Elduria - Runa oder das Erwachen

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Das Mädchen wandert in Gedanken versunken zum Wirtshaus zurück. Es berichtet von dem Vorfall mit der herabgefallenen Zinne, ohne etwas von ihrem Eingreifen in das Geschehen zu verraten. Die Wirtin nickt und akzeptiert, dass sie heute die Bescheinigung vermutlich nicht bekommen wird. Ein eventueller Attentatsversuch wird eine längere Untersuchung erfordern, auch wenn es noch früh am Tag ist. Runa fragt, ob Kaytlin einige Minuten ihrer Zeit erübrigen kann.
»Das ist normalerweise kaum möglich. Da ich aber wegen der Verlängerung der Schankerlaubnis den Arbeitstag anders geplant hatte, kann ich dir kurzzeitig mein Ohr leihen. – Worum geht es denn?«
Runa muss nicht überlegen, wie sie anfangen soll. Sie hat sich darüber auf dem Heimweg Gedanken gemacht und will ihr Vorhaben nicht auf die lange Bank schieben.
»Kaytlin, du hast mich vor vielen Jahren hier aufgenommen. Dafür danke ich dir. Ich war damals fünf und hatte kurz zuvor meine Amme verloren. Das habe ich dir nie berichtet, da mir der Verlust zuerst zu nahe ging und später durch die tägliche Arbeit in den Hintergrund gedrängt wurde.«
»Aha. Ich hatte deiner damaligen Behauptung sofort geglaubt, dass du nichts mit diesen heruntergekommenen Jugendlichen zu tun hattest. Dass du mit ihnen verwandt sein solltest, konnte ich von Anfang an nicht glauben. – Dass du deine Amme verloren hattest, tut mir leid. Wie ist das passiert?«
»Es war die Folge eines Überfalls. Bewaffnete Männer drangen in unser Haus ein, aber das ist so lange her. Worum es mir geht, ist das: Ich glaube, eine Spur gefunden zu haben, die zu ihr führen könnte. Ich möchte mich beurlauben lassen, um das zu überprüfen.«
Runa schaut mit ihren großen, blauen Augen die Wirtin an. Etwas unwirsch streicht sie dabei Strähnen ihrer rotblonden Haare hinter die Ohren, weil sie ihr ins Gesicht fallen. Sie hat sich nicht zu Kaytlin auf die Bank gesetzt und steht deshalb vor ihr. Sich neben sie zu setzen wäre ihr ungehörig erschienen, ohne dazu aufgefordert worden zu sein. Für einen kurzen Augenblick erlebt sie erneut die Szene, in der sie sich vor Jahren zu Atropaia setzte, obwohl sie sich Sorgen um das erkrankte Kaninchen machte. Die Ereignisse laufen aufs Neue vor ihrem inneren Auge ab. Gleichzeitig mit dem Bersten der Tür klingt die Stimme der Wirtin in ihr Bewusstsein.
»… du willst wie lange fortbleiben?«
»Oh, Verzeihung. Ich habe soeben das Geschehen erneut durchlebt. – Das kann ich nicht vorhersagen. Ist es möglich, meine Ausbildung im Anschluss fortzuführen?«
Die Wirtin schaut sie prüfend an.
»Du bist sicher, wiederkommen zu wollen? Ich möchte nicht, dass du auf die schiefe Bahn gerätst. – Ich habe in den letzten Tagen die Rothaarige von damals in unserem Ort gesehen. Du weißt schon, die, die dich hierhergeschleppt hatte.«
»Das stimmt. Ich habe sie auch getroffen, ohne dass sie mich erkannt hat. Und das ist gut so. Sie heißt übrigens Katie. Nein, zu ihr möchte ich auf keinen Fall.«
»Das freut mich. Gut. Ich gebe dir auf unbegrenzte Zeit frei. Sobald du wieder heimkommst, kannst du die Ausbildung fortsetzen. Ich unterrichte Pulmoria.«
Beim Wort »heimkommen« spürt Runa einen Stich in der Brust. Auch wenn sie sieben Jahre hier gelebt hat, fühlt sie anders. Ihr Heim befindet sich im Wald!
»Ich packe meine Sachen zusammen und bin dann gleich weg.«
»Komm vorher bitte kurz zu mir. Ich lasse dir von der Köchin etwas Proviant einpacken.«
Runa rennt ins Dachgeschoss hinauf. Sie muss nicht lange entscheiden, was sie mitnehmen möchte. Sie besitzt eine wetterfeste Jacke und einen Rucksack. In den packt sie ihr Ersatzoberteil, eine Strickmütze und das Buch, das sie von der Wirtin zum zehnten Geburtstag bekommen hat. Es handelt von den Bewohnern eines unbekannten Landes, das als »Insel der Drachen« bezeichnet wird. Ein Paar Ersatzschuhe hat sie nicht. Da sie als Hilfsköchin viel auf den Beinen ist, bestehen ihre Schuhe aus festem, aber bequemen Leder. Sie sind zwar relativ neu, werden hoffentlich trotzdem auf der vermutlich längeren Wanderung keine Blasen an den Füßen hervorrufen. Sie schaut sich mit etwas Wehmut in dem kleinen Zimmer um und eilt dann die Treppe hinab. In der Gaststube bleibt sie erstaunt stehen. Nicht nur Pulmoria steht dort neben Kaytlin, Dragon hat offenbar auch von ihrer Absicht erfahren.
»Kann … soll ich …?« Das Mädchen wundert sich sehr, dass er stottert. Sonst redet er zwar nie viel, doch das hat sie bisher nicht bemerkt. Sie hat den Eindruck, dass er mit dem ringt, was er sagen möchte.
Runa spürt, wie sich ihre Brust zusammenzieht. Die Trennung von Atropaia geschah mit Gewalt und sie hatte keinen Einfluss darauf. Doch jetzt will sie freiwillig ihr bisheriges Leben hinter sich lassen. Und offensichtlich nicht nur das. Es gibt hier gleichzeitig drei Menschen, denen sie offenbar nicht gleichgültig ist. Die dicke Köchin wischt sich einige Tränen aus den Augen. Sie umarmt das Mädchen und drückt ihm ein Esspaket in die Hand, das in ein Leinentuch gewickelt ist.
»Pass gut auf dich auf!«, schluchzt sie fast. Sie dreht sich um und stürmt nach nebenan in die Küche. Runa packt das Paket in den Rucksack.
»Hier sind noch zwei Äpfel. Die magst du doch so gern.« Kaytlin schnieft etwas, aber lediglich eine Träne verirrt sich in deren Augen.
»Ich danke dir«, antwortet Runa mit einem Kloß im Hals. Sie hatte nicht erwartet, diese Abschiedsgabe zu bekommen. Sie liebt die Apfelsorte, die einen süßsäuerlichen Duft abgibt und lange haltbar ist.
»Kann ich … mitkommen?« Dragons hellbraune Augen sind direkt auf das Mädchen gerichtet. Er schaut sie eindringlich und bittend an. »Für dich ist es draußen viel zu gefährlich. Du weißt nicht …« Er verstummt, setzt aber noch einmal an. »Ich könnte dir helfen, wenn du mich lässt.«
Runa fühlt bei seinem Anblick nicht zum ersten Mal eine unerklärliche Wärme im linken Arm und ein Kribbeln, das über ihren Rücken rieselt. Sie zögert. Meint er das Angebot ernst? Dann müsste er wie sie die Ausbildung zum … Das Mädchen stutzt. Welchen Beruf erlernt er eigentlich? Darüber hat sie sich bisher nie Gedanken gemacht. Er ist immer im Gasthaus und oft in ihrer Nähe gewesen. Sollte er keine Lehrstelle gefunden oder einen anderen Grund haben, keinen Beruf zu erlernen? Sie denkt kurz daran, dass er sich manchmal ungeschickt anstellt, um nicht tollpatschig zu sagen. Das geschieht jedoch nur dann, wenn er ihr schnell helfen will.
»Wenn du dir sicher bist, gerne. Wann bist du reisebereit?«
»Sofort.« Sein zufriedenes und zuversichtliches Lächeln lässt sie innehalten.
»Wie das? Hast du nichts mitzunehmen und musst niemandem Bescheid über deine Absicht geben?«
»Nein.« Mehr sagt er nicht. Die Wirtin nickt zur Bestätigung, dass sie damit einverstanden ist.
Auf der Straße
Runa hat ihr silbernes Geldstück tief im Rucksack, in einer geheimen Tasche verborgen. Sollten sie auf ihrer Wanderung von Strauchdieben überfallen werden, dürfen sie die Münze nicht finden. Sie denkt kurz an die Viererbande, die vor sieben Jahren ihre Habe durchsucht hatte. Heute könnten sie erfolgreich sein.
Ein Silberstück stellt einen nicht zu verachtenden Reichtum dar. Sein Wert entspricht hundert Kupferstücken, die jeweils für eine Mahlzeit im »Fuchs und Gans« zu zahlen sind. Mit dem Geldstück kann sie grob gerechnet die Nahrung für etwa sieben Wochen bezahlen. Sie bezieht automatisch Dragon in ihre Rechnung mit ein, da sie bei ihm noch nie Geld gesehen hat. Bis heute Morgen galt das genauso für sie. In dem Gasthaus erhalten sie schließlich keine Entlohnung in Münzen für ihre Arbeit. Die besteht vielmehr aus Essen, Unterkunft und Kleidung. Gelegentlich bekommen sie zusätzlich ein Geschenk, einen großen Apfel oder einen kleinen Kuchen. Dazu zählt das Buch über die Insel der Drachen, das Kaytlin Runa zum zehnten Geburtstag geschenkt hatte. Die Wirtin wollte sich mit dieser außergewöhnlichen Gabe für die in fast fünf Jahren geleistete Arbeit des Mädchens bedanken.
Sobald die Kinder in Merion und Elduria dieses Alter erreichen, werden sie als Jugendliche bezeichnet. Sie beginnen ihr erstes Ausbildungsjahr. Die Lehrjahre sind je nach Berufsrichtung unterschiedlich lang, laufen aber in der Regel über drei Jahre. Wenn die erfolgreich abgeschlossen sind, gelten die dann mindestens Dreizehnjährigen als Erwachsene, mit allen Rechten und Pflichten.
Runa hat ihre Schritte automatisch in die Richtung gelenkt, aus der sie fünfjährig nach Homarket gekommen war. Sie vermutet, dass sie in ihrem ehemaligen Heim auf Hinweise stoßen wird, die bei der Suche nach Atropaia helfen werden. Sie überlegt noch einmal kurz, ob sie sich im Rathaus nach dem Aufenthaltsort von Owain erkundigen soll. Was sollte das aber bringen? Sie vermutet inzwischen, dass er ihre Amme in höherem Auftrag gefangen genommen haben wird.
Sie hatte sich vor ihrer Rückkehr von dem Amtsgebäude auf dem Marktplatz bei Umstehenden erkundigt, wer denn dieser Owain ist. Sie erinnert sich, erstaunte Blicke geerntet zu haben.
»Warum willst du das wissen?«, lautete eine leise Gegenfrage.
»Du musst vorsichtig sein. Du hast sicher auch gesehen, dass eine der Zinnen beinahe seinen Sohn getötet hat.« Der zweite Befragte hatte offenbar nicht mitbekommen, dass sie das Leben Brendans gerettet hat. Doch das erwiderte sie nicht.
»Warum sollte es gefährlich sein, sich nach ihm zu erkundigen?«
»Nun ja«, druckste der Mann herum, »nicht jeder mag ihn. Fragen könnten der Beginn zu einem Anschlag wie soeben sein.« Mit diesen unklaren Worten drehte er sich um und hastete davon.
»Wundere dich nicht über ihn«, raunte ihr ein älterer Mann zu. Der musste die Unterhaltung mitbekommen haben, obwohl der andere fast nur geflüstert hatte. »Er wurde bereits mehrfach verhaftet und mit fehlgeschlagenen Attentaten auf Owain in Verbindung gebracht. Seitdem verhält er sich möglichst unauffällig.« Runa schlug sich erschrocken die Hand vor den Mund. Würde sie jetzt doch noch ins Gefängnis geworfen werden? Der Ältere lächelte sie beruhigend an. Er deutete ihre Reaktion richtig. »Keine Sorge. Fast alle hier haben gesehen, dass du diesem arroganten Brendan das Leben gerettet hast. – Sein Vater Owain ist der Anführer der Palastgarde und Oberbefehlshaber der Kriegstruppen von Elduria und Merion. In diese Position stieg er vor sieben Jahren für einen besonderen Dienst auf, den er unserer Herrscherin geleistet hat.« Weitere Fragen stellte das Mädchen vorsichtshalber nicht, auch wenn ihr der freundliche, ältere Mann nicht gefährlich zu sein schien.
Runa will lieber Hinweise in Atropaias Haus suchen, anstatt im Rathaus nachzufragen. Zumal sie nicht einmal weiß, wonach sie sich erkundigen soll. Direkt nach ihrer Amme zu fragen, würde sicher erfolglos bleiben. Sie schüttelt vehement den Kopf und erntet damit einen erstaunten Blick Dragons. Sie schaut ihn an, doch der Junge hält es nicht für nötig, den Grund des Kopfschüttelns zu hinterfragen. Wenn das Mädchen es wichtig findet, wird es ihn schon in seine Gedanken einbeziehen, ist er offenbar überzeugt.
Runa wiederum rätselt über ihren schweigsamen Gefährten. Warum wollte er sie unbedingt begleiten? Sie haben außerhalb der Arbeit keine gemeinsame Zeit verbracht. Wieso meint er dann, dass sie seine Hilfe benötigen könnte? Dabei hatte sie nicht einmal erwähnt, was sie vorhat. Sie weiß es ja selbst nicht genau. Und jetzt läuft er im Gleichschritt neben ihr, den Blick forschend voraus, aber immer wieder zu den Seiten und rückwärtsgerichtet. Das fällt ihr auf, sobald sie die Häuser hinter sich gelassen haben. Sollte er Gefahren vermuten, die dort auf sie lauern könnten? Vereinzelt kommen ihnen Menschen zu Fuß und auch der eine oder andere Reiter entgegen. Besonders dann, wenn die Pferde vorbei sind, dreht sich der Junge häufig nach hinten. Es sieht so aus, als irritierten ihn die leiser werdenden Tritte.
Von Homarket folgt ihnen offensichtlich niemand, obwohl Dragon gerade das zu erwarten scheint. Weshalb sollte das auch geschehen? Runa schreckt zusammen, als er bei einer dieser Aktionen stolpert. Der Junge versucht, sich an ihr festzuhalten, und stößt sie dadurch nach links in den Straßengraben. Er faucht erschrocken, bittet sie aber nicht einmal um Entschuldigung. Sie bemüht sich, in dem hohen Bewuchs des Grabens Halt zu finden, um herauskrabbeln zu können. Unter Schnaufen beschwert sie sich bei ihm.
»Du wolltest mich doch vor Schwierigkeiten bewahren. Mist. Jetzt schau dir nur an, wie ich hier heraufkommen soll.« Sie hält ein dickes Büschel langes Gras in der Hand. Sie hatte es herausgezogen, als sie sich beim Hochklettern daran festzuhalten versuchte.
Doch Dragon reagiert nicht auf sie, schaut nicht einmal zu ihr hinab. Sein Blick ist zum Ort zurück gerichtet.
»HALLO! HIER bin ich. Hilf mir sofort heraus. Ich will mich nur ungern beklagen, aber meine Schuhe werden dem Wasser nicht lange standhalten!« Doch der Junge reagiert immer noch nicht. Er steht etwas vorgebeugt Richtung Homarket und scheint zu lauschen. Runa bemerkt, dass er nickt. Dann macht er einen Satz und landet neben ihr im Graben. Er hat dabei nicht genau achtgegeben oder den Sprung falsch berechnet. Er kommt zu nahe zu dem Mädchen an und versetzt ihm dadurch einen Stoß. Nur mit Mühe kann es verhindern, der Länge nach in den Kanal zu fallen. Obwohl es heute ein sonniger Tag ist, hätte Runas Kleidung viel Zeit benötigt, um wieder zu trocknen. Dadurch wäre ihre Wanderung zum Haus im Wald erheblich verzögert worden. Sie stemmt die Fäuste in die Seiten und blitzt Dragon an. »Bist du immer so tollpatschig? Wenn das ein Versuch werden sollte, mir aus dem Straßengraben zu helfen, mache ich das lieber allein. Du bringst es fertig …« Sie erschrickt. Der Junge zieht sie neben sich an die Böschung und presst eine Hand auf ihre Lippen. Gleichzeitig hält er einen Finger vor seine.
»Pst!«, ist alles, was er sagt. Das Mädchen will protestierend auffahren und ihn zur Rede stellen. Doch die Kräfte des Jungen sind größer als ihre. Er drückt sie rücklings ins hohe Gras. »Gefahr!«, zischt er ihr leise ins Ohr.
Runa fragt sich nicht nur, woher die in der Nähe des Örtchens kommen sollte, sondern auch, woraus er das folgert. Dann erstarrt sie.
»Strauchdiebe?«, flüstert sie, erhält aber keine Antwort. Wenn ihr Begleiter schärfere Augen als sie hat, wen hat er dann wohl gesehen? Sind seine Sinne besser ausgeprägt als ihre? Jetzt hört sie lauter werdenden Hufschlag. Es klingt nach mindestens zwei oder drei Pferden, die sich rasch nähern. Reiter sind für diese Region des Landes nicht ungewöhnlich, obwohl die meisten Menschen zu Fuß gehen. Manche nutzen auch Kutschen, doch die Reise in ihnen kostet so viel wie ein üppiges Essen. Inzwischen lauschen beide angestrengt. Werden die Pferde hier anhalten und die Reiter in den Graben schauen? Sollten sie die Fußgänger verfolgen, könnten sie diese von ihrer erhöhten Position aus dem Sattel bereits von Weitem gesehen haben. Doch Runa kennt keinen Grund, weshalb ihnen jemand auf den Fersen sein könnte. Das Knarren des Ledergeschirrs der Pferde ist jetzt ganz nah und dem Mädchen fällt plötzlich eine Möglichkeit ein.
Sollte die Rettungsaktion für Owains Sohn die Ursache sein? Dann würde sie vermutlich für eine Verbündete eines Attentäters gehalten. Möglicherweise war der nette, ältere Mann sogar ein Spion, der seine Information über ein neugieriges Mädchen unverzüglich ins Rathaus getragen hat. Sie hatte sich nicht mehr umgesehen, als sie den Marktplatz verließ. Das wäre also durchaus möglich!
Runa fragt sich, ob sie jetzt genauso krankhaft misstrauisch wie der andere Mann auf dem Platz wird. Der hatte sich nur vorsichtig geäußert. Falls der Freundliche sie dagegen ausgehorcht haben sollte …?
Dragon nimmt seine Hand von ihrem Mund, fordert aber gleichzeitig durch Gesten, ruhig zu bleiben. Der Hufschlag hat ausgesetzt. Sollten die Reiter schon weiter weg sein? Runa hat nicht genau darauf geachtet. Sie verändert die unbequeme Lage etwas, doch sie bleibt dicht an die Böschung gedrückt. Der Junge nickt ihr zu und deutet mit Zeigefinger und Daumen ein ok an.
Das Mädchen fasst mit ihrer rechten Hand an den linken Unterarm. Dort ist nicht das manchmal auftauchende warme Gefühl, sondern ein kaltes, leicht schmerzhaftes Kribbeln zu spüren. Es gleicht dem Empfinden, wenn tausend Stecknadeln gleichzeitig hineingedrückt werden würden. Wird das durch ihre aktuelle Lage verursacht? Es könnte sein, dass ihr Arm bis soeben gequetscht und der Blutkreislauf abgedrückt war. Dann würde das jetzt ungehindert strömende Blut dafür verantwortlich sein. Passt das zu einem Gefühl der Kälte, oder ist das auszuschließen? Runa legt die Stirn in Falten. Sie weiß nicht, wie sie das sonst erklären sollte. Dragon hat ihre Bewegung genauestens verfolgt. Er hält sich bereit, ihren Mund erneut zu verschließen, falls sie etwas sagen, womöglich sogar schreien möchte.
»Wo steckt das Mädchen?« Die Frage wird nur leise gestellt, trotzdem hören die zwei in ihrem Versteck sie deutlich. Ein kribbelnder Schauer läuft Runa den Rücken hinab.
»Ich meinte, vorhin eine Bewegung gesehen zu haben. Das muss genau hier gewesen sein.« Die Stimme kommt von einem anderen Mann.
»Bist du sicher? Mir ist nichts aufgefallen«, antwortet ein dritter. »Du könntest das auch mit Krähen verwechselt haben. Die suchen überall am Wegrand nach Nahrung. Sie durchwühlen mit Vorliebe die Pferdeäpfel, wie du hinter uns sehen kannst.«
»Nein, ich irre mich nicht. Lasst uns absteigen und auf beiden Seiten im Graben nachsehen!« Die Pferde schnauben und das Knarren der Sättel verheißt nichts Gutes. Schritte nähern sich. Dragon und Runa drücken sich so tief wie möglich in den Bewuchs der Böschung.
»Hier sind Spuren im Gras!« Das erklingt nicht von dort, wo sie die Straße verlassen haben, doch höchstens wenige Meter entfernt.
»In diesem Graben auch!« Die Stimme ist leiser, kommt demnach von der anderen Seite.
Zeitgleich mit einem Platschen ertönt ein lauter Fluch. Der stammt von einem der Reiter, der das Nass unter dem hohen Gras übersehen hat. Jetzt erklingt das aufgeregte Kreischen eines Fasans, der sich offenbar dort im Grün verborgen hatte. Das ist keine zehn Meter von ihnen entfernt. Gleichzeitig tritt der Vogel seine Flucht nach oben an und landet kurz darauf dicht vor den Versteckten. Das Tier bemerkt sie sofort und flattert erneut erschrocken hoch. Das schön gezeichnete Gefieder schillert in den frühen Sonnenstrahlen und Wassertropfen fallen glitzernd von dessen Füßen herab. Hoffentlich schreibt keiner der Reiter dem Verhalten des Tiers eine größere Bedeutung zu!
»Hast du jetzt den Grund für deine Beobachtung entdeckt?« Die lachende Stimme gehört dem dritten Mann. Er hat den Sattel offenbar nicht verlassen. Runa stellt überrascht fest, dass die Sprechweise sie an Gwydion erinnert. Der wollte sie nach dem Vorfall vor dem Rathaus in Homarket festnehmen, als sie das Leben Brendans gerettet hatte. Sie weiß wegen ihrer Erkundigungen, dass er Wachtmeister und ein Vertrauter Owains ist. Das seltsame Gefühl, seine Stimme zu kennen, hatte sie bereits vorhin gehabt, jedoch nicht weiter beachtet. Sollten die Reiter unter seiner Leitung nach ihr suchen? »Lasst uns weiterreiten!«, fordert er sofort darauf.
»Ich hatte recht«, murrt der Mann im Graben und kommt näher. Er will offenbar die Böschung schräg hinaufgehen. Hoffentlich erblickt er die Versteckten nicht zufällig. Doch die Gefahr geht vorüber. Die Sättel knarren, als sich die Reiter hineinschwingen. Sie schnalzen mit der Zunge und die Pferde setzen sich in Bewegung. Der trommelnde Hufschlag des Galopps entfernt sich schnell.
Runa und Dragon atmen auf. Sie warten vorsichtshalber noch einige Minuten, bevor sie die Böschung hinaufkrabbeln. Erst nachdem sie sich überzeugt haben, dass weit und breit kein Reiter zu sehen ist, richten sie sich erleichtert auf.
»Danke!« Das Mädchen weiß, nur das feine Gehör des Jungen hat sie davor bewahrt, gefangen zu werden. Es kennt zwar nicht den Grund, weshalb die Reiter nach ihm suchen. Dass sie es tun, ist ohne jeden Zweifel aus dem Gehörten zu folgern.
Der Elfenwald
Noch bevor die Wanderer den Waldsaum erreichen, zieht dichter Nebel herauf. Runa drängt trotzdem, schneller zu laufen. Auch wenn sie nicht viel sehen können, eine Kutsche oder einen Reiter müssten sie frühzeitig hören. Dann käme ihnen der Dunst sogar zu Hilfe, da sie von Weitem nicht auszumachen sind. Und sie hätten Zeit, sich ein Versteck zu suchen. Das Ereignis mit den Berittenen hat dafür gesorgt, dass das Mädchen die ersten Kilometer mit klopfendem Herzen zurücklegt. In dem Moment, als es sich langsam beruhigt, zieht plötzlich Nebel aus den umliegenden Wiesen auf. Es wirkt auf sie nicht bedrohlich, auch wenn das zu dieser Jahreszeit außergewöhnlich ist. Dragons Verhalten verwirrt sie dagegen mehr. Der Junge bleibt alle paar Schritte stehen und schnüffelt. Warum macht er das? Runa wundert sich. Sie zieht ebenfalls prüfend die Luft ein. Jedoch leise, damit er sich nicht von ihr nachgeahmt und womöglich veralbert fühlt. Aber sie kann nicht die geringste Spur eines Geruchs erkennen. Lediglich die Zusammensetzung irritiert sie. Nebel besteht eigentlich aus Millionen feinster Wassertröpfchen, doch die scheint es nicht zu geben. Der Dunst wirkt seltsam trocken!
»Was ist los?«, fragt sie. Die Worte flüstert sie nur und wird in ihrem vorsichtigen Verhalten sogleich bestätigt.
»Zaubernebel!« Dragon hält einen Finger vor den Mund. Als Runa nachfragen will, schüttelt er schnell aber stumm den Kopf. Das Mädchen begreift sofort, es soll nicht sprechen. Dessen Gedanken kreisen umso heftiger.
Was meint Dragon mit Zaubernebel? Ist der Dunst durch einen Zauber hervorgerufen worden? Weshalb soll sie dann nicht reden? Werden ihre Stimmen nicht wie sonst durch den Nebel gedämpft, sondern bis zu dem Magier getragen, der ihn heraufbeschworen hat? Obwohl ihr Begleiter davon überzeugt zu sein scheint, bezweifelt das Mädchen das. Seit wann existieren denn in diesem Land Zauberer? Die kommen höchsten in Geschichten vor, oder nicht? Runa ist plötzlich unsicher. Sie denkt daran, was in dem Buch »Insel der Drachen« geschrieben steht. Wenn das der Wahrheit entspricht, gibt es überall Magier. Diese sind nicht immer den »normalen« Menschen wohlgesonnen. Manche von ihnen sind böse und streben nach der alleinigen Herrschaft über alle Wesen. Sie fasst für sich den Kern des Buches zusammen, während ihre Schritte unablässig nach vorn gerichtet sind.
»Auf der Insel lebten ehemals unzählige Drachen. Daher stammte auch ihre Bezeichnung. Die meisten dieser Wesen unterstützten die Elfen im Kampf gegen deren Feinde. In einem ersten Aufstand der Schwarzmagier, das sind böse Zauberer der Menschen, wollten diese die regierenden Königshäuser von Elduria und Merion vernichten. Das schlug fehl, weil die Landesfürsten Unterstützung von den Elfen und mit ihnen verbündeten Drachen bekamen.
Die bösen Magier konzentrierten daraufhin ihre Bemühungen gegen die Elfen. In den folgenden Auseinandersetzungen wurden viele der eigentlich friedliebenden Wesen getötet. Die Überlebenden zogen sich in Wälder in den verschiedenen Landesteilen zurück, die sie mit Zaubersprüchen vor Feinden schützten.
Zuvor übertrugen sie Zauberkräfte auf die meisten der Lindwürmer, die die Kämpfe gegen die dunklen Magier überlebt hatten. Sie sollten dadurch in die Lage versetzt werden, erste Angriffe der Schwarzmagier auf die Menschen zurückzuschlagen. Gleichzeitig hatten sie dadurch die Möglichkeit, über Gedankenverbindung Unterstützung durch die Elfen herbeizurufen.
Doch die ausgewählten Drachen verwandelten sich durch die Magie in deren erbitterte Gegner. Sie griffen sogar die wenigen nichtmagischen Brüder und Schwestern an, die den Elfen wie zuvor beistehen wollten. Der Anführer im nördlichen geheimen Wald vermutete, dass bei der Übertragung der magischen Kräfte etwas schiefgelaufen war. Doch das konnte nicht verhindern, dass sämtliche Drachen der Insel getötet wurden. Und auch von den Elfen sind nicht mehr viele am Leben.«
Runa hat in dem Buch keine Information darüber gefunden, wo diese Insel liegen soll. Über die Verluste der mit Magie ausgestatteten Lindwürmer wird nichts berichtet. Ob sie möglicherweise alle ausgerottet wurden oder sich auf die Insel zurückgezogen haben? Die Menschen in Homarket haben nie über Zauberer, Elfen und Drachen geredet. Vermutlich liegt das Geschehen schon viele Jahre zurück und ist darum aus ihrem Gedächtnis gelöscht. – Na, wohl nicht ganz. Das kleine Mädchen schien sich unbewusst vor Drachen zu fürchten. Sogar so heftig, dass es den Tod der Eidechse forderte.