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Andre Youngs Kindheit war von ständigen Umzügen geprägt. Einmal lebte die Familie nahe des Flughafens von Compton in der Sozialwohnsiedlung Wilmington Arms, die die L.A. Times später einen „berüchtigten Drogenbasar“ nannte, der laut einem Stadtrat am besten „plattgemacht werden sollte“. Verna und ihre Sprösslinge zogen über ein Dutzend Mal um und wohnten in Häusern und Apartments in South Central, Watts, Carson, Long Beach und Compton, wo sie in der Thorson Avenue nur ein paar Blocks entfernt von Eric Wright lebten. Diese Viertel waren ein raues Pflaster. Brutale Grobiane trieben dort ihr Unwesen und Einbrecher lauerten vor der Tür. Einmal wurde ein Mann direkt vor ihrem Haus ermordet. Ein anderes Mal, so erinnerte sich Verna, führte ein Streit zwischen zwei Kindergartenkindern zu einem Messerkampf zwischen ihren Müttern. Manchmal bezogen sie Notstandshilfe und als Andre 11 war, geriet die Familie in einen schweren Autounfall. Andres Gesicht war von Glasscherben übel zerschnitten worden. Er jammerte nur wenig, obwohl über einen Monat später festgestellt wurde, dass er sich auch noch das Schlüsselbein gebrochen hatte. „Er ging so tapfer mit dem Schmerz um“, schrieb Verna. „Ich fragte mich, ob es daran lag, dass ich ihm beigebracht hatte, wie wichtig es war, Schmerz zu ertragen.“
Tyree und Little Warren
Nach der endgültigen Trennung von Theodore traf Verna ihren zukünftigen Ehemann Curtis Crayon bei einer Strandparty. Doch auch diese Beziehung verlief schon bald in unrunden Bahnen. Nach ihrer Scheidung „drangsalierte er mich mit Gewaltandrohungen“, schrieb sie und erreichte schließlich eine einstweilige Verfügung.
Doch das Resultat ihrer Ehe, der gemeinsame Sohn Tyree Du-Sean Crayon, der drei Jahre jünger als Andre war, sollte dessen größter Unterstützer und Vertrauter werden. Tyree spielte Football, Basketball und betrieb Leichtathletik – und wurde schließlich das erste Familienmitglied, das die High School abschloss. Er fand Arbeit in einem Raumfahrtunternehmen und wurde Vater eines Jungen. „Mein Bruder war mein bester Freund und wir unternahmen alles zusammen. Es war einfach immer lustig mit ihm. Wenn er zur Tür hereinkam, nahm die Party Schwung auf“, erklärte Andre einmal. Verna heiratete noch ein drittes Mal, einen Angestellten eines Luftfahrtkonzerns aus Long Beach namens Warren Griffin Jr. Ihre Familien zogen unter ein Dach, ganz im Stil von Drei Mädchen und drei Jungen, nur dass hier nun gleich acht Kids sich ein Zuhause teilten. In dieser Kinderschar befand sich auch Warren Griffin III, ein ruhiger Junge mit Brille, der später als Rapper und Produzent Warren G zu Ruhm gelangen sollte.Warren Griffin Jr. war Freimaurer und ein Karate-Meister, der Andre, Warren und Tyree in Selbstverteidigung unterwies. An manchen Wochenenden lud Big Warren die ganze Rasselbande in seinen Ford-Kombi und führte sie ins Autokino aus. Verna entwickelte hingegen ein Interesse an Modedesign und rekrutierte die Kids für ihre Präsentationen. Zurechtgemacht in Klamotten à la Miami Vice alberte Tyree über den Laufsteg, während Andre R&B und Jazz auflegte. „Wir alle modelten“, erzählt Warren G. Verna eröffnete schließlich ihre eigene Boutique in der Mall von Carson und Andres neue Freundin, die aufstrebende R&B-Sängerin Michel’le, kamen, um sie zu bewerben und Autogramme zu schreiben.
Die Familie hielt zusammen, auch in schwierigen Zeiten, etwa während eines Streiks beim Flugzeughersteller in Long Beach, als des Öfteren Eipulver auf dem Speiseplan stand. Warren G verehrte seine älteren Stiefbrüder. Andre und Tyree nannten ihn „Kibbles“, weil sein Haar sie an das Hundefutter Kibbles ’N Bites erinnerte. Sie trieben sich auch im nahegelegenen Kelly Park herum, der zum Stammesgebiet von Eric Wrights Gang zählte. Die Kids zogen den kleinen Warren auf, weil er ursprünglich aus Long Beach war – und so zeigten ihm seine Stiefbrüder, wie er sich wehren konnte. Nicht nur ein wenig balgen, nein, richtig kämpfen, wie er betont. „Sie ließen mich auf die kleinen Jungs los, wenn einer von ihnen mal wieder losplapperte“, sagt Warren G. „‚Hol ihn dir, Kibbles!‘“
Rap Talker
Wegen seiner schlechten Noten verließ Andre die Centennial High School in Compton und wechselte an die Fremont in South Central. Doch auch nach dieser Luftveränderung verbesserten sich seine schulischen Leistungen nicht, weshalb er auch aus dem Team für Wasserspringen flog. Und doch sahen seine Pädagogen etwas in ihm. „Sein Englischlehrer sagte: ‚Ich weiß, dass er kein Dummkopf ist. Ich sehe ihn in der Mittagspause beim Schach und er schlägt jeden‘“, schrieb Verna. Als begabter Zeichner fand er auch Gefallen an technischem Zeichnen. Ein Lehrer ermutigte ihn, sich intensiver damit zu beschäftigen, aber letzten Endes brach er die Fremont ab. Er stritt sich mit seiner Mutter über seine Zukunft. Sie bestand darauf, dass er zurück an die Schule gehen oder sich einen geregelten Job suchen sollte.
Aber Andres große Leidenschaft war die Musik. Auf alles andere pfiff er. Verna hätte es besser wissen müssen, schließlich war das ihre größte Gemeinsamkeit. Sie trat als Mitglied der Gruppe Four Aces auf, die selbst Kompositionen fürs Klavier schrieben, und Andres zweiter Vorname Romell bezog sich auf die Gesangsgruppe seines Vaters, The Romells. Verna hatte eine überbordende Plattensammlung und schon als Kind setzte Andre bei ihren Partys die Nadel auf die Vinyl-Scheiben. Noch bevor er lesen konnte, wusste er die einzelnen Singles anhand der unterschiedlichen Label-Farben zu unterscheiden. „Jeder in meinem Viertel liebte Musik“, erzählte er einmal. „Wenn ich über den Zaun hinterm Haus sprang, war ich schon im Park, wo es überall Ghettoblaster gab.“
Verna fuhr besonders auf den Funk der Siebzigerjahre ab: Earth Wind and Fire, Parliament-Funkadelic, James Brown, Isaac Hayes und so weiter. Und so wuchs auch Andre damit auf. Ein Konzert von Parliament-Funkadelic, das er als 14-Jähriger im L.A. Coliseum besuchte, haute ihn total aus den Socken. Er stand mit offenem Mund da, als ein Funk-Raumschiff von oben herabschwebte und George Clinton seine Band auf seine extravagante, ausgeflippte Weise auf die Bühne führte. An Ort und Stelle beschloss Andre, sein Leben der Musik zu widmen. „Bevor ich von ihnen gehört hatte, wollte ich noch technischer Zeichner werden“, schrieb er später in der Los Angeles Times. „Aber die Musik von P-Funk [Parliament Funkadelic] öffnete meinen Verstand für die Idee, dass es keine Grenzen gab, außer jenen, an die man glaubte.“ Der Funk wurde zum prägenden Sound seines Lebens, zur Grundlage seines Schaffens.
Andre lernte Klavier zu spielen und Noten zu lesen. Doch vor allem war er mit einem ausgezeichneten Gehör für zusammenpassende Sounds gesegnet. Als er zu Weihnachten ein Mischpult geschenkt bekam, brachte er sich bei, Komponenten verschiedener Songs miteinander zu verbinden. „Das war das ultimative Geschenk“, sagte Andre. „Wer braucht schon ein Fahrrad, ich habe ein Mischpult!“
In den Siebziger- und Achtzigerjahren waren die DJs die Stars im Hip-Hop. Wenn ein Rapper auf den Plan trat, dann hauptsächlich, um den Mann an den Turntables hochleben zu lassen. Einer der ersten populären Rapper in L.A. war Ice-T. Sein Song „Reckless“ war im Grunde genommen ein ausführlicher Shout-out an seinen DJ, Chris „The Glove“ Taylor: The DJ named Glove has reigned supreme / As the turntable wizard of the hip-hop scene. „Reckless“ erschien auf dem Soundtrack zu Breakin’, einem Hip-Hop-Film aus dem Jahr 1984, in dem es auch jede Menge Pop-Locking zu sehen gab. Die MCs spielen nur eine untergeordnete Rolle. Im Abspann wird Ice-T als „rap talker“ angeführt.
Früher Hip-Hop wurde in erste Linie live aufgeführt, etwa auf Partys, und als Gruppen anfingen, ins Studio zu gehen, versuchten sie das dort vorherrschende gesellige Ambiente nachzuahmen. Doch schon bald wandten sich Gruppen wie Grandmaster Flash and the Furious Five mit Nummern wie „The Message“ (1982) soziopolitischen Themen zu und ab Mitte der Achtzigerjahre war Hip-Hop mit aggressiven Backing-Tracks ein großes Ding in New York. Run-DMC und LL Cool J rappten zu harten Beats und der MC begann den DJ als dominante Figur abzulösen.
Aber die Message hatte sich nicht bis L.A. herumgesprochen. Dort war die Party noch im vollen Gange. Ein flotterer, von starkem Synthie-Einsatz geprägter Electro-Dance-DJ-Sound inklusive maschineller Vocoder-Stimmen regierte nach wie vor die Dancefloors. Die Leute interessierten sich weniger für gepflegten Sprechgesang als dafür, ordentlich einen drauf zu machen. Angesagte DJs wie Egyptian Lover produzierten Sounds, die sich heutzutage eher nach Techno anhören. An den Turntables manipulierte er Schallplatten so, dass sie einen Drumbeat oder eine bestimmte Stelle eines Songs dreimal hintereinander spielten – boom, boom, boom! Egyptian Lover tat sich mit einer mobilen DJ-Crew zusammen, die sich Uncle Jamm’s Army nannte und ihr Audio-Equipment stets mitbrachte, wenn irgendwo eine Party abgehen sollte. Der Leader der Gruppe, Rodger Clayton, verfügte über jede Menge Swag und hatte ein Händchen für Vermarktung. Kids konnten ihre Adressen in Versandlisten eintragen und wurden von ihm durch Postkarten auf dem Laufenden gehalten.Uncle Jamm’s Army waren beeinflusst von Afrika Bambaataa, einem DJ-Pionier aus New York und ehemaligen Mitglied einer brutalen Gang aus der Bronx, den Black Spades, der schließlich die auf Hip-Hop ausgerichtete Bewegung Universal Zulu Nation aus der Taufe hob. Sein Song „Planet Rock“, der sich musikalisch bei den deutschen Electronic-Urvätern Kraftwerk bediente, wurde gleich nach seiner Veröffentlichung 1982 zu einem Dancefloor-Hit. Uncle Jamm’s extravagante Electronic-Eskapaden orientierten sich stark an Bambaataa und erfreuten sich in den frühen Achtzigerjahren großer Beliebtheit. Die Gruppe trat zunächst noch an Orten wie dem Veterans Memorial Auditorium in Culver City auf, irgendwann aber sogar auch in der L.A. Sports Arena – vor über 5.000 Bandana-Girls in Miniröcken und afroamerikanischen Mods, die in Trenchcoats skankten. Nach dem Vorbild von Run-DMC und den Fat Boys trugen die anwesenden B-Boys übergroße Cazal-Brillen und geflochtene Goldketten, sogenannte „Dookie-Ropes“.
Das ohrenbetäubende Arsenal spielte auch in der Werbung für die Veranstaltungen eine Rolle. Der Flyer, mit dem 1983 eine Show von Uncle Jamm’s Army in der Sports Arena angekündigt wurde, versprach etwa „100 Lautsprecher“, die in Pyramidenform übereinander gestapelt wurden. In mit Nieten besetzten Lederoutfits und mit Waschbärkappen geizten sie bei ihren Gigs auch nicht mit Nebel und Flammen. Die DJ-Crew umfasste Egyptian Lover, DJ Pooh, Keith Cooley (den Halbbruder des innovativen Turntable-Künstlers Joe Cooley) und Bobcat, der von der Ostküste zurückgekehrt war und sich dort den für Philadelphia typischen „Transformer-Sound“ zu eigen gemacht machte, dessen Bezeichnung sich von den gleichnamigen Actionfiguren herleitete. Diese Shows ähnelten weniger Konzerten, sondern eher dem, was wir heute unter einem Rave verstehen, auf dem ein DJ ohne Unterbrechung die Musik und somit die Party am Laufen hält. Obwohl Uncle Jamm’s Army Rap-Songs spielten, fanden sich keine Rapper in ihren Reihen (mit Ausnahme von Ice-T). „Es wurde öde“, erklärte Rodger Clayton. „Wir können Rapper nicht länger als zwei Minuten einsetzen, weil sie den Energielevel stören.“
Disco Lonzo
Obwohl kaum jemand noch weniger Gangsta als er war, ist Alonzo Williams wohl der unbesungene Architekt der Gangsta-Rap-Ära. Williams, ein angepasster Typ, der acht Jahre älter als Dre und in Willowbrook aufgewachsen war, hatte eine katholische Schule besucht. Als mobiler DJ legte er nun Disco und R&B auf und machte unter seinem Künstlernamen Disco Lonzo auch dank seiner extravaganten Outfits von sich reden. Er trug ein Superman-Shirt, eine Trillerpfeife und einen Bauarbeiterhelm mitsamt Sirene. Um seinen Hals hing eine Goldkette, die mit dem Wort „Lonzo“ verziert war und an der noch eine Rasierklinge baumelte, die er brauchte, um sein Kokain in Lines aufzuteilen. „Er war wie Disco Stu von den Simpsons“, beschrieb ihn Unknown DJ. Lonzo organisierte sich Helfer, die ihn allabendlich dabei unterstützten, seine Ausrüstung auf- und abzubauen und auch als Namensspender für seine Gruppe aus DJs Pate standen: World Class Wreckin’ Cru.
Lonzos Dad hatte ihn mit dem jungen Besitzer des Eve After Dark bekanntgemacht, der 1979 begann, dort Partys zu schmeißen. Er veranstaltete zum Beispiel einen „Super Freak Contest“, bei dem Frauen 100 Dollar gewinnen konnten, wenn sie „extrem erotische Moves“ hinlegten, um das Publikum anzutörnen. Er ließ auch männliche exotische Tänzer in einem Schaufenster auf Straßenebene auftreten, weil die „viel weniger zickig als die Tänzerinnen“ waren.
Andre Young fing an, das Eve After Dark an Wochenenden zu frequentieren. Der Club ermöglichte ihm auch seinen ersten Durchbruch, als er sich 1982 eines Abends auf die Bühne manövrierte, wo er an den Turntables einen Doo-Wop-Klassiker aus dem Jahr 1961, „Please Mr. Postman“ von den Marvelettes, mit Afrika Bambaataas „Planet Rock“ kombinierte. Die Clubgäste waren schwer beeindruckt, lange bevor Computer-Software solche Manöver alltäglich machte. „Die eine Platte war doppelt so schnell wie die andere. Also passten die Beats nicht alle genau, aber es funktionierte“, sagte Lonzo. „Es war eine Meisterleistung.“
Andre nahm manuell Songs direkt aus dem Radio auf, um sie mit einem Vierspurrekorder miteinander zu verweben. Diese krude Technik half ihm, die Mash-ups zu bewerkstelligen, die er sich ausgemalt hatte. „Du hörtest zwar ‚Oh Sheila‘ von Ready for the World, aber der Gesang stammte von einem Prince-Song und die Harmonie wiederum von jemand ganz anderem“, erinnert sich Greg Mack. „Die Leute meinten, dass er gar kein richtiger DJ sei, aber ich sagte, dass es mir egal wäre, wie sie es nannten. Der Shit klang gut!“
„Statt einfach in einem Club einen Hit nach dem anderen aufzulegen, versuchte ich eine richtige Show abzuziehen“, sagte Andre später. Er begann auch, sich selbst Dr. Dre zu nennen, wozu er sich vom Basketball-Star Julius „Dr. J“ Erving inspirieren ließ. Manchmal fügte er auch noch den Titel „The Master of Mixology“ hinzu. Lonzo zahlte ihm 50 Dollar pro Abend und lud ihn ein, sich der World Class Wreckin’ Cru anzuschließen. Auch ermöglichte er ihm den Zugang zu hochwertigem Aufnahmeequipment, inklusive eines erstklassigen Drumcomputers mit Bass-Soundeffekten.
Der frisch promovierte Dr. Dre knüpfte Kontakte zu KDAY, einem in Echo Park beheimateten AM-Radiosender, der zwar nur über ein leicht rauschendes Signal verfügte, aber dennoch der erste Sender der Welt war, der vorrangig Hip-Hop spielte. Er und DJ Yella, sein Kollege bei der Wrecking Cru, kreierten Mixes, die ideal für den Verkehrsstau waren, und Dre performte im Auftrag des Senders bei „Noon Dances“ in High Schools, die über das ganze Stadtgebiet verteilt waren. Während Schulkinder ihre Milch schlürften und ihre Sandwiches verschlangen, spielte er die aktuellsten Rap-Songs und mitunter sogar Parliament-Funkadelic, bis er sie soweit hatte, dass sie aufstanden.
Er wurde zu einem Fixstarter im Eve After Dark, ein Teenager hinter den Turntables, der wusste, was die Leute wollten, aber nicht immer bereit war, es auch zu spielen. So brachte er ein paar lokale Bloods gegen sich auf, weil er sich weigerte, den Bar-Kays-Song „Freak Show“ zu spielen, wie Stammgast Anthony Williams weiß. „Die Bloods liebten es, zu diesem Song zu pop-locken“, sagt er, „aber er ließ sich von niemandem sagen, was er spielen sollte.“
„Als ich anfing, meine Skills zu entwickeln, musste ich es auf die harte Tour lernen“, ergänzt Dre. „Es war praktisch wie learning by doing.“
Er nahm sich einfach alles
Während Andre beruflich expandierte, wurde sein Privatleben zunehmend kompliziert. Lisa Johnson behauptete, er hätte sie zweimal geschlagen, als sie mit ihrer zweiten gemeinsamen Tochter schwanger war – Anschuldigungen, die durch einen Antrag auf einstweilige Verfügung gegen ihn Substanz erhielten. Beim ersten Mal, als sie im sechsten Monat war, stieß er sie um und sie knallte mit ihrem Kopf gegen die Wand, woraufhin er sie „mehrmals“ schlug, wie im Protokoll ihrer Anzeige vom 7. Mai 1985 nachzulesen ist. Darin beschuldigt sie ihn auch, sie noch einmal geschlagen zu haben, als sie im achten Monat schwanger war. Sie gab an, er sei wütend darüber gewesen, dass sie seine Mutter über die neuerliche Schwangerschaft informiert hatte.
(Dr. Dre ließ mir über seinen Anwalt ausrichten, dass er zu Johnsons Vorwürfen keine Stellung beziehen möchte. Und falls Dre den Behauptungen, die gegen ihn in der einstweiligen Verfügung erhoben worden waren, schriftlich widersprochen haben sollte, so waren mir diese Unterlagen leider nicht zugänglich.)
Auch die Geburt von La’Toya im September 1984 konnte die Wogen nicht glätten. Ein paar Tage vor Weihnachten jenes Jahres, so steht es im Polizeiprotokoll, schlug er sie im Haus von Johnsons Mutter auf den Mund und ihre Lippe platzte auf. Im April 1985 suchte er sie im Haus ihrer Tante in South Central auf, wo sie zu diesem Zeitpunkt wohnte. Er war gerade 20 geworden und sie war mittlerweile mit ihrer dritten gemeinsamen Tochter schwanger. Es war bereits Andres fünftes Kind. Sie sagte, sie wolle ihn nicht mehr sehen, weil er keinen Unterhalt für die Kinder bezahlte, woraufhin er sie laut Protokoll zweimal niederstieß. „Wenn meine Cousine Nessa nicht eingegriffen hätte, hätte er mich getreten, als ich am Boden lag“, gab sie an. „Nessa sagte, er solle mich in Ruhe lassen. Er sprang in sein Auto und sagte: ‚Ich komme wieder.‘“] Lisa Johnsons Tante, die darum gebeten hat, nicht namentlich erwähnt zu werden, erinnert sich ebenfalls an diesen Vorfall. „Er schlug sie auf den Kopf, er trat sie und gab ihr alle möglichen Schimpfnamen“, erzählte sie mir. „Ich ging dazwischen, packte ihn, zog ihn von ihr weg und stieß ihn in den Rosenbusch.“ Keine zwei Wochen später kam er, wie Lisa der Polizei berichtete, tatsächlich wieder. „Er hatte eine Pistole und rief: ‚Komm raus, Bitch.‘ Er würde mich umbringen und ich wüsste ja nicht, mit wem ich es zu tun hätte.“ Auch Johnsons Tante bestätigt diese Aussage.
Lisa Johnsons Anschuldigungen führten nie zu einer Gerichtsverhandlung, da sie keinen Strafantrag stellte. Aber ihre Tante half ihr, einen Antrag auf Unterhaltszahlungen sowie auf eine einstweilige Verfügung aufgrund häuslicher Gewalt einzureichen. Am 29. Mai 1985 ordnete der stellvertretende Richter Lee B. Ragins an, dass Andre sich 100 Yards von Johnson fernzuhalten und ihr monatlich 200 Dollar für jedes der Mädchen zu überweisen hätte. Laut Johnson ignorierte er jedoch beide Anweisungen. „Er zahlte keine Alimente und er hörte nicht auf, Kontakt zu mir aufzunehmen.“ Sie fügt noch hinzu, dass er erst für die Erziehung der Kinder aufkam, als ihn ein Gericht in den Neunzigerjahren dazu verpflichtete – lange nachdem er mit N.W.A und als Solo-Act zu einem großen Star geworden war.
„Er stellte ihr ganzes Leben auf den Kopf. Sie war seitdem nicht mehr dieselbe. Sie war einmal eine wunderschöne junge Lady“, sagt Johnsons Tante. „Er nahm sich einfach alles, was sie hatte.“
„Ich liebte ihn wirklich“, erklärt Johnson. „Er war jemand, zu dem ich aufblickte, weil er eine Vision hatte. Ich sah, wie er sich um seine Musik, die er machen wollte, bemühte, und ich glaubte an diesen Typen. Ich glaubte alles, was er mir sagte.“
„Er rackerte sich ab, Geld für die Kids aufzutreiben – aber keiner von uns hatte Kohle“, sagt Cli-N-Tel, das vierte Mitglied der World Class Wreckin’ Cru. „Es gab einen Punkt, an dem es nicht so aussah, als würden wir es mit der Musik schaffen.“
In ihren Memoiren beschuldigte Andres Mutter Johnson, mitunter eine verantwortungslose Mutter gewesen zu sein und außerdem „Geschichten zu erfinden“, damit Andre ihr Beachtung schenkte.
Drei weitere Frauen sollten Andre später vorwerfen, von ihm geschlagen worden zu sein, darunter auch eine Mutter eines seiner anderen Kinder.
Chirurgische Präzision
Die Musik bewahrte Andre davor, dass das Chaos in seinem Leben Überhand nahm. Doch obwohl er Hip-Hop liebte, war unklar, ob er auch davon würde leben können. Die Szene in L.A. befand sich immer noch in der Anfangsphase und es gingen noch keine Stars aus ihr hervor wie an der Ostküste. „Die Leute im Osten wussten nicht viel von dem, was im Westen abging“, sagte The Glove. „Damals war ihr Spitzname für Los Angeles ‚Southern‘.“
1983 holte Lonzo Run-DMC ins Eve After Dark und Dr. Dre war sehr inspiriert von ihrem Auftritt. Doch die New Yorker Gruppe in ihren Lederoutfits konnte mit dem lokalen Morris-Day-Style nicht viel anfangen. „Sie sahen uns an, als wären wir ein Haufen Schwuchteln“, sagte Lonzo.
„Ein paar Leute von der Ostküste hatten damals für niemanden Respekt übrig“, gesteht Afrika Bambaataa. Er hingegen respektierte die Westküste, wie er sagt. Und dieses Gefühl basierte auf Gegenseitigkeit. Die World Class Wreckin’ Cru bediente sich etwa bei ihrem Track „Planet“ ganz offensichtlich bei „Planet Rock“. We are the pilots of your shuttle, transporters of love, intonierten sie begleitet von außerirdisch anmutenden Synth-Effekten.
Die Besetzung der Gruppe stabilisierte sich schließlich und bestand nur noch aus vier Mitgliedern. Alle vier waren DJs, die bis zu einem gewissen Grad auch rappen konnten. Lonzo war zum Beispiel durch sein Lispeln eingeschränkt, und da Dr. Dre LL Cool J zu imitieren schien, wurde ihm der Spitznamen „LL Cool Dre“ verpasst. Ihre Songs nahmen sich einer breiten Palette von Themen an. „(Horney) Computer“ war zum Beispiel inspiriert von der cyber-erotischen Fixiertheit der damaligen Zeit, wohingegen „Gang Bang You’re Dead“ sich wiederum mit der aufsteigenden Gang-Kultur beschäftigte:
You wear red rags, blue rags, and big shoelaces
You drink 40 ounce brews by the cases
You dress so tacky ’til you look like a slob
And you wonder why you can’t get a job?
Cli-N-Tel hatte die Idee zu dem Song, nachdem ein Freund der Bandengewalt zum Opfer gefallen war. Auch Lonzo und Dre trugen zum Song bei und es war einer der ersten Tracks, auf denen Dre rappte. Mit „Surgery“ lief er zur Hochform auf. Begleitet von Hauchlauten, heftigem Scratching und einem Synth-Lauf, der wie ein Herzmonitor piept, präsentierte er sich im Schürzenjäger-Modus: The nurses say I’m cute, they say I’m fine / So you better beware because I’ll blow your mind. Schrittweise legte er seine Fesseln ab und wurde immer vertrauter im Umgang mit dem Mikro. Allerdings hasste er den – wie er fand – entmannenden Song „Lovers“, der sich an LL Cool Js „I Need Love“ orientierte. Darin nahm die Sängerin Mona Lisa verbal jedes Mitglied der Gruppe der Reihe nach auseinander. Als der Song jedoch zu ihrem größten frühen Hit wurde, konnte er nur schwer dagegen argumentieren. „Dre und DJ Yella wollten anfangs keine langsamen Platten machen“, sagt Cli-N-Tel. „Lonzo und ich überzeugten sie, dass das eine gute Sache wäre. Doch als sie sahen, dass die Girls dazu komplett durchdrehten, waren sie ganz Feuer und Flamme.“
Feiner Zwirn
Wer den Namen des aus West Compton stammenden Antoine Carraby hört, denkt unweigerlich sofort an seine Turntable-Skills. Ursprünglich trat der introvertierte, eher hellhäutige Carraby unter dem Namen Bric Hard auf, bis er sich auf Anregung des ehemaligen Cru-Mitglieds Unknown DJ und in Anlehnung an den gleichnamigen New-Wave-Song der Gruppe Mr. Yellow aus dem Jahr 1981 in Yella umbenannte. Der obsessive Prince-Fan trug mit Vorliebe Paisleymuster und war für seine Moves bekannt, die er direkt aus Purple Rain übernommen zu haben schien. Er war entspannt, sorgte nicht für Stunk und gab sich unbeschwert.
Andre und Yella liebten es nicht nur, gemeinsam Frauen aufzugabeln, sie passten auch musikalisch hervorragend zusammen. Nach einer Show von Kurtis Blow unterwies dessen DJ, Davy DMX, Yella in der Scratch-Kunst, woraufhin der wiederum Dr. Dre Starthilfe gab. Das war eine große Sache: Nicht viele Leute an der Westküste scratchten damals – und Dre ließ von Anfang an nichts anbrennen. „Dre war schneller an den Turntables als Yella“, erinnert sich Cli-N-Tel. „Yella vermischte eher Tracks miteinander, während Dre lieber scratchte.“
Das Hauptquartier der Gruppe war Alonzo Williams Eigenheim in South Central, wo die Jungs aufnahmen, abhingen und ihre Dance-Moves übten. „Wir beobachteten uns im Fenster und sahen uns gegenseitig beim Üben zu“, erzählte mir Lonzo im Juli 2014. Wir unterhielten uns in seinem Studio, einem freistehenden Bungalow hinter besagtem Haus, in dem er immer noch lebt. Der Vorbesitzer war kein Geringerer als der berühmte Bandleader Johnny Otis. Lonzo hatte große Pläne und veröffentlichte ihre Debüt-LP World Class 1985 auf seinem eigenen Label Kru-Cut. Außerdem feilte er an ihrem Image. Das Coverfoto wurde in einem improvisierten Studio in den Büros von Macola Records fotografiert. Das Label war auch für die Pressung des Albums zuständig. Andres Mutter Verna und ein mit Lonzo befreundeter Schneider halfen dabei, ihre Klamotten anzufertigen. Für das Foto-Shooting trug Williams eine schwarze paillettenbesetzte Jacke und sternenförmige Ohrringe. Cli-N-Tel schlüpfte in ein lilafarbenes Smoking-Jackett aus Samt mit schwarzen Pailletten. Dazu trug er ein weißes Anzughemd, das er fast bis zum Nabel aufgeknöpft hatte. Yella trug eine ähnliche Jacke mit Schulterpolstern und seine Hände steckten in weißen Handschuhen. Als Grundlage für Dr. Dres mit weißen Pailletten besetztes, figurbetontes Outfit hatte ein Chirurgenkittel aus einem Laden für medizinisches Zubehör gedient. Um seinen Hals baumelte sogar ein Stethoskop. Make-up war für jede tanzbare Gruppe dieser Ära, die etwas auf sich hielt, quasi Pflicht – ganz zu schweigen von den Hair-Metal-Bands, die damals den Sunset Strip unsicher machten. Der World Class Wreckin’ Cru stand kein professioneller Maskenbildner zur Seite, weshalb sich die Managerin der Gruppe, Shirley Dixon, die Tochter der Blues-Legende Willie Dixon, ins Zeug legen musste. Sie puderte ihre Gesichter und fettete ihre Lippen ein, damit diese schön glänzten. Dre wurde mit etwas Rouge präpariert und zu guter Letzt wurden er und DJ Yella noch mit einem Hauch Eyeliner aufgepeppt. Hier war auch der Einfluss von Prince spürbar. „The Purple One“ hatte die allgemeine Vorstellung von Männlichkeit in der Popmusik drastisch verändert. Abgesehen davon scheuten sich auch Acts wie Afrika Bambaataas Soulsonic Force oder Dres Idole Parliament-Funkadelic nicht, farbenfrohe Outfits zu tragen und sich wild-dramatisch zu präsentieren. „Das waren die Achtziger!“, betont Lonzo. „Da hat man eben ein bisschen Make-up getragen.“






