Elduria - Runa oder das Erwachen

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Runa wird unsanft aus ihren Gedanken gerissen. Dragon hatte ihre Hand ergriffen und sie durch den Nebel geführt. Jetzt ist er unerwartet stehengeblieben. Sie stolpert gegen ihn. Nur mit Mühe unterdrückt sie einen Ausruf. Sie erinnert sich sofort an die Geste des Jungen und das Wort Zaubernebel. Doch der ist vor ihnen verschwunden. Der Dunst hat sich verzogen!
Dragon lächelt sie an und beantwortet ihre unausgesprochene Frage.
»Dunkle Zauber haben im Elfenwald keine Macht! Gehe nur einen Schritt unter das schützende Blätterdach dieser riesigen Buchen, und wir sind in Sicherheit!«
»Warum bleibst du dann hier stehen?«, will sie fragen, als ein heulender Ton immer lauter wird. Sie dreht sich erschrocken um und sieht, dass sich der Nebel direkt hinter ihr befindet. Sie meint, ihren Augen nicht trauen zu können. Der Dunst verdichtet sich und formt eine gewaltige Hand. Deren Finger öffnen sich und greifen nach ihnen.
»Mach schnell!«, fordert der Junge.
Runa weiß jedoch nicht, worauf er hinauswill.
»Was denn? Geh doch weiter!«
»Das geht nicht. Du musst vorausgehen und mich hineinführen. So, wie ich das im Nebel mit dir gemacht habe!«
Das Mädchen kraust die Stirn. Will er sie jetzt veralbern? Was soll an dem weißen Dunst schon gefährlich sein. Der wirkt zwar nicht wie ein normaler Nebel, weil er sich nicht so feucht anfühlt. Aber stellt er deshalb gleich eine Bedrohung dar? Dass er eine bestimmte Form annimmt, so wie diese Hand, ist andererseits schon seltsam. Welcher Windhauch sollte das verursachen? Daumen und Zeigefinger umfassen jetzt Runa und versuchen, sie zurückzuzerren. Sie spürt deren Druck, der eindeutig real ist. Doch Dragon hält dagegen. Er stößt einen drohenden Knurrlaut aus und zieht das Mädchen mit einem gewaltigen Ruck dicht neben sich.
»Jetzt mach endlich. Den nächsten Angriff kann ich möglicherweise nicht abwehren.«
Runa zögert nicht mehr. Betrachtungen über Dunst und dessen Gefährlichkeit kann sie auch anstellen, wenn sich der verzogen hat. Sie macht einen Schritt auf den Waldboden und bleibt erstaunt stehen. Woher kommen plötzlich die vielen Vogelstimmen? Es klingt so, als wollten sie das Mädchen begrüßen. Der Boden ist mit unzähligen Buschwindröschen bedeckt und wirkt wie im Frühling.
»Dabei haben wir doch Sommer«, stellt sie voller Faszination fest.
»Du musst mich ziehen. – Nein, lauf nicht einfach los!« Dragons Stimme klingt drängend. Warum erkennt er denn nicht das Magische an dem Wald? Sie möchte nur ein oder zwei der Frühlingsblüher genauer betrachten. Hat er nicht selbst gesagt, dass dies ein Elfenwald ist? Dann ist er vermutlich verzaubert! Sie dreht sich zu dem Jungen zurück. Der kämpft offensichtlich mit der Nebelhand. Sie umschließt seine Beine und den Unterkörper. Während sie sich langsam nach oben schiebt, wird das Knurren aus Dragons Mund stärker. Aber das hält den Dunst nicht auf! »Runa, bitte!«
Was soll sie machen. Kann sie überhaupt etwas gegen diesen Zaubernebel ausrichten, der sich wie ein eigenständiges Wesen verhält? Kurzentschlossen macht sie die zwei Schritte zu dem Jungen zurück und will sich schon neben ihn stellen. Doch Dragon schüttelt den Kopf und hebt unter größter Anstrengung einen Arm, den er in ihre Richtung hält. »Ziehen!«, flüstert er mit schwacher Stimme. Runa weiß nicht weshalb, aber sie ahmt das Knurren des Jungen nach, greift seine Hand und zerrt daran. Ihre Kräfte sind offensichtlich zu gering, denn sie wird langsam zum Nebel hingezogen. Nur noch ein halber Schritt trennt sie von dem Gebiet vor dem Wald, wo Dragon steht. Was wird geschehen, wenn auch sie sich wieder dort befindet? Bisher konnten sie ungehindert hierher wandern. Warum soll das jetzt nicht mehr möglich oder sogar gefährlich sein?
»Zaubernebel!« Das hatte Dragon gesagt. Kann sie einen Gegenzauber sprechen? Sollte das Knurren ihres Gefährten genau das bewirken? Aber sie kennt keinen magischen Spruch. Zumal sie bisher nicht daran glaubte, dass es Magier in ihrer Welt gibt. Wenn das hier jedoch ein Elfenwald ist, existieren folglich auch Elfen. Dann könnte es genauso Zaubersprüche geben und Worte, die sie aufheben!
Während diese Gedanken in rasender Schnelle durch ihren Kopf jagen, stemmt sie sich mit aller Kraft gegen den unwiderstehlichen Drang, einfach nachzugeben. Warum nicht im Nebel von der Anstrengung ausruhen? Das wäre eine große Erleichterung. Ihre Anspannung lässt etwas nach. Dragon bemerkt das und schüttelt den Kopf. Runa schaut auf den Waldboden. Es trennt sie lediglich ein Viertelschritt vom Waldsaum. Wie kann sie gegen diese Zugkraft ankommen, was vermag zu helfen? – Magie! – Genau. Damit könnte es gelingen. Aber woher soll sie wissen, welchen Spruch sie anwenden muss.
»Abrakadabra« wirkt lediglich auf einer Bühne oder in Märchen, genauso wie »Simsalabim«. Hm. In dem Buch über die Dracheninsel gibt es einen Anhang, in dem Zaubersprüche aufgelistet sind. Ob die helfen könnten? Muss sie aber nicht zusätzlich magische Fähigkeiten besitzen?
Ein prüfender Blick zeigt, es trennt sie nur noch eine Handbreite von der Nebelwand! Dragon ist inzwischen komplett in den Dunst gehüllt.
»Jetzt mach schon, erinnere dich!«, ermahnt sich Runa. Ihre Augen gleiten in Gedanken die Liste nach unten. Dann stutzt sie. »Einen gesprochenen Zauber aufheben oder jemand anhalten, stoppen.« Sobald sie diese Zeile sieht, ist sie überzeugt, den notwendige Spruch gefunden zu haben! Obschon sie vor Anstrengung keuchen muss, bringt sie das magische Wort über ihre Lippen.
»Inhibeo, Inhibeo, INHIBEO!«, schreit sie. Doch der Erfolg bleibt aus. Warum klappt das nicht? »Weil du nicht zaubern kannst!«, schießt ihr die Antwort durch den Kopf. Das will und kann sie nicht akzeptieren. Es liegt vermutlich daran, dass sie den Zaubernebel nicht aufgerufen hat und ihn deshalb auch nicht beenden kann. Welcher Spruch könnte stattdessen helfen? Ihr Auge ist blicklos auf die drohende Gefahr gerichtet. Es trennt sie kaum ein Millimeter von dem Nebel. Sie durchforstet erneut die Liste der Zaubersprüche.
»Könnte eine Feuerzunge helfen, die in eine Zielrichtung geschickt wird?« Sie muss sich beeilen und besinnt sich nicht lange. Sie spricht das entsprechende Wort. »Lasair!« Doch auch das bleibt ohne Erfolg. Das könnte daran liegen, dass sie nicht auf den Nebel zeigen kann. Ihr linker Fuß hat die Linie bereits überschritten und Runa merkt, wie ihre Kräfte erlahmen. Der zweite Fuß rutscht über den Waldboden, dessen erdiger Geruch in ihre Nase steigt. Bei ihrer Suche nach Atropaia hat sie das nicht bemerkt. Da regnete es schließlich wie aus Kannen.
»Ich hab’s«, jubelt sie auf. »Regen! Am Ende der Liste, in der letzten Zeile, steht doch ein Spruch, mit dem Regen aufgerufen oder ein Schwall Wasser auf ein Ziel geschickt werden kann.« In diesem Moment rutscht der zweite Fuß über den Waldrand hinaus. Noch im Vorwärtsstolpern brüllt das Mädchen laut: »Uisge!« Das Wort wiederholt es immer wieder und stoppt auch nicht, als es bereits bis auf die Haut durchnässt ist.
»Es ist genug!« Dragon blickt sie erleichtert und ernst an. Runa lacht befreit, vermag es offensichtlich nicht zu stoppen. Sie tanzt sogar etwas in dem immer noch fallenden Regen und patscht wie ein Kleinkind durch die sich bildenden Pfützen. Muss sich der Junge Sorgen machen, dass sie verrückt geworden ist? Dass sie zaubern kann, wusste er bisher nicht. Ganz sicher ist er jedoch nicht. Weshalb schaute sie ihn sonst so an, als durchschaue sie ihn? Er wischt die Gedanken beiseite. Das zu klären hat noch Zeit. »Du musst mich in den Elfenwald ziehen«, fordert er eindringlich. »Irgendein Magier steckt hinter dem Nebel. Und das ist sicher keiner, der dir Gutes tun will! Er wird inzwischen wissen, dass sein Versuch, dich festzuhalten, fehlgeschlagen ist. Entweder er versucht etwas anderes, oder die drei Reiter erscheinen in Kürze hier. Wenn wir erst im Wald verschwunden sind, werden sie unserer Spur nicht mehr folgen können. Der Regen wird sie fortgewaschen haben.«
»Dann komm mit mir. Du siehst doch, der Schritt über die Waldgrenze ist ganz leicht.« Runa macht einen und schaut auffordernd zu ihm zurück.
»Aber nicht für mich. – Ich erkläre es dir später. Jetzt mach schon!« Der Junge hebt seinen Arm Richtung Mädchen. Bis in den Bereich der Bäume kommt er nicht. Runa blickt ihn verständnislos an. Doch endlich erfasst sie seine Hand und führt ihn über die unsichtbare Grenze in den Wald.
Die Vogelstimmen verstummen, dafür sind ein Raunen und Ächzen zu hören, das vorhin noch nicht vorhanden waren. Ein heftiger Wind faucht durch die Zweige der großen Bäume und schüttelt sie. Haare wirbeln durcheinander. Hellgrüne Blätter werden abgestreift und segeln zu Boden. Sobald Runa und Dragon einen weiteren Schritt machen, verstummen die Geräusche und der Wind legt sich so schlagartig, wie er gekommen ist.
Der Weg zum Haus im Wald
Runa bleibt nach einigen Schritten stehen, um den Anblick des Frühlings im Wald zu bestaunen. Doch Dragon zieht sie vorwärts.
»Du siehst, dass hier ein nur kaum erkennbarer Pfad verläuft. Wir konnten es im Nebel nicht bemerken, aber die Straße von Homarket wird lange vor Erreichen des Waldrandes abgebogen sein und wir bewegten uns demzufolge auf einem abzweigenden Weg. Die Verfolger waren uns weit voraus und werden sicher zuerst dem breiten Verkehrsweg gefolgt sein. Ob sie dann im Nebel umgekehrt sind? Sie hatten auch vorher kaum erkennen können, wo wir gelaufen sind. Das ist aber anders, wenn ein Magier nachträglich zu ihnen gestoßen ist.«
Runa erschauert. Weshalb sollte ein Zauberer versuchen, sie zu fangen? Kann das mit ihrer Aktion vor dem Rathaus zusammenhängen? Dabei hat sie lediglich einem jungen Mann das Leben gerettet. Die Erkundigung auf dem Marktplatz mag vielleicht verdächtig erscheinen, ist nach ihrem Empfinden aber harmlos. Es ist doch natürlich, wenn sie sich nach dem Mann erkundigt, dessen Name sie dort gehört hat. Andererseits blickte sein Sohn verwundert auf ihr Mal am linken Unterarm. Könnte das der Grund sein? Owain hatte Atropaia entführt, könnte dieser Brendan nicht genauso …
»Wir müssen schneller gehen!«, wird sie aus ihren Gedanken gerissen. »Kannst du noch etwas Regen herbeirufen? Es ist nicht so, dass ich unbedingt auf Wasser stehe, aber die Tropfen können helfen, unseren Weg zu verschleiern. Und das ist überlebenswichtig!«
Runa will aus Verärgerung stehenbleiben. Doch der kräftigere Junge zieht sie weiter. Dabei entgeht ihr, dass Dragon niemals zuvor derart viele Worte gesprochen hat, wie seit ihrem Aufbruch im »Fuchs und Gans«.
»Was fällt dir ein? Ich kann und will allein laufen!« Sie kraust die Stirn und widersetzt sich mit aller Macht seinem Bestreben, sie weiterzuziehen.
»RUNA! Das ist KEIN Spiel!« Seine eindringlichen Worte erzeugen ein Kribbeln auf ihrem Rücken. In seinen hellbraunen Augen, mit denen er sie beschwörend und ernst anschaut, bewegt sich etwas. Sollte das eine lodernde, kleine Flamme sein? Das Mädchen grübelt. Wo hat es beim Blick in eine dunkle Pupille bereits Derartiges gesehen? Die Wärme in ihrem linken Unterarm bemerkt sie kaum. In Gedanken prüft sie die Worte ihres Gefährten. Alles spricht dafür, seinem Vorschlag zu folgen. Wortlos nimmt sie ihre wetterfeste Jacke aus dem Rucksack. Sie zieht das Kleidungsstück aber nicht an, sondern will es über sich und Dragon halten.
»Uisge!«, murmelt sie, ohne die Reaktion von vor wenigen Momenten zu erwarten. Doch sofort fallen dicke Regentropfen auf sie herab. »Ich kann zaubern!«, stellt sie erstaunt fest.
»So sieht es aus!«, bestätigt der Junge. »Das sollte dir der Beweis sein, dass es Zauberer gibt. Nach unserem vorhin Erlebten ist zu folgern, dass sich ein böser Magier auf unserer Spur befindet, zumindest einer.« Er folgt der Aufforderung des Mädchens, sich unter den Schutz der Jacke zu begeben.
»Aber warum sollte das so sein? Ich habe doch nichts verbrochen!« Runa legt die Stirn in Falten und versucht, eine logische Erklärung zu finden. Sie widersetzt sich dem Jungen nicht mehr. Wegen des Regens laufen sie dicht nebeneinander tiefer in den Wald hinein. Sie halten jeder eine Seite der Jacke über sich, die dadurch wie ein breiter Schirm wirkt. Ob sie noch dem Pfad folgen, können sie nicht erkennen. Nach längerer Zeit, die Arme sind inzwischen lahm und gefühllos geworden, fragt Dragon:
»Kannst du den Dauerregen abstellen? Ich denke, das ist genug Wasser gewesen.«
»Wenn ich wüsste wie, würde ich das machen. Am Waldrand hörte er doch schon auf, sobald wir die ersten Schritte in den Wald gemacht hatten.«
»Das hatte den Grund, dass von außen nichts Magisches in ihn eindringen kann. Alte Schutzzauber vermutlich.«
Runa schaut den Jungen erstaunt an. Woher weiß er das? Parallel dazu geht sie in Gedanken erneut die Liste der Zaubersprüche durch.
»Inhibeo!«
Dieses Wort beendet tatsächlich den Regen. Erleichtert senken beide die Arme und Runa schüttelt die Jacke aus. Ob die anderen Sprüche in ihrem Buch auch von Erfolg gekrönt sein werden, wenn sie sie spricht? Etwas Wärme wäre jetzt nicht schlecht. Die große Luftfeuchtigkeit lässt sie frösteln. Im Wald dringen die Sonnenstrahlen nicht durch das hohe Blätterdach. Soll sie versuchen, ein wärmendes Feuer zu entzünden? Doch Runa schüttelt den Kopf. Sie ahnt instinktiv, dass das Probieren der verschiedenen Sprüche in einer Katastrophe enden könnte. Bewegung wird zu dem gleichen Ergebnis führen, ist sie überzeugt, und dabei völlig ungefährlich.
Die Wanderung durch den Wald geht schon über Stunden. Die Vogelstimmen, die zu Beginn wie eine Begrüßung geklungen hatten, haben nur kurzzeitig durch den Sturm eine Unterbrechung erfahren. Doch sie hörten mit Einsetzen des Regens auf. Seitdem der vorbei ist, sind sie nicht wieder zu hören. Liegt das an der einsetzenden Dämmerung? Der Junge horcht in wechselnden Abständen nach hinten. Zuerst irritiert ihn das Geräusch, wenn Tropfen von den Blättern zu Boden fallen, doch das ändert sich schnell. Wenn hinter ihnen Reiter kommen, könnten sie die Huftritte erst spät wahrnehmen, weil der Waldboden sie dämpfen wird. Deshalb ist größte Vorsicht angebracht!
Runa hat bei diesen Gedanken sofort wieder das Ereignis von vor sieben Jahren vor Augen. Damals erfolgte das Eindringen der Entführer ins Haus nur wenige Augenblicke später, nachdem die Huftritte im Inneren zu vernehmen waren. Sie sieht den grellen Blitz und die berstende Tür, und wie ein silbern glänzendes Netz über die Amme geworfen wird. Erst jetzt fällt ihr auf, dass sich zu dem Zeitpunkt ihre Gestalt bereits geändert haben musste. Die Sicht auf das Geschehen war aus einer niedrigeren Position heraus erfolgt. Atropaia muss sie in die Haselmaus verwandelt haben! Also besaß ihre Amme magische Kräfte! – Warum konnte sie sich dann nicht gegen die Eindringlinge wehren? Die Erkenntnis über Atropaias Fähigkeit einerseits, aber deren nahezu widerstandslose Fesselung andererseits, trifft sie wie ein Schlag.
Da sie stehenbleibt, dreht sich Dragon nach ihr um.
»Bist du müde?«
»Nein. – Wenn ich ehrlich bin, aber doch. Ich weiß aus der Erinnerung, dass wir das Haus heute nicht mehr erreichen werden. Mit fünf Jahren waren meine Schritte sicher kleiner als die, die wir jetzt machen. Das wird jedoch dadurch ausgeglichen, dass ich damals die ganze Nacht wanderte. Ich traute mich nicht, den Abstand zu den Reitern zu groß werden zu lassen. – Wir sollten abseits von unserer bisherigen Wanderrichtung ein Plätzchen im Laub suchen.«
Bis hierher hat das Regengebiet offenbar nicht gereicht. Der Boden ist trocken. Die auch hier wachsenden Buschwindröschen scheinen ihnen im schwachen Restlicht den Weg zu weisen. Sie entdecken schon bald eine kleine Lichtung, auf der zwei große Laubhaufen liegen. Das wirkt wie für sie vorbereitet. Sie zögern trotzdem nicht, sie zu nutzen, dafür sind sie zu müde. Derart viel Laub in einem sonst frühlingshaften Wald müsste ihnen seltsam fehl am Platz erscheinen. Sie überlegen nicht, ob das eine für sie aufgestellte Falle sein könnte, sondern wühlen sich jeweils eine Vertiefung in einen der Haufen. Am Lichtungsrand rupfen sie zusätzlich einige Farnwedel ab und breiten sie als Unterlage in die Mulden. Völlig erschöpft legen sie sich darauf und häufeln die Blätter von den Rändern über sich.
»Schlaf gut!«, flüstert Runa. Doch das hört Dragon schon nicht mehr. Er ist bereits eingeschlafen. Die Auseinandersetzung mit dem Zaubernebel hat ihn stärker in Anspruch genommen, als er zu erkennen gegeben hat. Er wollte aus Vorsicht möglichst schnell einen großen Abstand zum Waldrand gewinnen, sonst hätte er schon eher eine Rast vorgeschlagen.
Ob eine Wache in ihrer Situation nicht dringend angebracht wäre, hat er noch kurz überlegt. Sollten die Reiter bemerkt haben, dass sie ihnen nicht mehr auf der Spur waren, würden sie bestimmt umkehren und auf den abzweigenden Wegen suchen. Er ist nicht sicher, ob der Regen alle Hinweise auf ihre Anwesenheit am Waldrand genügend verwischt hat. Er will sich erheben und die Reihenfolge der Wachablösung mit Runa besprechen. Zuvor muss er sich nur kurz ausruhen, aber dann will er sofort zu ihr hinübergehen. Nur schnell etwa fünf oder besser zehn Atemzüge im Liegen? Das sollte seine Kraftreserven etwas erneuern. Doch die Müdigkeit ist übermächtig und lässt ihn bereits beim zweiten Einatmen in tiefen Schlummer sinken.
Runa liegt dagegen noch eine Zeit lang wach. Sie vernimmt das »Schuhu« einer Eule, der aus entgegengesetzter Richtung eine zweite antwortet. Das Knacken im Unterholz deutet auf kleinere Tiere hin, die dort nach Nahrung suchen. Weitere nächtliche Tierstimmen versetzen sie in ihre Kindheit zurück. Sie meint, das vertraute Angesicht ihrer Amme zu sehen, die sie an ihrem Bett sitzend zudeckt.
»Paia«, murmelnd, schläft auch sie ein.
Runa erwacht vom Zwitschern eines Vogels. Sie weiß im ersten Moment nicht, wo sie ist. Sie wähnt sich in ihrem Bett, aber warum sollte das in Atropaias Haus stehen? Ein Sonnenstrahl kitzelt sie in der Nase, schaut der durchs Fenster herein? Sie schlägt die Augen auf und erblickt einen kreisförmigen, blauen Himmel über sich. Auf einem der unteren Zweige der Bäume, die den runden Ausschnitt des Firmaments bilden, sitzt ein Buchfink. Die leuchtend rote Brust ist vorgestreckt und sein fordernder Gesang soll offenbar eine Partnerin herbeirufen. Das wirkt so friedlich, dass Runa nicht fassen kann, sich noch gestern vor Reitern versteckt und gegen einen Zaubernebel gekämpft zu haben.
Sie will mit einem Satz aus ihrem kuscheligen Lager aufstehen, doch das misslingt. Sie purzelt mehr seitlich aus der tiefen Kuhle, als dass sie sich hinausschwingt. Das Mädchen richtet sich lachend auf. Es ist nur gut, dass Dragon das nicht mitbekommen hat! Bei dem Gedanken an ihn kraust es die Stirn. Sollte er noch schlafen? Ohne ihn schon weiterzugehen, kommt nicht infrage. Er würde sie vermutlich kaum finden.
Auf dem Weg zum zweiten Laubhaufen grübelt Runa darüber, weshalb der Junge gestern nicht aus eigener Kraft den Elfenwald betreten konnte. Könnte ein Zauber das verhindert haben? Er deutete im Zusammenhang mit dem heraufbeschworenen Regen an, dass Magie nicht von außen in den Wald eindringen könne, sollte etwas an ihm magisch sein? Besitzt er vielleicht einen Zauberstab oder Ähnliches? Sie erschrickt. Wer garantiert ihr, dass der Junge sie nicht in eine Falle locken will? Er könnte sich als ihr Freund und Helfer ausgeben, dabei aber irgendeinem Geheimnis folgen, mit dem nur sie …
Weiter kommen ihre Grübeleien nicht. Sie ist nicht besonders vorsichtig gelaufen. Der eine oder andere Zweig knackte unter ihren Füßen und hat ihn vermutlich aufgeweckt. Dragon versucht offenbar, wie sie aus dem Laubhaufen aufzustehen, und rollt mit Schwung auf sie zu. Ehe sie sich vorsehen kann, stößt er gegen ihre Beine, und beide liegen am Boden. Der Junge reibt sich die Seite, auf die das Mädchen unsanft gefallen ist.
»Ich wollte dir eigentlich einen guten Morgen wünschen!«, beschwert sich Runa.
»Das scheint nicht so funktioniert zu haben, stimmt’s«, grinst Dragon. Er steht auf, reicht ihr die Hand und zieht sie hoch.
»Ein Frühstück wäre nicht schlecht. Du hast doch Proviant von der Köchin …« Den Satz beendet er nicht. Seine suchenden Augen ruhen auf dem Rucksack des Mädchens. Den hatte es neben seinen Laubhaufen gestellt. Er ist umgestürzt und etwas bewegt sich darin! Runas folgt seinem Blick, dann nähern sie sich vorsichtig. Mit einem schnellen Griff dreht Dragon den Leinenbeutel um. Ein gefährliches Fauchen ertönt aus dem Inneren. Er schüttelt kurz und heftig und befördert dadurch den ungebetenen Gast hinaus. Es ist eine Wildkatze. Gleichzeitig rollen zwei unversehrte Äpfel und einige Reste von dem Essen heraus.
»Ist das ein Shepherds Pie gewesen?« Der Junge kann es kaum glauben. Die Köchin aus dem »Fuchs und Gans« hatte von einem Gast das Rezept erhalten und das Gericht seitdem für besondere Gelegenheiten zubereitet. Welche das gestern gewesen sein könnte, ist Runa unbekannt. Einmal muss Dragon etwas davon bekommen haben, denn er deutet enttäuscht auf die Reste. Es ist offensichtlich, er hätte das gern gegessen.
Das Mädchen nickt und grinst dann breit.
»Offenbar gibt es unter den Waldbewohnern auch einige, die Neuem nicht misstrauisch gegenüberstehen. Ich hoffe, es bekommt dir«, ruft sie der kleinen Wildkatze zu, die am Waldrand hockt und sich die Pfoten leckt. Sie mauzt einmal kurz. Soll das ein Dank sein? Dann verschwindet sie auf leisen Pfoten von der Lichtung.
Runa bückt sich und hebt die Äpfel auf, von denen sie Dragon einen reicht.
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