pakete auf Kommission. Er konnte es sich ja leisten, da die Ware, die ihm in den Schoß gefallen war, nichts als reinen Profit einbrachte.
1985 schien Eric auf einer Welle des Erfolgs zu schwimmen. Nachdem er die Profite, die sich aus Butlers Vorräten ergaben, in Nachschub investiert hatte, lief er in feinem Zwirn herum und düste in schneidigen Karren durch die Gegend. Aber er war noch nicht zufrieden. Tief drinnen wusste er, dass das nicht das richtige Leben für ihn war. Und so beschloss er, etwas zu unternehmen.
Ein gefährlicher Ort
Der Alltag in Compton entsprach nicht wirklich dem Bild, das Hollywood von der Welt der Straßengangs verbreitete. In den Achtzigerjahren war die Stadt, die sich ungefähr 15 Kilometer von Downtown L.A. befindet, zumindest tagsüber immer noch eine typische Mittelschicht-Vorstadt. Hier gab es gut ausgestattete, farbenfrohe Bungalows mit großen Gärten, Eisenstäben vor den Fenstern und schmiedeeisernen Zäunen. Kinder fuhren auf ihren Fahrrädern, Kleider hingen zum Trocknen auf Wäscheleinen und braune wie schwarze Mitbürger gingen ihren Working-Class-Jobs nach. Spätabends fuhren Teenager in ihren Suzuki-Trucks und VW Käfern gegeneinander Autorennen um Geld. Aber die Gegend wirkte nicht wie ein Kriegsgebiet.
Unter der Oberfläche jedoch schwelte eine urbane Katastrophe – hohe Arbeitslosigkeit, hohe Armutsrate, hohe Säuglingssterblichkeit und eine steigende Anzahl von Gangmorden. Die Rezession der Siebzigerjahre hatte sich durch Präsident Nixons Comprehensive Employment and Training Act entspannt, ein staatliches Jobprogramm, das den Leuten im Viertel Arbeit verschaffte. 1982 setzte Präsident Reagan das Programm außer Kraft, wodurch es Ortsansässigen erschwert wurde, Jobs zu finden.
Auch die Polizei war keine große Hilfe. Bis sie im Jahr 2000 aufgelöst wurde, hatte Compton seine eigene Polizeieinheit – und zwar eine der korruptesten im ganzen Land. Die Stadt mit ihren gerade einmal 93.000 Einwohnern verzeichnete 1986 insgesamt 66 Morde und 1987 sogar 85, was der dreifachen Pro-Kopf-Rate von ganz Los Angeles entsprach, das damals selbst als notorisch gefährlicher Ort galt. In L.A. ereigneten sich in den Achtzigerjahren fast 3.000 Tötungen, die im Zusammenhang mit Bandenkriminalität standen. Ein schwarzer Teenager lief sechsmal größere Gefahr als Mordopfer zu enden als ein Weißer gleichen Alters.
In Los Angeles legten die meisten Soldaten ab, die im Zweiten Weltkrieg in Richtung Südpazifik in See stachen. Im Anschluss an den Krieg zogen die vielen Jobs in der Flugzeugbaubranche Leute aus dem ganzen Land an. Und das wunderbare Wetter war sicher kein Störfaktor. Erics Eltern zählten zu den ersten schwarzen Familien in Compton und waren von Greenville in Mississippi aus nach Compton gezogen und Teil einer großen Migrationswelle. Im 20. Jahrhundert war die Stadt größtenteils weiß gewesen. Für kurze Zeit hatten 1949 sogar George und Barbara Bush dort in einem Apartmentkomplex gelebt, als der spätere Präsident noch Ölbohrausrüstung verkaufte.
Compton war außerdem berüchtigt für seinen Rassismus. Obwohl der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten Rassentrennung in Bezug auf das Wohnungswesen bereits 1917 untersagt hatte, verfolgten Bauunternehmer und Banken weiterhin dieses System. Ein Immobilienmakler konnte seine Lizenz verlieren, wenn er Integration begünstigte – und Compton war von diesem Trend stärker betroffen als jeder andere Teil von Los Angeles. Brutale Bürgerwehren versuchten schwarze Familien am Betreten der Stadt zu hindern, was sie mit ihrem Slogan „Keep the Negroes North of 130th Street“ untermauerten. Marvin Kincy, ein 1950 in Compton geborener Schwarzer und Veteran der Piru-Gang, erinnerte sich daran, dass ihm eingebläut wurde, aus Angst vor Übergriffen durch „Niggerjäger“ die Wilmington Avenue nicht mehr nach 19 Uhr zu überqueren. Er fügte noch hinzu, dass er als Neunjähriger von vier jungen Weißen in einem 57er-Ford unter dem Vorwand zu ihrem Wagen gelockt wurde, ihn nach dem Weg fragen zu wollen. Als er nahe genug war, hatten sie ihn mit faulen Eiern und Tomaten beworfen.
Nach einem Beschluss des Obersten Gerichtshofs im Jahr 1949, der systematische Diskriminierung zusehends erschwerte, wurden die Restriktionen im Wohnungswesen gelockert. Die Wrights ließen sich daraufhin in Compton nieder, wo Eric 1964 das Licht der Welt erblickte. Unweit von ihrem Wohnort ereigneten sich im Folgejahr die Unruhen von Watts, ausgelöst durch eine Verkehrskontrolle eines schwarzen Autofahrers, der von einem weißen Highway-Cop kontrolliert wurde, weil der vermutete, der Fahrzeuglenker sei betrunken. Daraufhin kam es zu Krawallen mit Dutzenden Toten und Sachschäden in bis dahin ungekannter Höhe. In der Folge begann die Gegend sich aufgrund der Abwanderung der weißen Bevölkerung und der Stilllegung von Betrieben zu verändern. Die ehemalige Heimat der Bushs zog nun Drogendealer, Hausbesetzer und Prostituierte an – und Compton verwandelte sich in eine der gefährlichsten Städte des Landes.
Jeder in Los Angeles, der sich während der frühen Jahre der Regierung Reagan nach einem billigen Rauschzustand sehnte, musste nur dem riesigen Drogenumschlagplatz namens The Track in South Central, der sich in der 81st Street zwischen Hoover und Vermont befand, einen Besuch abstatten. Vor allem die Shermans waren zunächst beliebt als billige Methode, um sich zuzudröhnen, bevor sie von Crack abgelöst wurden. Wenn man Crack schnupfte, bekam man davon relativ schnell Nasenbluten – allerdings konnte man es den ganzen Tag lang rauchen und immer noch Bock auf mehr haben. „Du konntest mitverfolgen, wie sich respektable Männer in Crackheads verwandelten“, sagte Ice Cube. „Du konntest beobachten, wie sich die Krankenschwester mit Familie, die in derselben Straße lebte, in eine ‚Strawberry‘, eine Erdbeere, verwandelte.“ Damit meinte er eine Frau, die ihren Körper verkaufte, um die Droge beschaffen zu können.
Die Preise für Crack, ursprünglich bekannt unter dem Namen „Ready-Rock“, da es mit Backpulver aufgekocht war und man es sofort rauchen konnte, waren anfangs noch ziemlich hoch. Allerdings änderte sich das aufgrund der Bemühungen von Dealern wie Freeway Rick Ross aus South Central. Er schickte Typen auf Mopeds los, um den Stoff überall in der Gegend auszuliefern. Mitte der Achtzigerjahre verschob er auf diese Weise buchstäblich Tonnen von Kokain.
Marvin Kincy wurde Augenzeuge der Auswirkungen, die Crack auf Compton hatte. Er war jedenfalls fassungslos, als er eines Tages ein prominentes Mitglied der Gemeinde, einen Bankier und Inhaber einer Autowaschanlage, einen Einkaufswagen die Straße entlang schieben sah. „Er hatte sein ganzes Imperium in Rauch aufgehen lassen.“
Den Crack-Konsumenten war auch nicht bewusst, dass sie dabei halfen, einen Krieg in Mittelamerika zu finanzieren. Einer von Ross’ nicaraguanischen Lieferanten, Oscar Danilo Blandon, stand nämlich unter dem Schutz der CIA, da er mit seinen Profiten die Contra-Rebellen in seiner Heimat unterstützte, deren Ziel es war, die linksgerichtete Sandinista-Regierung zu stürzen. Die Regierung Reagan unterstützte die Rebellen ebenfalls und finanzierte sie durch Waffenverkäufe an den Iran, was schließlich im Rahmen des Iran-Contra-Skandals ans Licht kommen sollte. Blandon wurde schließlich verhaftet, arbeitete fortan verdeckt für die US-Regierung und half dabei, Rick Ross dingfest zu machen, der daraufhin für 13 Jahre hinter Gitter musste.
1989 veröffentlichte der Senatsausschuss für Auswärtige Beziehungen unter Führung von John Kerry, der damals seine erste Amtszeit als Senator von Massachusetts absolvierte, einen Report, der zu dem Schluss gelangte, hochrangige US-Politiker seien „nicht gegen die Vorstellung immun, dass Drogengelder die perfekte Lösung für die Finanzierungsprobleme der Contras darstellten“. Die CIA mag zwar nicht direkt Crack in die Stadtgebiete geliefert haben, wie manchmal behauptet wird, doch scheint sie mitunter beide Augen zugedrückt zu haben, solange es ihren geopolitischen Zielen nützte.
In der Zeit vor der Crack-Ära war Gang-Kriminalität kein besonders profitables Geschäft. Allerdings erkannten ihre Mitglieder schon bald, wie viel Geld sich mit den Drogen machen ließe. „Plötzlich hieß es: ‚Ich kann mir tolle Autos, ein Haus und coole Klamotten leisten‘“, sagt Freeway Rick Ross. „Deshalb stiegen sie ins Geschäft ein.“ Ein Zeitlang tappte die Polizei im Dunkeln. Sie suchten bei ihren Razzien nicht nach Kokain, sondern nach PCP. Aber 1986 wurden verpflichtende Mindeststrafen festgelegt – und der Besitz von Crack wurde dabei viel schärfer geahndet als jener von Kokain. Schwarze dröhnten sich nicht mehr zu als Weiße, doch war es für die Polizei viel leichter, eine Gruppe von Dealern an der Straßenecke einzukassieren als eine Haustür in Beverly Hills einzutreten.
Die Polizei von L.A. ging äußerst brutal gegen das aufkommende Bandenwesen, den Drogenmissbrauch und Gewaltverbrechen vor. Die CRASH-Einheit des LAPD – CRASH stand dabei für „Community Resources Against Street Hoodlums“ – begab sich unter dem Codenamen „Operation Hammer“ in South Central auf einen weitreichenden Kreuzzug, in dessen Verlauf tausende angebliche Gang-Mitglieder verhaftet wurden. Viele davon waren jedoch, wie sich herausstellte, absolut unschuldig. Die CRASH-Polizisten trugen nicht selten eine Extra-Knarre oder etwas Dope bei sich, um es gegebenenfalls einem Verdächtigen unterzuschieben. „Sie schlucken den Stoff runter oder werfen ihn schnell weg, also verprügeln wir sie und stecken ihnen unseres zu“, gestand einer. „Sie verstoßen gegen das Gesetz, verkaufen Drogen, also warum sollten wir ihnen Respekt schulden? Das war falsch, aber so dachten wir nun mal.“ Im Januar 1988 wurde eine 27-jährige Frau namens Karen Toshima in Westwood Village getötet, als sie versehentlich ins Kreuzfeuer zweier rivalisierender Gangs geriet. Obwohl Gang-Morde nichts Neues waren, beschlossen Bürgermeister Tom Bradley und der Stadtrat als Reaktion auf Toshimas Tötung, die in einem begüterten Viertel passiert war, Millionen von Dollar für zusätzliche Patrouillen locker zu machen.
Präsident Reagan erklärte 1982 seinen „War on Drugs“ und der Chef der Polizei von Los Angeles, Daryl Gates, ging besonders hart gegen Drogenkonsumenten vor. 1990 erklärte er vor einem Senatsausschuss, dass auch diejenigen, „die sich gelegentlich Pot reinpfeifen“, am besten „vor die Türe gebracht und abgeknallt werden sollten“. Ein besonders drastisches Instrument, das Gates einsetzte, war die Batterram, ein sechs Tonnen schwerer gepanzerter Rammbock, der mit einem über vier Meter langen Stahlarm ausgestattet war, mit dem die Türen von Häusern plattgemacht wurden, in denen man Crackhöhlen vermutete. Dieses Gerät inspirierte auch den gleichnamigen Hit des Comptoner Rappers Toddy Tee, den der junge Dr. Dre produzierte.
Im April 1989 schlüpfte die frisch als First-Lady abgelöste Nancy Reagan, die nun mit ihrem Ronald in Bel Air residierte, in Tennisschuhe und eine Windjacke der LAPD, um der Razzia in einem mutmaßlichen Drogenhaus in South Central, nahe Main Street Ecke 51st, beizuwohnen. An der Seite von Chief Gates beobachtete sie, wie ein SWAT-Team sich seinen Weg bahnte. Reagan, die den Slogan „Just Say No“ geprägt hatte, erklärte, dass sie das spärlich eingerichtete Haus als „sehr deprimierend“ empfand. Ebenso deprimierend war vermutlich der Umstand, dass zwar nur eineinhalb Gramm Crack sichergestellt werden konnten, aber dafür immerhin 14 Leute festgenommen wurden. Die Medien berichteten, dass noch im selben Jahr eine Drogenentzugsklinik im San Fernando Valley, die Nancy Reagans Namen tragen würde, eröffnet werden sollte. Allerdings sollte es nie dazu kommen, da Reagan im Sommer dem Projekt ihre Unterstützung entzog, wodurch Spendengelder in Höhe von fünf Millionen Dollar in den Sand gesetzt wurden. Ihr Sprecher erklärte gegenüber der Los Angeles Times, dass sie sich schlicht zu viel aufgehalst hätte.
Die meisten Bürger von South Los Angeles fürchteten die Cops nicht weniger als die Kriminellen. Greg Mack vom Hip-Hop-Radiosender KDAY berichtet etwa von Pistolenschüssen, die so regelmäßig zu hören waren wie die „Ghetto-Birds“ – Hubschrauber, die über seinem Zuhause in South Central kreisten, um nach Übeltätern zu fahnden. „Da meine damalige Frau eine Latina war, wurden wir ständig angehalten“, erinnert sich Mack, der selbst schwarz ist. „Sie dachten immer, ich würde Übles im Schilde führen, beziehungsweise dass ich vermutlich ein Zuhälter sei, weil ich mit einem Mädchen unterwegs war, das einen anderen ethnischen Hintergrund hatte.“
„Sie schossen Leuten in den Rücken“, weiß MC Ren zu berichten. „Sie traten einem für nichts in den Arsch.“ Fast jeder schwarze Mann aus L.A., den ich für dieses Buch interviewt habe, hat solche Geschichten auf Lager – Verkehrskontrollen wegen Lappalien oder aus reiner Willkür, Erniedrigungen, unfaire Verhaftungen. Es gehörte einfach zum Leben dazu.
Inmitten dieses Chaos’ entstand die Hip-Hop-Szene von Los Angeles. Die Musik selbst war warm und einladend, zumindest oberflächlich betrachtet. Lokale MCs rappten zu sanften, tanzbaren Beats. In den Clubs und auf Hauspartys spielten DJs die Platten von Rappern aus New York. Aus den Nissans und VW-Käfern der Mitglieder von Auto-Clubs dröhnten Mixtapes. Breakdancer aus Venice Beach vollführten Kunststücke auf Kartonunterlagen. Und manche Drogendealer investierten ihre Profite in lokale Könner wie den Hip-Hop-Titan Mixmaster Spade, der das DJ-Handwerk während seiner Schulzeit in New York gelernt hatte und nach L.A. zurückgekehrt war, um ortsansässige Nachwuchstalente wie King Tee, Toddy Tee, Coolio und DJ Pooh zu fördern – zumindest bis 1987, als er nach einer Schießerei mit der Polizei verhaftet wurde, nachdem diese eine gigantische Menge PCP bei ihm zu Hause gefunden hatte.
Eine Hip-Hop-Show, die im Sommer zuvor in der Long Beach Arena stattgefunden hatte, war im Chaos versunken. Die Headliner Run-DMC waren um ihren Auftritt gebracht worden, als eine Prügelei ausgebrochen war. KDAY-Programmgestalter Greg Mack hatte von der Bühne aus gesehen, wie ein Mann von einem der Balkone geschubst wurde, was der aber irgendwie überlebte. Angreifer hatten abgebrochene Tischbeine zu Waffen umfunktioniert und jungen Mädchen die Ketten vom Hals gerissen. Die Sicherheitskräfte waren überfordert gewesen und Dutzende hatten sich Blessuren eingehandelt.
„Es war ein Rassenkonflikt“, erzählte der populäre DJ Rodger Clayton, der die Show promotet hatte und selbst vor Ort gewesen war. „Die Long Beach Insanes hatten einem mexikanischen Mädchen ihre Handtasche geklaut und ein paar Mexikaner brachen in die Besenkammer ein, bewaffneten sich und mischten die Long Beach Insanes auf. Sie verprügelten sie mit Besenstielen und scharfkantigen Stöcken. Dann taten sich alle schwarzen Gangs zusammen und fingen an, alle mexikanischen und weißen Jungs zu verdreschen. Sie warfen sie aus dem ersten Obergeschoss, traten ihnen in den Arsch, einfach alles.“
„Manche Kritiker wie die Kreuzritterin in den Reihen des Parents Music Resource Centers, Tipper Gore“, schrieb das People-Magazine, „glauben, dass Rap-Musik eine unterschwellige Botschaft verbreite – dass es in Ordnung sei, Leute zu verprügeln.“
Aber die Wirklichkeit war komplizierter. Für viele Kids stellte Rap einen Ausweg dar, einen konstruktiven Ansatz, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Der Performer Alonzo Williams entkam etwa einer brenzligen Situation, gerade weil er DJ war. „Ich war in East L.A. und trat bei einer Gartenparty auf, wo sich zwei Latino-Gangs in die Wolle gerieten“, erzählt er. „Allerdings legten sie eine Auszeit ein: ‚Lasst den DJ nachhause fahren, er hat nichts mit dem Scheiß hier zu tun!‘ Beide Gangs halfen mir daraufhin, meine Ausrüstung auf meinen Truck zu laden.“

Als großgewachsener, breitschultriger High-School-Schüler war Andre Young bereits in den frühen Achtzigerjahren ein Frauenheld, der die Mädchen zum Lachen brachte und sie mit seinen Hip-Hop-Skills in Staunen versetzte. Seine DJ-Gruppe Freak Patrol lieferte heiße Jams bei Partys und seine Tanzeinlagen während der Halbzeitpausen der Football-Matches der Fremont High School wurden stürmisch gefeiert. Dabei vollführte er zu einem Elektrobeat einen roboterhaften Tanz voller mechanisch anmutender Schritte, abrupter Pausen und Bewegungsabläufe, die aussahen, als würde er seine Gliedmaßen zuerst auskugeln und dann wieder zurück in die Gelenke bugsieren, das sogenannte Pop-Locking. Sein Outfit bestand aus Bruce-Lee-Tretern mit Gummisohlen sowie einer an Batman erinnernden Spezialanfertigung von Jacke inklusive kleinem Cape und seinem darauf aufgebügelten Spitznamen „Sir Romeo“, der sich von seinem zweiten Vornamen Romell ableitete.
Ein anderer bevorzugter Hotspot, um sich in Szene zu setzen, war der Club Eve After Dark, der sich in der Nähe von Compton in Willowbrook befand und von schick gekleideten jungen Erwachsenen frequentiert wurde. Der Name des Clubs war nicht leicht zu erklären, hatte jedoch etwas mit Evas paradiesischem Sündenfall zu tun – und die Gäste standen Schlange, um hineinzugelangen. Die Disco-Ära lag noch nicht allzu lange zurück und so drehte sich über der Tanzfläche eine Discokugel, während die DJs groovenden R&B, Funk, Rap und Electro auftischten.
Es war wie ein Garten Eden, bevor die Schlange alles ruinierte. Es wurde kein Alkohol serviert, nur Limonade. Der Besitzer des Clubs, Alonzo Williams, erlaubte auch keine Gang-Aufmachung und bevorzugte es, wenn seine männliche Klientel sich von der Eleganz eines Morris Day inspirieren ließen: lange Freizeithosen, Schuhe mit festen Sohlen und schmale Krawatte. Zwar betraten die Mädchen den Club manchmal mit einem Dutt, schüttelten sich die Haare dann aber auf der Toilette aus. „Bevor sie dann wieder nachhause aufbrachen, drehten sie ihre Haare wieder zusammen und sagten, wenn sie daheim ankamen, ganz locker: ‚Hi, Mom!‘“, erzählt Lonzo.
Andres Mutter setzte ihn mitsamt seinem Bruder Tyree und ihren Freunden ab, fuhr dann wieder nachhause, stellte sich den Wecker auf ein Uhr und legte sich ins Bett, bis es Zeit war, sie wieder abzuholen. Im Club gelang es Andre mitunter, Unterhaltungen mit zwei oder drei Frauen gleichzeitig zu führen. Ein Baggerpartner übernahm dann kurz in den Gesprächspausen, damit keine Verdacht schöpfte.
Bereits im Alter von 16 bekamen er und Cassandra Joy Greene ein gemeinsames Kind, einen Jungen namens Curtis, den er erst Jahrzehnte später anerkannte. Auch begann er, sich für eine hübsche 14-jährige Schülerin namens Lisa Johnson zu interessieren. Sie war in South Central aufgewachsen, lebte aber mittlerweile im Westen von Los Angeles. Ihr Dad hatte sich aus dem Staub gemacht und ihr Bruder war der Bandenbrutalität zum Opfer gefallen. Andre verführte sie, als sie die neunte Klasse besuchte, wie sie selbst sagt, doch ihre Beziehung war von Anfang an umstritten gewesen. Johnsons Mutter fand, sie wäre zu jung, um einen Freund zu haben, also schwänzten sie die Schule und trafen sich heimlich.
„Dann erhielt ich eines Tages diesen einen Anruf – den Anruf, den alle Mütter von Teenagern fürchten“, schrieb Andres Mutter Verna Griffin. Lisa Johnson war schwanger.
Sie begann noch die zehnte Klasse an der Fremont, hielt aber nur wenige Wochen durch. „Ich war schwanger und sie wollten mich nicht auf dem Schulgelände“, berichtete sie. Noch schlimmer: Johnson zerstritt sich mit ihrer Mutter, die fuchsteufelswild wegen der Schwangerschaft war und ihre Tochter vor die Tür setzte.
Im Januar 1983 gebar Johnson ihre erste Tochter namens La’Tanya. Johnson war 15 und Andre 17 Jahre alt. „Er war damals ein echt stolzer Vater“, erklärte Johnson. Andres Mutter ließ Johnson und das Baby eine Weile bei sich wohnen. Johnson schlief in Andres Zimmer, während der im Wohnzimmer übernachtete. Sie wohnten auch bei seiner Großmutter in Willowbrook, unweit des Eve After Dark. Dann wiederum nächtigten sie in trostlosen Motels wie dem Snooty Fox Motor Inn an der South Western Avenue, wo Zimmer stundenweise vermietet wurden. Jedoch dauerte es nicht lange, bis Andre eine weitere junge Frau namens LaVetta Washington schwängerte. Ihre Tochter Tyra kam im Mai 1984 zur Welt. Johnson war außer sich. Schließlich war auch sie erneut schwanger.
Andre Youngs ebenso patente wie elegante Mutter Verna Griffin startete ihre eigene Modelinie und veröffentlichte sogar ihre Memoiren. Außerdem war sie beinhart und nicht leicht aus der Fassung zu bringen. Eines Nachts in Los Angeles überfielen zwei junge Männer die junge Mutter und verlangten ihre Handtasche. „Ohne zu zögern zog ich meine Pistole und zielte auf sie“, schrieb sie. „Schon liefen sie davon.“
Sie und Andres Vater, Theodore Young, besuchten noch die High School, als er zur Welt kam, nur wenige Monate vor den Watts-Unruhen von 1965. Auf Vernas Mutters Drängen hin heirateten die beiden schnell und mieteten von Theodores Stiefvater ein Apartment in der 135th Street. Die wöchentliche Miete, 18 Dollar, war in Ordnung, doch die Arbeitslosigkeit zwang Theodore, mit Drogen zu dealen. Sehr zu Vernas Leidwesen, berauschten sich seine Klienten bei ihnen zu Hause. „Der abgestandene Marihuana-Geruch war so intensiv, dass es nicht einmal half, jeden Tag zu putzen“, schrieb sie. Nur kurze Zeit später zogen sie und Andre zurück zu ihren Eltern in ein gemeindefreies Gebiet im L.A. County nahe Compton. Theodore wurde hingegen schon bald bei einer Drogenrazzia festgenommen.
Sie behauptete, er hätte sie während ihrer turbulenten Ehe geschlagen. „Wenn ich in den Laden an der Ecke ging und zu lange fort blieb, ging er auf mich los“, schrieb Verna. „Wenn ich eine – wie er fand – ausgedehnte Unterhaltung mit einem seiner Kumpel führte, ging er auf mich los.“ (Leider konnte ich Theodore Young nicht für eine Stellungnahme erreichen.) Verna fügte noch hinzu, dass er sie auch schlug, als sie mit ihrem zweiten Kind, Jerome La Vonte Young, schwanger war, der als Kleinkind an einer seltenen Darmerkrankung starb. Er begann, ihr so heftig nachzustellen, dass sie Angst hatte, das Haus zu verlassen.
Obwohl sie nach der neunte Klasse von der Schule abgegangen war, war Verna smart und erfinderisch. Sie arbeitete in schlecht bezahlten Jobs für Handelsketten wie National Dollar, Sears und K-Mart. Ihre junge Familie bewegte sich stets scharf an der Armutsgrenze und hatte nicht immer Zugang zu Telefon, Auto oder Gas. Ein weiterer Sohn Vernas starb als Kleinkind, und nach der Geburt von Andres Bruder Tyree wäre sie fast selbst gestorben, als es den Ärzten misslang, ihre Plazenta zu entfernen. Später gebar sie noch ein gesundes Mädchen namens Shameka.






