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„Karina, wie lange ist das her!"
Mir fiel auf, dass sich seine Lachfalten im Laufe der Zeit tief eingegraben hatten.
„Mensch Frank. Was bist Du braungebrannt. Was ist nur aus dem alten Stubenhocker geworden?"
„Stubenhocker?", gluckste er. „Wir waren doch ständig unterwegs! Wir haben doch das Leben genossen und alle Fünfe gerade sein lassen!"
Ich nickte. „War ja auch ironisch gemeint", murmelte ich und dachte: „Etwas immer noch der Alte?"
Insgeheim befürchtete ich in diesem Augenblick, in der Hölle gelandet zu sein. Frank hatte immer Dummheiten im Kopf gehabt. In einer Clique gibt es immer einen Clown und einen Blödmann. Frank war zumindest damals der Blödmann. Er war der, der ohne nachzudenken überhastete Aktionen einläutete und einen in eine missliche Lage brachte, ehe man erfassen konnte, was geschah.
Er drückte noch einmal meine Schultern, sah mir ins Gesicht und ließ mich zögernd los. Mit einem Mal war er sehr ernst.
„Du vermisst José. Du vermisst schon jetzt deine große Liebe, kaum dass du drei Minuten hier bist."
Seine Stimmlage verriet ihn. Ja, trotz allem mochte ich Frank irgendwie, aber José liebte ich. Schwerfällig nickte ich: „Woher weißt Du das?"
Die folgende Frage kam mir schwer über die Lippen: „Frank, Du bist gestorben, ehe du ihn kennenlernen konntest!"
„Ja, Scheißmutprobe damals."
Jetzt verrieten nur noch die fest eingekerbten Lachfalten, dass er immer seinen Spaß gesucht hatte. ‚Seinen Spaß‘, wiederholte ich in Gedanken. Aber er konnte auch ernst sein. Das wusste ich noch und es machte mir Angst, wenn er so war wie jetzt. Das verhieß schon damals nichts Gutes, wenn er so war.
„José ist nicht hier."
„Was heißt, er ist nicht hier!"
Meine Stimme klang etwas schrill.
Frank senkte den Kopf. Mit klopfendem Herzen schaute ich in die Gesichter aller Umstehenden. Ich schaute in die Augen meiner Familie, bis hin zu meiner Oma und meinem Opa. Erst jetzt entdeckte ich meine Tante, die sich schon seit jeher zurückgehalten hatte. Doch in diesem Moment hatte ich keinen Nerv sie zu begrüßen. Meine Gedanken waren auf José fixiert. Ich sah in den vielfältigen Gesichtern, dass sie mit mir fühlten. Offensichtlich kannten sie mich alle durch und durch. Vermutlich waren es viele meiner Vorfahren. Wegbegleiter, die wie ich und José selbst, sich zu Gott gehalten hatten. Ja, wir hatten an ein Leben nach dem Tod geglaubt und an ein ewiges Leben. Schneller als gedacht, hatte José und mich das Schicksal ereilt und unserem Glauben zum Schauen verholfen. Nur das jetzt José fehlte!
„Er war noch überzeugter als ich", hauchte ich tonlos. „Das kann nicht sein, dass er es nicht geschafft haben sollte!"
Jetzt umklammerten meine Hände Franks Schulter. Meine Gedanken formten ein bitterböses: ‚selbst du Frank hast es offensichtlich geschafft‘!
Er wirkte mit einem mal total bestürzt. Für einen Moment fiel er in sich zusammen, als hätte er meine Gedanken gelesen. Kraftlos öffnete er den Mund, schloss ihn wieder, fasste dann aber Mut und sprach es endlich aus: „Er hat es ja geschafft", murmelte er. „Nur nicht hierher …„
„Nicht hierher?", unterbrach ich ihn. Meine Stimme zitterte und er verstummte.
„Yep, Yep", bellte ein Hund. Kaum hatte ich ihn gehört, drückte er schon seine Schnauze an meine Beine. Eine Pfote trampelte mir auf dem rechten Fuß herum und dann warf sich dieser schwarz-weiße Hund gegen meine Beine.
„Flo'chen!", freute ich mich! Fast gleichzeitig schrak ich zurück. „Sie ist doch schon vor Jahren gestorben!"
„So wie Du jetzt gestorben bist", murmelte Frank.
Ich bezwang mich, schluckte schwer und ging in die Knie, um sie zu kraulen.
„Wahnsinn", raunte ich, obwohl meine Gedanken immer noch bei José waren. Trotzdem kraulte ich meinen früheren Hund, hielt ihm wie damals verspielt die Schnauze zu und er hob fast freundschaftlich die Pfote, um meine Hand sanft zurückzudrücken.
„Wahnsinn", wiederholte ich, obwohl ich die Situation nicht so recht genießen konnte. Auch wollte ich keinen Hund mehr, das hatte ich mir schon damals geschworen. Langsam stand ich auf. Flo'chen blickte zu mir auf, dann rannte sie los und entschwand meinen Blicken. „Wo rennt sie hin?"
„Sie wollte dich wohl nur kurz begrüßen", murmelte mein Vater. Meine Mutter stupste ihn wie schon in ihren Erdentagen so heimlich in den Rücken, dass alle es mitkriegten.
„Mam?", fragte ich, aber Frank sprach schon weiter.
„Alles was ich weiß ist, dass José dein Freund ist und ihr seit jeher alles geteilt habt. Keinen Urlaub, ja keine freie Minute, habt ihr voneinander getrennt verbracht, wenn es sich nur hatte vermeiden lassen." Er nickte wissend beim Sprechen. „Was hab ich ihn beneidet."
„Frank!"
Er holte tief Luft. „Jeder hat seinen Entwicklungsstand. Er wird noch etwas brauchen."
„Was wird er brauchen? Frank, rede doch endlich in ganzen Sätzen!"
Er lächelte gezwungen. „Tue ich ja. Du meinst, ich soll hintereinanderweg erzählen."
„Himmel nochmal, ja!"
Er stutzte. „Du wirst doch hier nicht fluchen nach nur fünf Minuten?"
Es war eine rhetorische Frage, aber er brachte mich mit seiner Art zur Weißglut. Ich hatte mir den Himmel immer perfekt vorgestellt. Ohne Ärger, ohne Probleme und ohne Frank. Mit stockte der Atem.
„Ich bin in der Hölle gelandet!", rief ich ernüchtert. „Nur José hat es in den Himmel geschafft!"
Dröhnend prustete Frank los, warf seinen Kopf in den Nacken und lachte so ausgelassen, dass sein gackerndes Glucksen seinen Körper durchrüttelte.
Ich wartete, aber die Zeit zerriss mich förmlich. Endlich schüttelte er verneinend den Kopf und wischte sich eine Träne aus einem Auge. Meine Mama nahm mich in den Arm.
„Kleines. José ist nicht hier", raunte sie behutsam.
Mein Vater mischte sich ein. „Ja, vielleicht ist er ja einen Schritt weiter als wir!"
„Das ist ja wieder typisch! Du betrachtest die tollsten Möglichkeiten. Was soll denn ‚weiter‘ sein oder ‚höher‘, oder ‚schöner‘ als das Paradies?" Meine Mutter betonte die Adjektive schnippisch.
„Ganz wie in alten Zeiten", entfuhr es mir. „Also doch Hölle. Warum seit ihr noch zusammen?"
„Och, das sind wir nicht. Wir wollten dich nur begrüßen." Mein Vater strich mir über den Kopf und wartete ab.
Tränen stiegen mir in die Augen.
„Karina. Schau dich mal um. Eben noch hast du das alles genossen. Das kann nicht die Hölle sein. Beileibe nicht! Du hast es geschafft! Freue dich doch erst einmal."
Durch einen Tränenschleier hindurch starrte ich ihn an.
„Es gibt Hoffnung", redete Frank mir Mut zu. „Vielleicht ist er in einem anderen Himmel gelandet."
Ich zog die Stirn kraus, aber ehe ich fragen konnte, zog meine Mutter mich mit sich fort.
„Komm", sagte sie schlicht.
Im Fortgehen schaute ich zu Frank zurück. Was sollte dieser Spruch mit anderen Himmeln?
4. Dimanco (Sonntag) - ein überwältigender Empfang
Meine Mutter und ich liefen Arm in Arm. Die anderen folgten uns durch diese Natur, die so farbenfroh, hell und einfach nur schön war. Die Bäume waren voll von gesunden Blättern, die leise raschelten. Vereinzelt fielen Lichtstrahlen durch die Zweige, jedoch waren die Bäume so dicht, dass ich mich fragte, wie das Licht es schaffte, diese Welt in so wunderbares Licht zu tauchen, obwohl wir mittlerweile den Wald erreicht hatten. Selbst der Sandboden hier war perfekt angelegt und gepflegt. Ich wischte mir die Tränen ab.
„Du kennst doch José. Wir werden ihn schon finden", raunte mir mein Vater ins Ohr, aber meine Mutter stupste ihn mit der Hand weg: „Lass sie doch mal jetzt!"
Schweigend schritten wir weiter. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich Bewegungen. Ursprünglich hatte ich diese als Blätterrauschen abgetan oder als aufwirbelnden Sand, doch jetzt glaubte ich, einen Arm zu sehen und schaute genauer hin. Überrascht blieb ich stehen: „Sie leben!“
„Was?“
„Da, die kleinen ... Lebewesen.“
Tatsächlich arbeiteten kleine Gestalten emsig, um den Boden zu pflegen. Sie liefen, nein sie robbten über den Boden, zogen ihn glatt und entfernten, was nicht hineingehörte.
„Unkraut im Paradies? Das hatte ich mir nicht gedacht.“
Meine Mutter kam den einen Schritt zurück, der uns trennte und hakte mich wieder unter: „Ach komm, es ist fast wie auf der Erde. Das Paradies ist so nicht, wie sie uns erzählten.“
„Nein?“
Erneut blieb ich stehen, doch Mutter ging weiter und sagte nichts mehr. Verwirrt beobachtete ich die Wesen. Manche liefen wie wir Menschen auf zwei Beinen und zogen und zerrten an Wurzeln, vergruben sie oder legten sie in Position, wohl um das Gedeihen der Pflanzen zu fördern. Einer zog eine Wurzel vorsichtig an einem Stein vorbei und bedeckte sie dann fast schon zärtlich wieder mit Sand. Andere turnten in den Bäumen herum und kümmerten sich um die Pflege der Äste und Blätter. Ich folgte meiner Mutter.
„Oh", entfuhr mir ein leiser Seufzer, als eines der Wesen eine Orchidee hinauf in die Baumkrone trug. Während ich mich noch darüber wunderte, wurde der Wald wieder lichter.
„Wer sind diese Wesen, die hier so selbstlos arbeiten?"
Meine Mutter folgte meinem Blick. Doch mein Vater antwortete: „Ha, auf der Erde dachte man immer, das geht alles von alleine. Aber die Erde war verflucht. Keiner hatte richtig Lust, sich fortwährend zu kümmern. Jeder dachte nur an sich. Hier ist das anders. Ganz anders. Nicht mehr Geld und Macht stehen im Vordergrund, sondern das Streben …„
„Schau doch mal", unterbrach meine Mutter seinen Redefluss. Ihre Hand beschrieb einen etwas theatralischen Bogen und zeigte auf die Pflanzen nahe des Weges.
Die verschiedenen Grüntöne der Sträucher am Wegesrand ließen mich verwundert innehalten.
„Was für eine Vielfalt", hauchte ich.
Inbrünstig sog ich das Schauspiel in mich auf. Verzückt betrachtete ich die Blumen. Sie wogten im leichten Wind. Ihre Blüten leuchteten. Ja selbst die Farben ihre Stängel schienen mir intensiver zu sein, als alles, was ich bisher sah. Dazu zwitscherten Vögel in den harmonischsten Gesängen. Erneut vielen mir die kleinen Wesen rund um die Pflanzen auf. Solche hatte ich hier auch noch nicht gesehen. Mein Blick schweifte umher. Ich drehte mich zur Seite und schrak zusammen. Es gab ja auch welche, die größer waren als ich! Weitaus Größer! Waren es Tiere? Ich konnte sie nicht einordnen. Es waren Gestalten jedweder Art, aber alle freundlich und einander wohlgesonnen. Sie begrüßten mich mit einem leichten Kopfnicken. Das sah bei den ganz kleinen Wesen putzig aus. Bei denen, die größer waren als ich, wirkte es eher bedrohlich. Ich wusste, meine Mutter würde wieder ausweichend antworten, wenn ich jetzt nachfragte. Ich musste schnellstmöglich mit meinem Vater sprechen. Allein. Er stand nicht unter diesem unseligen Zwang, alles von mir fernhalten zu wollen. Ich lächelte still. Beide meinten es nur gut.
„Kommst Du?", riss mich meine Großmutter aus meinen Gedanken und hielt mir die Hand hin. Mein Blick streifte meine Tante.
„Ja, gleich."
Ich breitete die Arme aus.
„Tantchen. Entschuldige, ich glaube, wir haben uns noch nicht begrüßt."
Sie nickte freudig. „Ja, Kleines. Da hast du recht."
Ihre Hand strich mir übers Haar. Erst jetzt fiel mir auf, dass sie aussah, so wie ich sie in Erinnerung hatte. Wie alt musste sie schon sein? Oder meine Eltern?
‚Altert man nicht mehr?‘, fragte ich mich, stellte den Gedanken aber sofort zurück. Meine Tante lächelte plötzlich, dann lachte sie laut auf. Es war ein fröhliches, ja fast ein belustigtes Lachen.
„Du fragst dich, ob wir nicht älter werden. Wir werden nicht älter. Wir sehen einander so, wie wir uns in Erinnerung behalten."
„Ja. Ich musste nur erst einmal staunen über …", mir fiel kein Wort ein. Meine Hand beschrieb in einem weiten Bogen, was ich durch Worte nicht auszudrücken vermochte.
Sie nickte. Liebevoll ergriff sie meine Hand. Sie schwieg. Jedes Wort hätte dieses Gefühl, dieses wundervolle Gefühl der Geborgenheit, die ich trotz meiner Angst um José verspürte, zunichtegemacht. Wir schauten uns an. Ruhig blickten ihre Augen in die meinen, so als erforschte sie mich. Doch ich wollte nicht erforscht werden. Kurzerhand hakte ich sie und diesmal meine Oma ein.
Nach kurzem Weg sahen wir ein kleines Dorf in der Ferne. Leise drangen Geräusche herüber. Hammerschläge, die voller Emsigkeit ausgeführt wurden. Kleine Stakkatos in rhythmischem Abstand. Mit jedem Schritt, den wir näherkamen verringerten sich die Anzahl Bäume und Sträucher und wichen vollen Feldern.
Auch hier wuselten geschäftig viele, viele Naturwesen herum. Es waren so viele und so Unterschiedliche, dass ich gar nicht erst begann zu fragen, wie sie hießen oder worin sie sich auszeichneten.
Es war Juni und an der Zeit, in den Kartoffelfeldern erneut Unkraut zu jäten. Da waren diejenigen, die den Boden auflockerten und diejenigen, die das Unkraut entfernten. Das Geschehen verblüffte mich. Aber ich fühlte eine Freude in mir, das alles Sehen zu dürfen, diese Emsigkeit mitzuerleben, dass ich innerlich juchzte. Ehrlich gesagt, war es mehr als einfach nur Schauen. Ich fühlte mich verbunden mit allem: Mit der Natur, mit den Glücksgefühlen all derjenigen, die ich erspähte und mit einer Kraft, die ich bei genauerem Nachdenken insgeheim als Lebenskraft betitelte. Vielleicht kam mir dieses Wort auch in den Sinn, weil just in diesem Augenblick eine Glocke wie von einem entfernten Kirchturm leise läutete. „Für mich", dachte ich unwillkürlich. Es passte ins Bild und ich versuchte es in mich aufzunehmen und nie wieder loszulassen. Es war mein Wunsch, es mir als Erinnerung aufzubewahren. Ich blieb stehen und kniff ich mir in meinen kleinen Finger. Das hatte ich schon zu Lebzeiten so getan. Schöne Momente speicherte ich mir, schon seit ich ein kleines Kind war, immer durch einen kleinen Kniff in den Finger. Wenn es mir schlecht ging, konnte ich die schönsten Erinnerungen abrufen. Ungewollt lächelte ich. José hatte meine Marotte, wie er mein Verhalten nannte, immer veralbert.
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