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„Passt die Geschwindigkeit an den Planeten an“, befahl Luca, der Käpten der Phönix, laut und das gewaltige Schiff schwenkte in eine Umlaufbahn um einen der Schwesterplaneten von Atlantis ein. Sie hatten ihn Niflheim getauft und passend dazu sah er auch aus. Der Planet war ein einziger großer Schneeball. Seine gesamte Oberfläche war von gefrorenem Wasser bedeckt. Nur hier und da brachen Vulkane aus dem Eis und zeigten, dass irgendwo darunter ein heißer Planetenkern lag. Nach den Daten zu schließen, die ihre Forscherteams bereits gesammelt hatten, ging Talon davon aus, dass die sieben Planeten, die in sehr ähnlichen Umlaufbahnen um die Sonne kreisten, aus demselben Staub entstanden waren. Sie alle hatten ungefähr dieselbe Zusammensetzung und doch gab es auf nur einem Leben. Die feinen Unterschiede machten schon den Unterschied zwischen einer blühenden Oase und einer toten Welt. Verglichen mit der Masse der Planeten waren die Unterschiede zwar nur verschwindend gering, aber dennoch ging es um Milliarden Tonnen an Material, das entweder fehlte oder von dem zu viel vorhanden war. Niflheim zum Beispiel hatte eine Sauerstoff-Stickstoff-Atmosphäre. Zusätzlich mit Spuren von Edelgasen, wäre gut für Leben geeignet gewesen, doch etwas anderes waren kaum vorhanden. Die klirrend kalte Luft auf dem Planeten hatte viel zu wenig Kohlenstoffdioxid und auch andere Treibhausgase fehlten völlig. Der Planet war dadurch völlig ausgekühlt und der reflektierende Eispanzer verstärkte diesen Effekt noch. Unter dem Eispanzer hatten ihre Sensoren zwar große Mengen an Kohlenstoff gefunden, aber der war in Gesteinen gebunden und damit nicht für eine Freisetzung geeignet. Der Planet hatte keine Chance, sich allein aus dem eisigen Mantel zu befreien, also mussten sie ihm dabei helfen. Craibian wollte, dass irgendwann alle sieben Planeten im atlantischen System blühende Oasen waren, auf denen ihr Volk leben konnte. Terraforming lautete das Zauberwort. Talon hatte zwar mit dem Planetenring schon ein Megaprojekt, dass er betreute, aber das Terraformingprojekt brauchte vor allem eines: Zeit. Bei den Minenarbeiten im Asteroidengürtel fiel sowieso eine Menge mehr Kohlenstoff an als sie für die Produktion von Nanoröhrchen und Graphen brauchten, also konnte er den überschüssigen Kohlenstoff gleich für das nächste Projekt verwenden. Erst vor wenigen Tagen hatte die Pegasus schon die dritte Lieferung aus dem Nerido-Gürtel gebracht und jetzt hatten sie genug Kohlenstoff, um die erste Ladung abzuwerfen.
„Wir sind in Position“, informierte Luca ihn. „Sollen wir die Fracht abwerfen?“
Talon nickte. „Schmeißt die Kohle aus dem Fenster“, befahl er.
Luca gluckste. „Nichts lieber als das.“ Über Kom gab er den Befehl, die Schwerkraft im rechten Hangarbereich umzukehren, sodass die Fracht im Inneren durch den halbdurchlässigen Energieschild nach außen katapultiert wurde. Die gewaltigen Brocken aus reinem Kohlenstoff flogen eine Zeit lang durch das All, bevor sie in die Atmosphäre des Planeten eintauchten und sich langsam ein Feuerschweif hinter ihnen bildete. Auf der Brücke sahen alle dabei zu, wie die tonnenschweren Kohlebrocken wie Sternschnuppen in der Atmosphäre verglühten.
„Ihr dürft euch was wünschen“, meinte Talon. „Aber sagt nicht, was, sonst geht’s nicht in Erfüllung.“
„Wie oft müssen wir das jetzt noch machen, bis genug Kohlenstoff in der Atmosphäre ist?“, fragte Luca interessiert.
„Wenn wir jedes Mal dieselbe Menge wie heute freisetzen? Ein paar Milliarden Mal“, gab Talon in leicht trockenem Tonfall zurück. „Aber es besteht keine Eile.“
„Ich hoffe, du bekommst irgendwann ein eigenes Schiff dafür“, meinte Luca. „Ich hab das nächste Jahrhundert noch was anderes vor als Kohle zu transportieren.“
„Ich bin sicher, in ein oder zwei Monaten haben wir genug zivile Schiffe, dass du dich wieder vollkommen deiner Ausbildung widmen kannst“, versicherte Talon ihm.
„Da freue ich mich schon wieder drauf“, meinte Luca mit leichtem Sarkasmus in der Stimme. „So wie Nigel mich immer reintreibt.“ Nach einer kurzen Pause stellte Luca Talon die Frage, die er zuvor eigentlich hatte stellen wollen: „Wie lange wird es dauern, bis das Eis da unten zu schmelzen anfängt?“
„Jahrtausende“, entgegnete Talon. „Zumindest, wenn wir in dem Tempo weitermachen, was ich nicht vorhabe. Der Treibhauseffekt ist auf diesem Planeten kaum vorhanden, aber je mehr Treibhausgase wir einbringen, desto schneller heizt er sich auf.“
„Aber wenn wir es übertreiben, haben wir das gleiche Problem wie es die Menschen im Moment haben“, stellte Luca fest.
„Nicht ganz“, berichtigte Talon. „Es stimmt, dass der ganze Prozess schwierig zu steuern ist. Wir werden immer wieder Treibhausgase in das künstliche Ökosystem hinzugeben und herausnehmen müssen, bis wir den Planeten bei der optimalen Menge einpendeln lassen können. Allerdings können wir am Anfang die erforderliche Menge ruhig überschreiten. Wenn wir anfangen, Pflanzen da unten auszubringen, werden die durch Fotosynthese wieder eine ganze Menge CO2 aus der Luft filtern und dem Ganzen wieder entgegenwirken.“
„Aber das passiert doch auf der Erde auch die ganze Zeit, oder nicht?“
Talon sah Luca mit hochgezogener Augenbraue an. Er war etwas erstaunt, wie wenig er über den CO2-Kreislauf der Erde wusste. „Schon, aber auf der Erde ist das ein Kreislauf. Pflanzen filtern CO2 aus der Luft und sterbende Pflanzen geben es wieder frei. Aber wir müssen diesen Kreislauf erst mal starten und dafür brauchen wir ein paar Billiarden Tonnen Kohlenstoff.“
„Und auf einmal klingt dein Planetenringprojekt viel weniger aufwendig“, schnaubte Luca. „Ich frage mich, ob du jemals in kleinen Maßstäben gedacht hast.“
„Als ich noch ein Mensch war, hab ich das häufiger“, scherzte Talon, doch in seinen Worten lag tatsächlich eine Spur Wahrheit. Seitdem er mit Leif verbunden war und sich seine Möglichkeiten durch seine Position und die Technologie, die ihm zur Verfügung stand, vervielfacht hatten, hatte er angefangen, sich immer größere Ziele zu stecken. Das hatte er mit Craibian gemeinsam. Das Terraformingprojekt war zwar seine Idee gewesen und er war auch derjenige, der es umsetzte, aber Craibian hatte fast ebenso viele Einfälle dazu und die beiden trafen sich häufig, um ihre Ideen zu teilen. Craibian bezeichnete ihn zwar ab und zu als größenwahnsinnig, aber Craibian selbst hatte auch Pläne und Ideen, die selbst die Talons in den Schatten stellten. Einige Einfälle waren aber durchaus jetzt schon umsetzbar und ergänzten Talons Pläne scheinbar perfekt. Erst bei ihrem letzten Treffen hatte Craibian vorgeschlagen, als zusätzliches Treibhausgas eine Schwefel-Fluor-Verbindung auf Niflheim freizusetzen, die über 20.000-mal effizienter war als CO2. Talon würde in den nächsten Tagen über die Probleme und Umsetzung des Ganzen nachdenken und dann sehen, ob es sich dabei wirklich um eine so gute Idee handelte. Falls ja, konnten sie mit viel geringeren Mengen an Material eine viel schnellere Wirkung erzielen. Ganz ersetzen konnte dieser Stoff das CO2 zwar nicht, aber er würde den Erwärmungsprozess in der Anfangsphase immens beschleunigen. Und trotzdem würde es eines sehr lange Zeit dauern, bis Niflheim wirklich Atlantis’ Schwesterplanet werden würde. Doch Zeit hatten sie nun ja.
„Setzt Kurs nach Atlantis“, befahl Luca. „Wir sind hier fertig. Sind wir doch, oder?“, fügte er an Talon gewandt hinzu und dieser nickte.
„Ja, sind wir.“ Bei sich dachte er: Zurück zu unserer eigentlichen Baustelle.
Wenn wir fertig sind, wird dieses System völlig umgestaltet sein,kommentierte Leif.
Ich glaube nicht, dass wir an den Grenzen dieses Sonnensystems damit aufhören werden,erwiderte Talon.
„Und das ist jetzt wirklich mein Schiff?“, fragte Valentina voller Ehrfurcht.
„Ja“, erwiderte ihr Bruder Hector wortkarg. Er hatte ihr angeboten, ihr beim Packen zu helfen und sie mit einem Shuttle zur Werft zu fliegen, wo die Lutin im Moment noch umgebaut wurde. Jetzt sah Valentina aus dem großen Frontfenster des Shuttles und bestaunte das Schiff, das für eine lange Zeit ihr neues Zuhause werden sollte. Sie hatte die Lutin zwar schon öfter gesehen und war mit ihrem Schwesterschiff der Sylphe nach Atlantis geflogen, aber jetzt, da sie wusste, dass es ihr Schiff werden würde, erschien es ihr viel prächtiger.
„Ist das nicht toll? Ich hätte nie gedacht, irgendwann wirklich zu den Sternen fliegen zu können“, jauchzte sie vergnügt.
„Du bist doch schon auf der Phönix durchs All geflogen“, meinte Hector.
„Das ist doch nicht dasselbe. Damals waren wir nur mit Impulsantrieb unterwegs und sind kaum vorangekommen. Jetzt kann ich mit Überlichtgeschwindigkeit herumfliegen.“
„Juchhu“, erwiderte Hector trocken und wenig begeistert.
„Du freust dich ja gar nicht für mich“, stellte Valentina leicht überrascht fest.
„Weil mir bei dem Gedanken nicht wohl ist, dass du ganz allein da draußen bist“, gab Hector zu. „Du brauchst immer noch bei so vielen Dingen Hilfe.“
„Gar nicht wahr!“, widersprach Valentina sofort. „Ich wohne seit Wochen alleine und ich komme klar!“
„Du hast wochenlang völlig vergessen, dich zu waschen, die Kleidung zu wechseln und die Wohnung sauber zu machen“, stellte Hector trocken fest.
„Ich lerne das noch“, rechtfertigte sich Valentina sofort. „Ich habe nichts gerochen, also dachte ich, meine Klamotten wären noch gut.“
„Nach drei Wochen sind sie das garantiert nicht mehr“, stöhnte Hector.
„Ich geb ja zu, dass ich ab und zu etwas Hilfe brauch“, räumte Valentina ein, „aber dafür hab ich Galizia. Sie ist immer bei mir und zusammen kriegen wir das schon hin.“
„Ich muss mich wohl darauf verlassen“, meinte ihr Bruder. Hector war schon immer sehr protektiv gewesen, doch seit er ein Atlantae geworden war, hatte sich das eher verschlimmert als verbessert. Valentina hatte er erzählt, dass der alte Atlantae in ihm den Untergang von Atlantis aus nächster Nähe erlebt hatte, als Wächter an der Ostküste von Atlantis. Diese Erfahrung hatte seinen Beschützerinstinkt wohl weiter gefördert. Die Lutin kam nun immer näher. Hector steuerte das Shuttle in Richtung Hangar und verringerte die Geschwindigkeit. Ein paar Meter bevor sie den Energieschild des Hangars durchflogen, schaltete sich der Autopilot ein und verband sich mit dem Hauptcomputer der Lutin. Ab jetzt übernahm der Computer das Steuern und ordnete das Shuttle langsam zwischen den anderen Shuttles und den Drohnen ein, die auf dem Schiff stationiert waren. Die Drohnen waren eine der Aufrüstungen, die die Lutin bekommen hatte. Sie waren sowohl für den Einsatz im Vakuum des Alls als auch für die zerstörerischen Umgebungsbedingungen in einem Gasriesen geeignet und sollten neu entdeckte Planeten nach Ressourcen und Zeichen für Leben untersuchen, während sie gleichzeitig Luftdruck, Temperatur, Strahlung und noch viel mehr maßen. Zusätzlich zu den acht Erkundungsdrohnen standen nun auch drei Reparaturdrohnen im Hangar, mit denen sie ihr Schiff überall reparieren konnten, ohne auf eine Werft angewiesen zu sein. Die letzten dreißig Konstrukte waren Kommunikationssatelliten, die sie unterwegs immer wieder an geeigneten Stellen aussetzen sollten, um ein weitreichendes Hyperkommunikationsnetz aufbauen zu können. Der Hyperfunk war eine Möglichkeit, ohne Zeitverzögerung über Lichtjahre hinweg zu kommunizieren, doch er benötigte alle zehn Lichtjahre eine Art Verstärker. Die Kommunikationssatelliten sollten dafür sorgen, dass ihr Hyperfunk weiter reichte als nur zehn Lichtjahre um Atlantis herum. Das Schiff selbst war mit Dutzenden zusätzlichen Sensoren aufgerüstet worden und hatte zusätzliche Brennstäbe für den Reaktor bekommen, um diese bei Bedarf selbst austauschen zu können. Zusätzlich hatten sie einen Magietech-Kristall zur Energieversorgung in Notfällen und einen Radioisotopengenerator, um die Lebenserhaltung aufrechtzuerhalten, wenn alles andere versagte. Die Brennstoffmenge, die sie im Moment dabei hatten, reichte, um ganze fünf Jahre lang umherfliegen zu können, ohne nach Atlantis zurückkehren zu müssen. Für Verteidigungszwecke hatten sie zwar nur die Standardbewaffnung der Korvetten der Artemis-Klasse, aber ihr Energieschild und ihre Panzerung waren verstärkt worden. Nun konnten sie auch Sterne aus der Nähe erforschen oder in absolut lebensfeindliche Atmosphären eintauchen, die zum Beispiel kochend heiß waren oder stark ätzende Chemikalien beinhalteten. Nur in der Nähe von schwarzen Löchern oder Neutronensternen mussten sie noch aufpassen, da dort die radioaktive Strahlung so hoch war, dass ihre Schilde dem nicht lange standhalten würden. Ansonsten war das Schiff nun für fast alles gerüstet. Aufgrund der ganzen Aufrüstungen, die alle Systeme erfahren hatten, und der zusätzlichen Aufgaben, die sie nun alle hatten, brauchten sie nun allerdings auch mindestens doppelt so viele Atlantae an Bord, um es zu steuern. Valentinas Crew bestand aus insgesamt vierzehn Atlantae, und noch kannte sie keinen einzigen davon. Galizia hatte ihr zwar nahegelegt, sich mit ihnen zu treffen und sie kennenzulernen, aber Kontakt mit anderen Atlantae lag Valentina überhaupt nicht. Spätestens wenn ihre Reise begann, würde sie aber nicht mehr umhinkommen zu lernen, zumindest mit ihren Crewmitgliedern umzugehen. Als Käpten hatte sie zumindest den Luxus, dass sie zwar Anweisungen geben, aber nur wenig mit den anderen zusammenarbeiten musste.
Denk doch nicht so negativ,schalt sie Galizia. Du weißt doch gar nicht, wie sie sind. Vielleicht kommst du ja super mit ihnen aus.
Das sagtest du auch, als ich bei den Pionieren angefangen habe,erwiderte Valentina.
Ja, aber du lernst auch ständig dazu, was den Umgang mit anderen angeht. Das stimmte zum Glück. Valentina fiel es mittlerweile wesentlich einfacher, sich in die gesellschaftlichen Normen einzufügen, als es noch vor einem Jahr der Fall gewesen war. Sie fragte sich nur, wie viele Leute sie noch vor den Kopf stoßen würde, bis sie genug gelernt hatte. Diejenigen, die ihre Vergangenheit kannten, verziehen ihr zum Glück relativ schnell und hatten Verständnis, doch solange sie sich nicht anpasste, würde sie immer die Außenseiterin bleiben. Es war ihr zwar egal, ob sie viele Freunde hatte oder nicht, aber so vieles war einfacher, wenn sie sich nicht ständig überall Feinde machte.
Mit einem leichten Ruck setzte das Shuttle schließlich auf dem Boden auf und die Tür im hinteren Bereich entriegelte sich.
„Wir sind da“, stellte Hector überflüssigerweise fest. Valentina schnappte sich ihre Tasche, in der die meisten ihrer Habseligkeiten waren und Hector nahm die zweite. In beiden zusammen war alles, was Valentina je besessen hatte. Als sie noch ein Mensch war, hatte sie nicht viel gehabt. Was sollte eine fast völlig gelähmte Person auch mit Besitztümern anfangen? Und auch als sie dann eine Atlantin geworden war und sich wieder bewegen konnte, hatte sich das nicht wirklich geändert. Bis vor wenigen Monaten waren sie schließlich ständig auf der Flucht gewesen. Jeder Atlantae war mit leichtem Gepäck unterwegs gewesen. Für viel mehr war auf den Schiffen nie wirklich Platz gewesen. Selbst nachdem sie ihre Wohnung auf Atlantis bezogen hatte, hatte sie spartanisch gelebt. Die meisten Sachen dort hatte sie für ihre Arbeit als Pionierin gebraucht und hatten dazu gedient, Dinge zu untersuchen und zu analysieren. Da das auch ihr Hobby gewesen war, kam abgesehen von einem Pad nicht viel an persönlichen Dingen dazu.
Welches Quartier ist denn meins?,fragte Valentina Galizia.
Deck zwei. In Richtung Brücke und dann kurz vorher rechts weg,beschrieb sie ihr den Weg in ihr Quartier. Valentina hatte sich den Bauplan der Lutin ganz genau eingeprägt. Sie wollte gut vorbereitet sein, wenn sie bald das Kommando übernahm. Wenn sie schon nicht mit Sozialkompetenz oder anderen Führungsqualitäten protzen konnte, wollte sie es zumindest mit Wissen tun. Sie kannte jeden Raum der sechs Decks und wusste, wo was war. Nur die Info, wem welches Quartier zugeteilt worden war, fehlte ihr noch. Die Raumaufteilung war bei jeder Korvette des Typs Artemis gleich, doch die Lutin hatte ein paar Veränderungen erfahren. Die unteren Quartiere auf Deck fünf waren verschwunden und hatten einem komplett eingerichteten wissenschaftlichen Labor Platz gemacht. Der kleinere Lagerraum auf Deck zwei war gefüllt mit Vorräten und Ersatzteilen, und der größere Lagerraum auf Deck fünf war für alles reserviert, was sie eventuell auf ihrer Reise finden und mitnehmen würden. Zuletzt waren noch die Waffendecks, die an den Hangar anschlossen, so weit wie möglich verkleinert worden, um Platz für die Kommunikationssatelliten zu schaffen. Jeder Quadratzentimeter der Lutin wurde nun bestmöglich genutzt, um die ganze zusätzliche Technik unterzubringen. Von Hector hatte Valentina erfahren, dass der Schiffskonstrukteur Talon eigentlich einige der Waffensysteme aus dem Schiff hatte entfernen wollen, doch der König und der oberste General hatten dem vehement widersprochen. Beide wollten offenbar nicht, dass ein Schiff mit Atlantae an Bord in irgendeiner Form wehrlos war. Stattdessen war das Schiff so weit wie möglich mit modernster Technik aufgerüstet worden, damit es trotz der ganzen zusätzlichen Ansprüche kein bisschen seiner Kampfkraft verlor. Die Lutin war zwar nun offiziell ein Forschungsschiff, aber sie stellte im Notfall immer noch gut ein Zehntel der Kampfkraft der atlantischen Kriegsflotte. Valentina hatte selbst zwar in der letzten Schlacht vor ihrer Flucht von der Erde mitgekämpft, aber sie hatte den Sinn von Waffen noch immer nicht ganz verstanden. Sie verstand weder, warum jemand sein Leben für irgendetwas wegwerfen sollte noch warum man jemanden für irgendeinen Zweck töten sollte. Für sie gab es nur einen Grund zu kämpfen, und zwar, um nicht selbst zu sterben. Vielleicht lag es daran, dass sie selbst dem Tod jahrelang so nah gewesen war. So häufig war sie nachts dagelegen und hatte gespürt, wie ihr Körper gegen sich selbst kämpfte. Sie wollte nie wieder die Berührung des Todes spüren, aber das hielt sie auch nicht davon ab, Risiken einzugehen, um das Leben zu greifen und es jeden Tag aufs Neue zu erfahren.
„Da sind wir“, riss die Stimme ihres Bruders sie aus ihren Gedanken. „Das ist deine Kabine.“ Die Tür glitt auf und Valentina trat in ihr neues Zuhause. Ihr Quartier war ziemlich geräumig, dafür, dass Platz auf der Lutin im Moment Mangelware war. Auf dem Weg vom Mars nach Atlantis hatte Valentina in einem ähnlichen Quartier gewohnt, nur hatte sie sich es mit sechs anderen Atlantae teilen müssen. Doch das einzelne Bett, das in der Wand eingelassen war, zeigte deutlich, dass sie hier alleine wohnen durfte. Mit dem Raumtrenner vor der Schlafnische konnte man den Schlafbereich völlig verdecken. Eine Tür führte in ein kleines Badezimmer mit einer Dusche und einer Toilette, die beide für den Einsatz im All umgebaut worden waren. Schließlich wollte niemand, dass sich überall Wasser verteilte, wenn die Schwerkraft ausfiel. Im restlichen Raum standen ein kleiner Tisch, ein Stuhl und sogar ein bequem aussehendes Sofa, alles über Magnete am Boden fixiert. Neben dem Tisch stand, eingelassen in die Wand, ein Essensreplikator. Craibian schien Wort gehalten zu haben. Der eigentliche Luxus war jedoch die Wand gegenüber der Tür. Dort konnte man durch ein großes Fenster ins All hinaussehen. Fenster waren rar auf einem Raumschiff. Jedes Fenster war eine potenzielle Schwachstelle und musste mit Schotts abgesichert werden. Valentina wusste, dass das Quartier des Käptens das einzige an Bord war, das einen solchen Luxus genoss. Im Moment konnte man durch das Fenster nur die Schiffswerft in der Nähe und den Mond von Atlantis sehen. Atlantis selbst befand sich auf der anderen Seite des Schiffs. Vermutlich konnte man den Planeten von der Brücke aus sehen. Valentina stellte ihre Tasche neben den Spinden ab, die ebenfalls in die Wand eingelassen waren und ging sofort mit schnellen Schritten auf das Fenster zu. Sie hoffte, mehr sehen zu können, wenn sie direkt davorstand. Tatsächlich konnte sie in der Ferne eine helle Scheibe erkennen. Das musste Niflheim sein. Einer der sechs Schwesterplaneten von Atlantis. Seine Umlaufbahn lag nur einige Millionen Kilometer von der von Atlantis entfernt und die beiden Planeten waren damit für astronomische Verhältnisse sehr nah beieinander. Die anderen fünf Schwesterplaneten zogen ihre Bahnen entweder in ähnlichen Abständen zueinander oder befanden sich gar auf identischen Bahnen, nur auf der anderen Seite der Sonne. Valentina hätte nie gedacht, dass es ein solches Sonnensystem geben würde. Warum hatten sich sieben einzelne Planeten in so unmittelbarer Nähe zueinander gebildet? Warum hatte sich die Materie, nachdem der Stern geboren worden war, nicht in einem einzigen gewaltigen Planeten vereinigt? Vielleicht würden sie das irgendwann herausfinden. Valentina war jedenfalls gespannt, welche kuriosen Sternensysteme sie in den nächsten Jahren entdecken würde und welche Geheimnisse das All für sie noch bereithielt.
Hier werde ich mich wohlfühlen,dachte sie bei sich. Das wird mein neues Zuhause.
Craibian mochte Ranoras Wohnung. Alles hier zeigte deutlich, dass sie nicht das war, was man sich unter den Menschen unter einer typischen Frau vorstellte. Eine chaotische Küche, ein unaufgeräumtes Wohnzimmer, aber ein ordentlicher Arbeitsraum. In dem Kühlschrank neben ihrem Schreibtisch befanden sich neben etlichen Bioproben, die sie noch untersuchen wollte, einige Teller mit nicht ganz aufgegessenen Nahrungsmitteln, die Ranora sich wohl für später aufhob. In einem Regal in der Nähe stapelten sich zahllose technische Bauteile, deren genauer Zweck Craibian nicht ganz klar war. Er wusste aber, dass Evan sehr gerne bastelte und Ranora schien dieses Hobby nun mit ihm zu teilen.
„Ich sehe, du hast dich mit Evan hier sehr gut eingelebt“, stellte Craibian fest.
Ranora nickte und grinste breit. „Jep.“
„Und, wie ist es so?“, fragte Craibian interessiert.
„Unbeschreiblich“, erwiderte Ranora vergnügt. „Ich glaub, ich war noch nie so glücklich.“
„Das freut mich“, erwiderte Craibian lächelnd. „Nach dem, was in den letzten drei Jahren so passiert ist, tut es gut zu sehen, dass ein gewisses Maß an Normalität wieder einkehren kann.“
„Das stimmt, auch wenn ich nichts hier als normal bezeichnen würde“, lachte Ranora.
„Na ja, so normal, wie es eben für atlantische Verhältnisse sein kann“, räumte Craibian ein und sein Lächeln wurde eine Spur breiter.
„Wie läuft es denn im Allgemeinen?“, fragte Ranora ihn. „Ich hab in letzter Zeit nicht mehr so viel mitbekommen.“
„Warst wohl etwas beschäftigt“, stellte Craibian fest und meinte damit nicht ihre Arbeit. Ranora schien zu verstehen, was er meinte und lächelte nur wissend. „Nun ja, eigentlich läuft alles wie geplant“, fing Craibian an. „Die Werft arbeitet auf Hochtouren, die Asteroidenminer scheinen gut zu funktionieren, die Versorgung der Stadt ist jetzt komplett und sichergestellt und wir schicken in ein paar Tagen unser erstes Forschungsschiff da raus.“
„Hast du jemanden gefunden, dem du das Sternerforschungsprogramm anvertrauen kannst?“, fragte Ranora interessiert. Craibian hatte eigentlich sie als Käpten der Lutin einsetzen wollen, doch Ranora hatte andere Pläne mit ihrem Leben und die sollten sich auf Atlantis abspielen.
„Ja. Ich glaube Valentina ist eine gute Wahl für den Posten“, meinte Craibian. „Sie ist etwas seltsam, aber sie ist bei allem was sie tut mit Leidenschaft dabei.“
„Seltsam? Und das aus deinem Mund“, lachte Ranora. „Das muss ja was heißen.“
Craibian wurde leicht rot und rechtfertigte sich sofort: „Ich meinte, im Verhältnis zu uns anderen seltsam. Sie hat wohl sehr isoliert gelebt, bevor sie zu uns gestoßen ist. Soweit ich weiß, hatte sie eine unheilbare Krankheit.“
„Wenn das stimmt, hätte sie eigentlich gar keinen Interfacekern bekommen dürfen“, stellte Ranora überrascht fest. „Je labiler ein Körper ist, desto höher wird die Chance, dass eine genetische Transformation tödlich endet.“
„Ich weiß, aber es hat ja zum Glück für beide doch funktioniert“, erwiderte Craibian. „Was hältst du denn von Valentina?“, fragte er dann Ranora. „Du hast doch mit ihr gearbeitet.“
„Ich hab von ihr Proben, Karten und Berichte bekommen, aber ich hab sie nie getroffen“, erklärte Ranora. „Sie schien mir aber durchaus kompetent zu sein.“
„Das glaube ich auch“, stimmte Craibian ihr zu.
„Wie läuft’s eigentlich mit der anderen Geschichte?“, wechselte Ranora nun das Thema und es schien, als ob sie die ganze Zeit darüber hatte sprechen wollen. Craibian überlegte kurz, ob er so tun sollte, als wüsste er nicht, was sie meinte, beschloss dann aber, es zu lassen. Erstens konnte er Ranora wohl kaum was vormachen, zweitens war er sowieso ein miserabler Lügner und drittens wussten sie beide, dass sie die Geschichte mit Arieana meinte.