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„Wie sieht es mit den orbitalen Strukturen aus?“, fragte Craibian nun weiter. „Was hast du dir ausgedacht?“
„Da wir hier länger bleiben wollen als auf dem Mars, hab ich mir ein etwas ambitionierteres Projekt überlegt“, gab Talon zurück und grinste.
„Oh weh“, stöhnte Craibian, „wenn du schon das Wort ambitioniert in den Mund nimmst, muss das was heißen.“
Talon ließ sich nicht beirren und fuhr fort: „Ich dachte an einen Planetenring.“
„Bist du sicher, dass ambitioniert dafür nicht etwas, nun ähm, untertrieben ist?“, fragte Craibian seinen Raumschifftechniker mit hochgezogenen Augenbrauen. Ein Planetenring bezeichnete eine theoretische Struktur, über die sich Craibian und Talon schon ein paarmal unterhalten hatten. Es war quasi eine gigantische ringförmige Raumstation, die einmal um den Planeten führte und als Werft, Hafen, Verteidigungsstation, Lebensraum und als interstellares Handelszentrum des ganzen Planeten dienen konnte.
„Deswegen ist das auch eher ein Langzeitprojekt. Ich dachte, wir fangen damit an, dass wir einen Teil davon schon mal errichten und als Werft und Handelshafen nutzen“, schlug Talon vor. „Wir können ihn dann nach und nach ausbauen, bis der Ring irgendwann komplett ist. Im Moment wäre das ja auch noch total überdimensioniert.“
„Ein bisschen, ja“, stimmte Craibian ihm zu. „Aber ich gebe zu, dass die Idee mich reizt.“
„Dann werde ich mir schon mal Gedanken zum Aufbau des Rings machen und mit einem Handelshafen- und einem Werftsegment anfangen, sobald die Bauarbeiten auf dem Planeten abgeschlossen sind.“
„Wenn wir genug Rohstoffe dafür übrig haben, gern. Allerdings sollten wir erst eine normale Werft errichten, das geht wahrscheinlich schneller und wir brauchen auf jeden Fall erst mal mehr Schiffe. Nigel würde sich bestimmt freuen, wenn wir schnellstmöglich wieder eine Werft haben.“ Nigel war Craibians bester Freund und in seiner Funktion als General der Verantwortliche für die Truppen und die Verteidigung des Planeten. Er drängte Craibian schon seit Tagen dazu, endlich mit dem Bau von Verteidigungsstationen im All zu beginnen, aber dieser ging so vor, wie er es als Kind auch immer bei seinen strategischen Computerspielen getan hatte. Erst musste die Wirtschaft laufen, dann konnten Ressourcen für das Militär verwendet werden. Jeder Atlantae musste ein Zuhause haben, die wichtigsten Fertigungsstätten mussten stehen sowie ein gewisses Freizeitangebot für alle und dann waren da noch Ranora, Arieana, Cyran und Talon, die alle ein Labor und Ressourcen für ihre Forschungen haben wollten.
„Wenn wir nicht besser vorbereitet sind, wenn wir das nächste Mal angegriffen werden, werden unsere Verluste größer sein als bei den letzten Schlachten“, hatte Nigel ihn gewarnt. „Wir brauchen mehr Schiffe und vor allem eine bessere Bodentruppe. Wenn wir auf einem Planeten kämpfen müssen, haben wir nur wenige ausgebildete Infanteristen und die Wyvern als Flugunterstützung.“ Der Wyvern war ein kleiner unbemannter Jäger, der sowohl im Raum als auch in der Atmosphäre eingesetzt werden konnte.
„Gegen wen sollen wir denn hier kämpfen?“, hatte Craibian ganz direkt gefragt. „Die Menschen haben keine hyperraumfähigen Raumschiffe und sonst haben wir noch keine andere intelligente Spezies getroffen.“
„Ja, noch ...“, hatte Nigel erwidert. „Vielleicht haben hier ja doch mal welche gewohnt und die kommen irgendwann wieder.“
„Wir haben keine Spuren von Zivilisation hier gefunden, und selbst wenn du recht hast, wieso sollten die erst alle hier verschwinden und dann wiederkommen?“ Nigel hatte daraufhin nichts mehr erwidert. Er war etwas paranoid, und als Führer des Militärs war das vielleicht auch ganz gut, aber manchmal musste er etwas gebremst werden. Auch Craibian wollte früher oder später die Verteidigung ihrer neuen Heimat verbessern, aber fürs Erste war es wichtiger, hier überhaupt eine Heimat aufzubauen. Doch genauso wichtig war es, den Planeten und das System überhaupt erst mal kennenzulernen. Sie wussten so gut wie nichts über die zehn Gesteinsplaneten, drei Gasriesen und Dutzende Monde, die sie umkreisten. Im Moment hatte die Erforschung von Atlantis die höchste Priorität, da sie hier lebten. Danach jedoch wollte Craibian das gesamte System erforschen lassen, dann die umliegenden Systeme und so weiter. Das alte Atlantis hatte sich damals auf einer Insel völlig isoliert. Craibian wollte nicht, dass das wieder geschehen würde.
Nigel glaubte, er würde bald sterben. Warum hatte es kein kühlerer Planet sein können? Trotz seiner atlantischen Physis war er völlig durchgeschwitzt, doch seine Rekruten sahen auch nicht besser aus. Die tropische Hitze und die starke körperliche Belastung ließen selbst den abgehärtetsten Atlantae völlig verschwitzt werden. Nachdem er Craibian tagelang damit in den Ohren gelegen hatte, dass ihr Militär dringend ausgebaut werden müsse, hatte dieser ihm schließlich zumindest erlaubt, einhundert Atlantae zum Militärdienst zu verpflichten und zu trainieren. Es war kein großes Problem gewesen, Freiwillige zu finden. Fast alle Atlantae hatten schon in mindestens einer Schlacht gekämpft und wussten, dass es besser war, vorbereitet zu sein. Zudem winkten für die späteren Soldaten eine Menge Privilegien. Nigel vermutete, Craibian hatte diesbezüglich nur zugestimmt, damit er beschäftigt war und Craibian erst mal seine Ruhe hatte. Jetzt hetzte er mit einer neuen Gruppe von Rekruten durch den Dschungel und versuchte, die Neulinge immer weiter anzutreiben.
Er hatte mit dieser sehr rigorosen Ausbildung erst vor ein paar Tagen begonnen, und doch sah er bereits die Früchte des Trainings. Auch bei ihm selbst. Auf dem Mars war er etwas bequem geworden und deshalb übernahm er den körperlichen Teil des Trainings selbst. Das Magietraining leitete sein frisch ernannter Offizier Torgon, der bis auf die beiden Elemente Leben und Elektrizität jede Magieart mit Bravour gemeistert hatte. Selbst Craibian konnte wahrscheinlich von ihm noch das eine oder andere lernen. Dann kamen noch Flugstunden mit Luca dazu, Taktikunterricht mit Inrey und Palar und Erste Hilfe mit Elanie. Nigel war froh, dass die junge Heilerin sich dazu bereit erklärt hatte, das zu übernehmen. Mit ihren fünfzehn Jahren war sie eine der jüngsten Atlantae, die es im Moment gab, und dennoch zollte ihr die Truppe Respekt. Jeder wusste, dass es unklug war, die beste Heilerin, die sie momentan hatten, zu verärgern. Falls es wieder Krieg geben würde, wären sie vielleicht auf ihre Heilkünste angewiesen. Es gab nicht viele Lebensmagier und noch weniger, die wirklich begabt darin waren. Auf fünfzig Atlantae kam vielleicht einer, der den Magiestrom des Lebens anzapfen konnte. Nur das neue Element Elektrizität war noch weniger verbreitet. Da standen die Chancen, es nutzen zu können, etwa eins zu zweihundert. Am häufigsten waren Erd-, Feuer-, und Wassermagier unter den Atlantae vertreten. Nigel hatte die Erfahrung gemacht, dass diese drei Elemente auch die nützlichsten im Kampf waren.
Die letzten Kriege gegen die Menschen hatten sie ohne allzu große Verluste gewonnen, allerdings waren sie auch in fast jeglicher Hinsicht überlegen gewesen, nur nicht, was ihre Anzahl anging. Insgesamt waren sie jetzt nur noch etwas über siebenhundert Atlantae, und bisher waren etwa fünfzig von ihnen im Kampf gefallen und dreißig waren vor einigen Wochen desertiert und mit der Artemis abgehauen. Der Umstand, dass laut Arieana nun die erste Atlantin ein Kind erwartete und ihr Volk jetzt hoffentlich wieder wachsen konnte, hatte bei Craibian und Nigel für etwas Erleichterung gesorgt. Nigel dachte praktisch. Ihre zahlenmäßige Unterlegenheit war ihre größte Schwäche, und wenn es nach ihm ginge, durften ruhig noch ein paar mehr Atlantae Väter und Mütter werden. Bis es jedoch so weit war, dass ihr Volk groß genug war, um ein ganzes Heer aufzustellen, musste er mit den wenigen Kriegern zurechtkommen, die er bekommen hatte. Deswegen musste jeder alles können. Jeder war Infanterist, Pilot, Taktiker, Arzt und Techniker in einem. Jeder Soldat musste in der Lage sein, eine Waffe und die schweren Kampfanzüge zu bedienen, die sie bisher in der Schlacht geschützt hatten. Jeder musste eine Drohne steuern, ein Shuttle fliegen und jeden Bereich jedes Raumschiffes bedienen, warten und reparieren können. Und nicht zuletzt sollte jeder die Stärken und Schwächen jeder Waffe und jedes Raumschiffes kennen. Für Spezialisierungen waren sie einfach zu wenige, und zum Glück lernten Atlantae schnell und dank der KI oder des Atlantae, die jeder in sich trug, war es auch nicht schwer, große Mengen an Wissen jederzeit abzurufen. Was die Sache auch einfacher machte, war, dass die Entwürfe zu den Raumschiffen so gestaltet worden waren, dass es nur eine Handvoll Atlantae brauchte, damit sie einsatzfähig waren. Das meiste war vollkommen mit Droiden automatisiert worden, und nur für die kritischen Bereiche wie Waffen, Triebwerke und Schilde brauchte es einen Atlantae, der sie steuerte. Falls jedoch die Droiden ausfallen sollten, musste natürlich jeder Atlantae in der Lage sein, ihren Job zu übernehmen. Zum Glück war momentan Frieden und kein neuer Konflikt in Sicht, doch Nigel lebte stets nach der Devise: Wenn du Frieden willst, bereite dich auf den Krieg vor. Auch damals, als sie auf dem Mars gelandet waren, hatten die meisten gedacht, dass sie jetzt sicher vor den Menschen wären, nur Nigel nicht. Und wer hatte recht behalten?, dachte sich Nigel. Er war sich sicher, dass auch diesmal ein neuer Konflikt näher war, als Craibian oder der Rat glaubten, und beim nächsten Mal wollte er vorbereitet sein. „Weiter geht’s. Los Leute, nicht einschlafen!“, rief er über die Schulter, biss selbst die Zähne zusammen und zwang sich, noch mal einen Zahn zuzulegen. Vor ihm lagen heute noch dreißig Kilometer und er wollte vor der Mittagshitze mit dem Trainingslauf fertig sein.
Ich bin nicht sicher, ob du das essen solltest, Valentina.
Ach was, das hat so gut gerochen, dann passt es bestimmt super dazu,entgegnete die Atlantin der Stimme in ihrem Kopf. Sie hatte heute nach ihrer Arbeit in den Gewächshäusern am Fuß eines Baumes einen kleinen Strauch gefunden. Seine Blätter hatten einen würzigen Geruch verströmt, also hatte sie einige davon mitgenommen. Gerade eben zerrieb sie einige Blätter davon und mischte sie in die Reispfanne, die sie sich repliziert hatte. Das replizierte Zeug schmeckt immer gleich und ich hab die Blätter auf Giftstoffe überprüft. Vertrau mir, das wird lecker.
Das hast du auch bei deiner letzten Kombination gesagt, und das war echt widerlich,erwiderte Galizia, die alte Atlantin, mit der Valentina ihren Körper teilen musste.
Und doch war es immer noch besser als der Brei, den ich jahrelang hab essen müssen,stellte Valentina trocken fest.
Als sie noch ein Mensch gewesen war, war Valentinas Leben furchtbar gewesen. Sie selbst hatte nichts anderes gekannt und so auch nichts vermisst, aber rückblickend fragte sie sich, ob es überhaupt ein Leben gewesen war. Sie war mit einer seltenen Krankheit geboren worden. Ihre Nervenzellen waren von ihrem eigenen Immunsystem angegriffen worden und sie war schon ihr gesamtes Leben auf Hilfe angewiesen gewesen. Sie hatte sich kaum bewegen können und hatte ihr Leben in einem Bett oder ab und zu, wenn es ihr mal besser ging, in einem Rollstuhl verbracht. Sie hatte zwar sprechen, lesen und schlucken können, aber davon abgesehen hatte sie für alles Hilfe benötigt. Sie hatte ihr Zimmer fast nie verlassen, hatte kaum andere Menschen als ihre Eltern und ihren Bruder gesehen und das Essen hatte immer nach nichts geschmeckt. Ihre Geschmacksnerven waren mit als Erstes von ihrem Immunsystem zerstört worden und so hatte sie nie gewusst, dass es so etwas wie süß oder salzig gab. So hatte sie Tag für Tag damit verbracht, an die Decke oder in den Fernseher zu starren und in Gedanken zu versinken. Jeder Tag hätte der sein können, an dem ihr Körper beschließen würde, ein lebenswichtiges Organ anzugreifen, ihre Wirbelsäule oder ihr Gehirn. Dann wäre ihr Leben zu Ende gewesen. So hatte sie vierzehn Jahre lang vor sich hin vegetiert, bis an einem der letzten Wintertage ihr Bruder in ihr Zimmer kam. Er war zu ihr gekommen mit demselben mitleidvollen Gesichtsausdruck, den er immer bei ihr aufgesetzt hatte und hatte sie nur gefragt: „Willst du hier raus?“ Sie hatte nicht gewusst, was er damit meinte, doch sie hatte sofort Ja gesagt. Vermutlich hätte sie sogar Ja gesagt, wenn er gefragt hätte, ob er sie erlösen sollte. Ein kleiner Stich an ihrem Hals, den sie kaum gespürt hatte, dann war er auch schon wieder weg gewesen. Einen Moment hatte Valentina gedacht, er hätte ihr irgendein Gift gespritzt oder etwas in der Art, und als sie immer müder geworden war, hatte sie schon damit gerechnet, nicht mehr aufzuwachen. Es wäre ihr egal gewesen. Doch statt zu sterben, war sie irgendwann in einem Krankenhaus wieder aufgewacht. Sie hatte erfahren, dass sie in eine Art Koma gefallen war und fast nicht wieder aufgewacht wäre. Drei Tage lang war ihr Körper kurz davor gestanden zu versagen, doch die Ärzte hatten sie retten können.
Noch am selben Tag, als feststand, dass sie wieder stabil war, war sie wieder nach Hause gebracht worden. Am Abend war erneut ihr Bruder zu ihr gekommen.
„Es hat nicht geklappt“, hatte sie traurig gesagt.
„Doch, hat es“, hatte er widersprochen. „Du wirst schon sehen.“ Und sie hatte es gesehen. Noch in derselben Nacht war Galizia erwacht und Valentina in ihren Träumen in ihre Erinnerungen eingetaucht. Sie war durch Wälder gerannt, durchs Meer geschwommen, auf einen Berg geklettert und auf einem Segler durch die Lüfte geflogen. Nie zuvor hatte sie sich so frei gefühlt.
Als sie im Morgengrauen erwacht war und als die Realität sie einholte, hatte sie geweint. Bis eine Stimme in ihrem Kopf erklungen war. Eine Stimme, die ebenfalls gedacht hatte, dass sie eigentlich tot sein müsste. Galizia hatte ihr erzählt, wer und vor allem was sie war. Sie hatte Valentina vom alten Atlantis erzählt und von der Magie. Valentina hatte schon gedacht, nun endgültig den Verstand verloren zu haben, bis ihr Bruder zu ihr gekommen war und ihr und der alten Atlantin erklärt hatte, was gerade mit ihnen geschah. Er hatte ihr einen Interfacekern in den Hals implantiert und dieser hatte dann Naniten in ihren Blutkreislauf freigesetzt. Die Naniten hatten daraufhin angefangen, ihre DNS umzuschreiben und sie zu etwas zwischen Mensch und Atlantae zu machen. Auf dem Kern war auch Galizias Bewusstsein gespeichert gewesen und nun lebte sie in einem Nervengeflecht, das Valentinas Körper durchzog. Ihr Bruder hatte diesen Prozess ebenfalls mitgemacht und trug einen Atlantae in sich, der sich beim Untergang von Atlantis auf den östlichen Klippen, direkt in der Nähe der Ursache ihres Untergangs, befunden hatte. Mit ihrer Transformation waren sie ein ziemliches Risiko eingegangen, denn der Transformationsprozess kostete viel Kraft und Valentina war sowieso schon stark geschwächt gewesen. Es hätte gut sein können, dass sie dabei gestorben wäre und das wäre dann auch Galizias endgültiger Tod gewesen. Doch zum Glück war es anders gekommen. Valentina war von Tag zu Tag stärker geworden und gewann nach und nach die Kontrolle über ihren Körper zurück. Die atlantischen Gene überschrieben die fehlerhaften Gensequenzen, die für ihre Krankheit verantwortlich waren, und die zerstörten Nervenbahnen konnten sich neu bilden. Für ihre Eltern war es ein Wunder gewesen und mit ärztlicher Unterstützung konnte sie bald alleine essen, sitzen und sogar laufen. Als sie das erste Mal mit ihrem Bruder durch die Stadt gegangen war, hatte sie vor Freude geweint. Bei all den alltäglichen Wundern, die sich ihr nun offenbarten, war die Magie, die sie irgendwann auf einmal wirken konnte, auch nicht so sehr viel unglaublicher für sie gewesen. Ihr Körper verbesserte sich Tag für Tag immer weiter und ließ nach und nach sogar das menschliche Normal hinter sich zurück, das für sie zuvor immer in unerreichbarer Ferne gewesen war. Nachdem auch ihre Geschmacksnerven sich wieder regeneriert hatten, hatte sie angefangen, das nachzuholen, was ihr bisher entgangen war. Doch die freudige Zeit hatte nicht lange angehalten. Drei Monate nach ihrer Wunderheilung hatte sie erfahren, dass sie zu umfassenden Untersuchungen in eine Spezialklinik sollte. Man wollte ergründen, woher ihre plötzliche Heilung kam und Valentina wusste von ihrem Bruder, wenn man Galizia finden würde, wäre das gar nicht gut für sie. Ihr Bruder war einen Monat zuvor dem Ruf von Atlantis gefolgt und befand sich in der Bunkeranlage, wo die Basis der Atlantae entstand. Sie hatte eine Entscheidung treffen müssen und hatte sich für die Freiheit entschieden. Es tat weh, ihre Eltern zu verlassen, vor allem nachdem sie gesehen hatte, wie sehr die beiden unter dem Verschwinden ihres Bruders litten. Valentina hatte ihnen einen krakeligen Brief hinterlassen und war in der darauffolgenden Nacht verschwunden. Zum Glück hatte es in der Nähe weitere Atlantae gegeben, die ebenfalls zur neuen Basis wollten und mit deren Hilfe sie ohne Probleme dorthin gekommen war. Alleine wäre sie wohl aufgeschmissen gewesen. Zwar wusste sie von Galizia einiges über das Leben im alten Atlantis, aber sie hatte immer noch keine Ahnung, wie es in der Welt der Menschen so zu ging. Sie war nie mit dem Zug gefahren oder hatte etwas kaufen müssen. Sie hatte keine Ahnung von den Regeln und den Gesetzen der Welt. Bis zu diesem Zeitpunkt war das auch nie wichtig gewesen. Zum Glück hatte sie nicht lange in dieser Welt bleiben müssen und die Regeln der Atlantae waren wesentlich einfacher gewesen. Dennoch war sie, nachdem sie in der Unterwasserbasis der Atlantae angekommen war, wieder eingesperrt gewesen. Valentina hatte es ertragen, denn zumindest war sie dank der Atlantae endlich selbstständig und konnte selbst über ihr Leben bestimmen. Ihr Bruder hatte unterdessen versucht ihr beizubringen, wie man sich unter Leuten verhielt, was sie ebenfalls nie gelernt hatte. Selbst unter den Atlantae, die alles andere als normal waren, galt sie schnell als Sonderling.
Nach ihrer Flucht von der Erde war es besser geworden. Zwischen der endlosen Weite der Sterne fühlte sie sich frei, obwohl sie auf einem Schiff mit Hunderten anderen Atlantae eingesperrt war. Sie hatte dort weitergemacht, wo sie auf der Erde aufgehört hatte. Sie war hungrig auf das Leben. Sie wollte Neues schmecken, riechen, fühlen, hören und sehen. Wo immer es ging, versuchte sie die Rationen anderer Atlantae gegen andere Dinge einzutauschen und sie experimentierte mit den unterschiedlichsten Kombinationen herum. Meist hatte sie dafür deren Arbeitsschichten übernommen, was sie überhaupt nicht störte. Vierzehn Jahre lang hatte sie nur gefühllos dagesessen, jetzt freute sie sich, wenn sie ihren Körper spürte, selbst wenn es Erschöpfung oder gar Schmerz war. Für Valentina hielt nun jeder Tag eine neue Entdeckung bereit und sie sog alles Neue in sich auf wie ein Verdurstender das Wasser. Auf dem Mars hatte sie sich, nachdem die Aufbauarbeiten abgeschlossen gewesen waren, fast die ganze Zeit im hydroponischen Garten aufgehalten und sich dort um die Pflanzen gekümmert. Ihr Duft und, als sie reif waren, auch ihr Geschmack hatten ihr schnell gezeigt, wie fade und gleich das replizierte Essen doch war, mit dem sie bisher vorlieb hatte nehmen müssen. Jetzt, hier auf dem neuen Planeten, der wie auch die Stadt den Namen Atlantis trug, lebte sie ihr Leben wie im Rausch. Sie ging ihrer Arbeit in den Gewächshäusern nach und wenn sie dort fertig war, erforschte sie die nähere Umgebung der Stadt. Sie kletterte bis zur Krone der höchsten Bäume, schwamm durch die klaren Flüsse und war sogar schon auf einen ruhenden Vulkan in der Nähe geklettert. Die Farben, Gerüche und vor allem Geschmäcker ihrer neuen Welt faszinierten sie, doch noch viel mehr wollte sie stets Neues entdecken. Deshalb hatte sie sich für ein Erkundungsteam beworben, das den Planeten erforschen sollte. In den nächsten Tagen würde sie hoffentlich erfahren, ob sie genommen werden würde. Bis dahin erforschte sie einfach weiterhin die hiesigen Köstlichkeiten. Sie nahm einen Bissen und ihr war, als ob in ihrem Mund ein Feuerwerk explodieren würde.
Die rote Sonne erhob sich langsam über den gigantischen Bäumen und ihr Licht brach sich im allmorgendlichen Nebel. Craibian stand auf einer der höchsten Plattformen und sah auf die Stadt hinab. Er hatte sich eigentlich mit Arieana hier verabredet, aber sie hatte kurz vorher abgesagt. Sie hatte zu viel zu tun, hatte sie gesagt. Es war auch nicht das erste Mal, das sie ihm mit diesem Grund abgesagt hatte und manchmal zweifelte Craibian daran, dass es wirklich an der Arbeit lag. Hat sie etwas bemerkt?,fragte sich Craibian.
Vielleicht. Wenn selbst Nigel bemerkt hat, wie du sie anschaust, ist ihr es vielleicht auch nicht entgangen,entgegnete Levitas. Craibian mochte Arieana wirklich und er wollte mehr als nur mit ihr befreundet sein. Er wusste es eigentlich schon, seit er sie zum ersten Mal gesehen hatte, doch erst vor ein paar Monaten hatte er beschlossen, es ihr auch zu sagen. Leider hatte sich bisher keine passende Gelegenheit dafür ergeben, und dass Craibian was Frauen anging immer noch der schüchterne kleine Junge war, der er als Mensch gewesen war, machte die Sache auch kein bisschen besser. Dazu kam noch, dass Levitas zu seinen Lebzeiten in Sylvana verliebt gewesen war, die nun wiederum in Arieana weiterlebte und die ihn damals entschieden abgewiesen hatte.
Wenn sie es weiß, warum sagt sie nichts?,fragte Craibian Levitas.
Du kennst sie doch. Sie tut sich wahnsinnig schwer sich zu öffnen.
Aber wir sind doch Freunde,stellte Craibian kopfschüttelnd fest.
Richtig, Freunde,stimmte Levitas zu und betonte das letzte Wort.
Craibian fluchte leise. Na, wenigstens ist die Aussicht hier ein Traum,dachte er bei sich und setzte sich auf die Decke, die er ausgebreitet hatte. Er hatte hier eigentlich mit Arieana essen und den Sonnenaufgang beobachten wollen. Jetzt saß er alleine in achthundert Metern Höhe und aß, was er mitgebracht hatte. Craibian sah auf die Stadt herab. Abgesehen von der Sache mit Arieana lief für ihn alles rund. Mittlerweile lebten alle Atlantae hier auf dem Planeten. In ein paar Wochen würden die Gewächshäuser sie ernähren können und dank des Wasserkraftwerkes, das seit letzter Woche lief, hatten sie genug Energie für alle. Die größte Arbeit war getan und jetzt konnten sich die Atlantae endlich etwas ausruhen. Alle bis auf Arieana, wie es schien, und auch Craibian fand keine Ruhe, bis er es ihr endlich sagen konnte. Er seufzte laut und versuchte den Gedanken an sie vorübergehend aus seinem Kopf zu verdrängen. Sie spukte dort sowieso schon viel zu oft herum. Er legte sich auf den Rücken und sah durch das Blätterdach über ihm in den rötlichen Himmel.
Hast du dir schon Gedanken gemacht, wen du da rausschicken willst?, fragte Levitas ihn. Er schien ebenfalls vom Thema ablenken zu wollen.
Nein. Ich sollte mir mal die Atlantae der Pioniergruppen ansehen. Craibian wollte so schnell wie möglich das atlantische System erkunden lassen und danach auch die umliegenden Systeme. Im Moment wussten sie immerhin noch nichts über ihre Nachbarschaft, sofern es denn eine gab. Zwar konnten die automatischen Drohnen diesen Job auch erledigen, aber Craibian wollte eine Forschergruppe aus Atlantae losschicken, um jeden Himmelskörper da draußen genau zu erforschen. Die Drohnen konnten zwar Karten erstellen, aber sie brauchten mehr als das. Für Nigels Vorschläge zum Ausbau der Flotte und für Talons Bauvorhaben brauchten sie eine Menge Ressourcen und Craibian wollte ihre Heimat nicht ausbeuten. Sie würden ihre Rohstoffe aus dem Asteroidengürtel in ihrem System holen, doch dafür mussten sie erst mal die Asteroiden analysieren und kategorisieren. Das sollte ein kleines Team übernehmen, das die Korvette Sylphe dafür bekam. Ein anderes Team sollte mit der Lutin das System verlassen und dort draußen nach interessanten Dingen suchen. Craibian war schon fasziniert davon gewesen, was die Pioniergruppen in der Umgebung ihrer neuen Stadt alles gefunden hatten, und was sie nicht gefunden hatten. Heiße Quellen, Meteoritenkrater, Insekten und Bäume gab es hier zuhauf. Sie hatten sogar einige einheimische Pflanzen gefunden, die ihnen in Zukunft als Nahrung dienen konnten. Ihre bisherigen Nutzpflanzen waren Klone von typischen Gemüse-, Beeren- und Obstkulturen der Erde. Sie mussten in abgeriegelten Gewächshäusern gezüchtet werden, weil niemand wusste, wie die fremden Pflanzen sich auf das hiesige Ökosystem auswirken könnten. Was die Trupps dagegen nicht gefunden hatten, waren größere Tiere oder Hinweise auf eine Zivilisation oder höhere Intelligenz gewesen. Ranora, ihre Genetikexpertin, schätzte, dass die Evolution auf diesem Planeten der der Erde um einige Hundert Millionen Jahre hinterherhinkte. Craibians Blick fiel auf die zahllosen Brücken unter ihm, die die Plattformen einer Ebene verbanden und von hier oben wie ein Spinnennetz wirkten. Die Stadt erwachte. Etliche Atlantae begaben sich aus ihren Häusern und machten sich auf den Weg. Einige zu ihrer Arbeitsstätte, andere zu den wenigen Läden. Vor wenigen Tagen hatten sie nun doch eine Währung eingeführt. Es war nur eine digitale Zahl, aber nun gab es Bezahlung und Preise. Gut zwei Jahre lang waren sie so etwas wie eine Kommune gewesen, wo jeder einfach bekam, was er brauchte, allerdings auch nur das, was er wirklich brauchte. Das hatte lange funktioniert, aber sie waren ja auch zwei Jahre im Ausnahmezustand gewesen. Jetzt waren sie keine Rebellengruppe mehr, die einfach nur überleben wollte, sondern eine Zivilisation im Aufbau. Craibian hoffte, dass eine leistungsabhängige Bezahlung die Arbeitsmoral und vor allem auch die Selbstständigkeit der Atlantae fördern würde, und tatsächlich gab es hier und da schon Ideen, wie man ein eigenes Geschäft aufmachen konnte. Die Wasser-, Strom- und Nahrungsversorgung und das Kommunikationsnetz lagen aber immer noch fest in staatlicher Hand und Craibian wollte das auch so belassen. Zusammen mit den noch sehr geringen Steuern und den Mieteinnahmen der Wohnungen waren dies auch die einzigen Einkünfte des Staats und damit auch das, womit Craibian nun haushalten musste. Er hatte etwas Bammel vor dem tatsächlichen Regieren der Atlantae. Er hatte wenig Erfahrung damit, denn bisher war seine einzige Aufgabe gewesen, sein Volk am Leben zu halten. Jetzt jedoch kam die Verantwortung über das gesamte Wirtschaftssystem dazu und er hatte keine Ahnung, was das Beste war. Weder das System der Menschen noch das der alten Atlantae waren für ihre Situation besonders geeignet. Er probierte einfach aus und hoffte auf das Beste. Er wusste nur, dass ein Mittelweg zwischen Kontrolle durch den Staat und individueller Freiheit das Beste war, doch wie genau dieser Weg verlief, sah er noch nicht.