- -
- 100%
- +
„... Seitdem ist der Stein nicht mehr benutzt worden“, hörte er gerade einen bärtigen Alten sagen.
„Der Stein liegt da, mitten im Wald und alles, woran man erkennen kann, dass er ein Geheimnis birgt, ist ...“
„Pssst!“, machte ein anderer.
„Rede doch nicht so laut! Umso weniger von dem Stein wissen, desto besser, oder hast du das Abkommen von Reykjavic und die Huldufólk's vergessen?“
Dorin spitzte die Ohren. Das war genau das, was er so interessant fand und wofür es sich lohnte, Ärger zu riskieren.
„Mich hört doch keiner!“, antwortete ärgerlich der Erste.
Trotzdem senkte er die Stimme, sodass Dorin noch näher an das Feuer heranschleichen musste, zumal er die Stimme des alten Schamanen Lenguja erkannte. Sein Herz pochte vor Aufregung.
„Also, er führt direkt zu den ...“
Ein verdorrter Zweig knackte unter dem Knie von Dorin. Verkrampft erstarrte er mitten in der Bewegung. Jetzt raste sein Herz. Regungslos, bis seine Muskeln nicht mehr mitspielten, hielt er die Position. Schweiß trat ihm auf die Stirn. Langsam und vorsichtig tastete er sich vorwärts. In einer relativ bequemen Lage blieb er einfach liegen. Eine Fee schwirrte langsam heran, umkreiste ihn und verschwand kopfschüttelnd wieder. Offensichtlich war der Ast vollständig vertrocknet, sonst hätte sie ihn womöglich noch lauthals ausgeschimpft!
„Da war doch ein Geräusch“, rief einer der Alten.
Lenguja stupste ihn gegen die Schulter und lachte:
„Ja, und jetzt stehst du auf und schaust nach, wer uns da belauscht?“
Dorin hielt die Luft an. Einen Moment lang war es still, dann begehrte der andere Wichtel auf:
„Wir müssen vorsichtig sein mit den alten Geschichten!“
Er war drohend aufgestanden, doch Lenguja lachte. Dorin sah, wie der Wichtel Lenguja noch kurz anstarrte, sich vollends umdrehte und einen Schritt in Dorin's Richtung tat, doch Lenguja hielt ihn am Arm zurück.
„Bleib hier, da ist nichts“.
Seine Stimme war resolut. Seine Hand ruhte auf dem Arm des Alten.
Bereit zur Flucht hatte sich Dorin leicht aufgerichtet, schon als der Alte aufgestanden war. Sein Rücken schmerzte von der ungewohnten Lage und er biss sich vor Anstrengung auf die Lippen. Erleichtert sah er, dass der Alte sich wieder bequem auf dem umgestürzten Baum zurechtrückte. Der dicke Hintern streifte beim Setzen einen kleinen grünen Spross, der aus dem alten Baumstumpf wuchs. Ein kleiner Baumelf lief aufgeregt hin und her, starrte immer wieder zu dem kleinen Spross hin und hielt sich vor Schreck den Kopf. Der Hintern des Alten knickte den kleinen grünen Spross fast ab! Als ein Ast im Feuer laut knackte, zuckte Dorin heftig zusammen. Trotzdem schob er sich näher heran und bedeutete dem Baumelfen, ihn nicht zu verraten. Der hatte jedoch keinerlei Sinn für Dorin. Sorgenvoll beäugte er das kleine Pflänzchen und den dicken Hintern des kleinen Wichtels. Bedrohlich nah war der an den Spross herangerutscht! Der Baumelf tat Dorin leid. Sein Leben lang war dieser mit der Pflege von jungen Baumsprösslingen verbunden. Dieser Baum hatte noch Leben in sich und würde bestimmt weitere Sprösslinge austreiben, aber er lag auch auf der Seite und bot ein jämmerliches Bild. Irgendwann würde er als Bank für das Lagerfeuer ausgedient haben. Spätestens dann musste der Baumelf über das verbliebene Wurzelwerk eine Möglichkeit finden, sich zu einem jungen Pflänzchen zu retten, das der Obhut der Feen entweichen wollte, um zu einem stattlichen Baum heranwachsen zu können. Dorin beobachtete den kleinen Baumgeist, der jetzt um die Alten herumflitzte und aufpasste, dass nicht allzu viel von der Rinde abbrach. Passierte es doch, dann stach er mit einem Holzstöckchen durch die Kleidung in den betreffenden Hintern. Dies war nicht immer von Erfolg gekrönt, denn je nachdem wie dick der Wichtel angezogen war, trug er noch einen Winterumhang oder bereits ein dünneres Blätterhemd. Auch wenn die Älteren eher froren, so kleideten sie sich immer noch gerne so, wie ihre unmittelbare Umgebung es ihnen vormachte. Hier ahmten sie selbst die Natur nach. Dorin war nah genug herangekommen, um die Worte klar hören zu können. Ein Stein drückte ihn, doch er verharrte in der unglücklichen Position und lauschte angestrengt den Worten.
„Der Gang ist lang und dunkel ...“, hörte er Lenguja leise erzählen. Dorin konnte die Position nicht halten. Zu unbequem war seine Lage. Er wagte es, sich erneut zu rühren. Langsam schob er sich noch näher heran. Als wieder ein Knacken eines Astes das Gespräch kurz zum Verstummen brachte, schob sich Dorin langsam von dem Feuer zurück.
„Das war nur das Holz im Lagerfeuer“, hörte er Lenguja kichern.
„Sei doch nicht so nervös, wenn ich von den alten Dingen erzähle!“ Dorin verharrte wieder regungslos in seiner Position. Sollte er noch länger zuhören? Wenn nur die Frösche wieder quaken, oder wenigstens die Grillen zirpen würden! Er blickte sich um und sah Udoni, die immer noch mit verschränkten Armen zu ihm hinüberstarrte. Zum Glück war sie ein Wassergeist und kein Wichtel, sonst hätte sie sich eher noch einen Spaß mit Dorin erlaubt und ihn womöglich verraten! Kein Geräusch half ihm. Und bei Udoni hatte er sich ja auch noch nicht entschuldigt, so dass sie gar nicht daran dachte, ihm zu helfen. So wagte er sich nur sehr langsam zurück zu seiner schützenden Behausung.
„Also, der Gang ist dunkel und der Weg ist sehr schmal ...“
Das interessierte ihn natürlich nicht. Er würde schon sehen, wie der Gang ausschaut, wenn er ihn erst einmal gefunden hatte. Wieder schob sich Dorin vorsichtig ein Stück zurück. Er wusste, dass ein erneutes Geräusch unweigerlich zu seiner Entdeckung führen würde. Mit Schaudern dachte er an seine letzte Bestrafung durch seine Eltern:
„Wer Zeit hat, Unfug zu treiben, der hat auch Zeit mitzuarbeiten“, hatten sie gesagt. Tagelang hatte er Wasser von einem nahen Tümpel geholt und an Fellen geschabt, um diese haltbar zu machen. Mittlerweile konnte er die Worte nicht mehr verstehen, die am Lagerfeuer gesprochen wurden:
„... doch wer einen Feuerstein in dem dunklen Gang benutzt, um sich den Weg zu beleuchten, wird riskieren, dass ein Feuergeist die Gase entzündet und der Gang einstürzt!“
Eine ärgerliche Stimme mischte sich ein:
„Rede doch nicht so einen Quatsch! – Feuergeist! Das sind Gase, die sich entzünden!“ Jetzt stritten die Alten am Lagerfeuer über die richtige Art, einen Weg zu beleuchten. Dorin hatte mittlerweile sein Bett erreicht und schlief sofort ein ohne sich den Staub abzuklopfen.
5. Der Plan
Sunny wachte wie immer mit den ersten Sonnenstrahlen auf. Sie räkelte sich, sprang auf und küsste erst ihre Mutter, dann ihre Oma auf die Wange.
„Soll ich Wasser holen?“, fragte sie und lief schon los.
Es ging ihr eigentlich nicht darum Wasser zu holen, sondern darum zu sehen, ob ihre Freunde Dorin und Skalli schon wach waren. Sie sprang mit einem Blatt, dass sie im Laufen zu einem Trichter formte in Richtung des Tümpels. Ein Blatt war viel leichter als diese schweren Eimer und so konnte sie die benötigte Wassermenge viel leichter tragen. Nahe des Tümpels hörte sie schon die Stimmen der Jungen. Sie verharrte im Schritt und schlich sich an.
‚Ein kleiner Streich am Morgen, vertreibt Kummer und Sorgen‘, dachte sie vergnügt. Sie sah sich um, sah eine kleine Nieswurzpflanze und nahm sich unter Protest einer Elfe ein kleines Stück Wurzel. Sie zerrieb es sorgfältig zu Pulver. Sie lächelte, als sie an die Wirkung dachte. Wer auch immer das Pulver einatmen würde, musste so heftig niesen, dass seine Füße fast vom Boden abhoben. Sie wusste, wen es gleich treffen würde. Behutsam schüttete sie das Pulver in ihren Trichter und blies heftig in das zusammengerollte Blattende. Das Pulver flog erst in Richtung der Jungen, driftete dann durch einen plötzlichen Windstoß ab! Mit Schrecken sah sie, dass es jetzt in eine falsche Richtung flog und, offensichtlich durch einen weiteren Windstoß getrieben, Richtung Dorfplatz trieb. Dort stand Grumdin, der Dorfälteste. Sie duckte sich verärgert. Schon nieste er und grummelte verärgert. Doch ehe sie sich entscheiden konnte, ob sie über ihren gelungenen Streich lachen sollte oder sich darüber ärgern, dass es den Falschen getroffen hatte, hörte sie die aufgeregte Stimme von Dorin:
„Stell dir vor: Lenguja selbst hat von dem Gang erzählt! Der alte Schamane!“
Skalli starrte Dorin an.
„Lenguja? Der sitzt doch sonst eher in seinem Zelt zwischen seinen Töpfen und Kräutern.“
Sogar über die Entfernung hinweg sah Sunny, wie seine Augen aufblitzten.
„Das muss ich Sunny erzählen!“
Dorin tippte sich an den Kopf.
„Bist du irre? Du willst doch nur wieder Eindruck schinden bei der grünäugigen ...“
Skalli stürzte sich auf Dorin und hielt ihm den Mund zu. Dorin ließ sich das natürlich nicht gefallen und so rangen die Beiden auf dem staubigen Boden miteinander.
„Du bist doch selbst in sie verschossen“, keuchte Skalli, ließ sich auf den Rücken fallen und atmete gierig die Luft ein. Auch Dorin ließ sich jetzt auf den Rücken fallen, verschränkte die Arme unter seinem Kopf und starrte in den blauen Himmel.
„Mensch, Alter“, sagte er,
„sie ist einfach ... so ... so ... in Ordnung!“
Skalli setzte sich auf und starrte zu Dorin.
„Sie ist ein echt feiner Kerl“, bestätigte er.
„Ich glaube, ich würde alles für sie tun.“
Dorin’s bernsteinfarbene Augen fixierten ihn.
„Würdest du unsere Freundschaft für sie opfern?“
Skalli's Kopf ruckte hoch.
„Himmel, nein“, rief er.
„Das ist doch etwas ganz anderes!“
Dorin setzte sich auf.
„Ja, ich mag sie auch gern. Eines Tages werden wir uns wegen ihr streiten.“
Skalli schüttelte den Kopf.
„Es ist ihre Entscheidung. Sie wird bestimmen, was geschieht.“
Sunny bemerkte eine Bewegung rechts von sich und erkannte Lenguja. Der hockte auf den Fersen und schaute lächelnd zum Dorfältesten hinüber. Sunny’s Herz pochte. Hatte er etwa ihren missglückten Streich mitbekommen? Sie konnte sich nicht länger zurückhalten, musste etwas tun, um nicht Lenguja womöglich Rede und Antwort stehen zu müssen. Ihre Stimme ließ die Beiden zusammenfahren:
„Wer wird bestimmen, was geschieht?“
Dorin und Skalli sprangen auf die Füße. Skalli wurde rot.
„Ich habe gestern die Alten am Lagerfeuer belauscht und du wirst entscheiden, ob wir es wagen werden“, rief Dorin hastig und setzte listig hinterher:
„Ab wo hast du meine Neuigkeiten mitgehört?“
Sie lächelte, als sie seine List erkannte. Würde sie jetzt zuviel sagen, wüssten beide, dass sie nicht nur das Ende ihres Gespräches mitbekommen hatte. Lieber beschloss sie, für sich zu behalten, dass sie das ganze Gespräch mitverfolgt hatte. Sie wollte ihn nicht bloßstellen. Skalli's roter Kopf hatte sich wieder zur normalen bräunlichen Hautfarbe zurückverwandelt, nur die Ohren leuchteten noch rot vor Aufregung und Sunny lachte.
„Ich habe gar nichts gehört“, log sie.
Sie hasste es zu lügen, aber in diesem Fall hielt sie es für angebracht, um ihn nicht erneut in Verlegenheit zu bringen.
Skalli erzählte aufgeregt, was er von Dorin wusste, während dieser ihn amüsiert musterte. Er erzählte von dem geheimnisvollen Gespräch, das Dorin belauscht hatte, während Dorin ungeduldig darauf wartete für seine Lauschaktion gelobt zu werden.
Sunny sah von einem zum anderen. Sie wusste, dass es viel besser ist, wenn nicht der Held von seinen Taten berichtet, sondern ein anderer. So war es ja auch bei den Erzählungen der Krieger am Lagerfeuer. Insgeheim wartete sie, dass Skalli seinen Freund gleich einbeziehen würde, sodass Dorin seinen Mut noch einmal selbst bekräftigen und davon berichten konnte, dass sie ihn fast erwischt hätten.
Doch Skalli erwähnte Dorin mit keiner Silbe!
Darüber ärgerte sich Sunny. Nüchtern gab der das Geheimnis der Alten preis, ohne auch nur mit einer Silbe Dorin zu erwähnen, der voller Ungeduld von einem Fuß auf den anderen trat! Auch dessen Miene verfinsterte sich zusehends.
Endlich holte er Luft, um sich weiter selbst in Szene zu setzen.
Sunny bemerkte es.
„Wow“, unterbrach sie ihn, „Da muss ich gleich versuchen, etwas mehr von meiner Oma zu erfahren.“
Ihr Blick fiel zu Dorin.
„Mensch Dorin, was schaust du denn so miesepetrig?“
Sie bot Dorin ihre Hand an.
„Komm doch mit, dann können wir beide versuchen etwas von ihr zu erfahren!“
Dorin wurde rot.
„Ja, gern“, stotterte er.
Skalli starrte beide sprachlos an. Es stand ihm im Gesicht geschrieben, dass er Sunny hatte beeindrucken wollen und jetzt verwirrt war, dass sie ihm nicht ihre Hand anbot.
In diesem Augenblick erscholl ein Ruf quer über den Marktplatz: „Dorin! Komm und hilf mir mal!“
Dorin stöhnte auf:
„Mist!“
Dann senkte er den Kopf und trottete zu seiner Mutter, die mit einem Korb vor dem kleinen Zelt stand und auf ihn wartete.
Sunny lächelte Skalli an.
„Komm Skalli.“
Sie bot ihm die Hand.
„Wenn du nicht so sauer dreinschaust, dann kannst du mit mir kommen!“
Skalli stampfte seinen Fuß in den Boden und raunte.
„Nee, lass mal.“ Offensichtlich wütend drehte er sich um und trottete in den Wald.
Sunny nickte und murmelte:
„So ist es, wenn man seinen Freund um seinen Ruhm bringen möchte. Man kann es nicht wirklich genießen.“
Sie zuckte die Schultern und lief zügig nach Hause. Als sie die Zeltwand zur Seite schlug, drang ihr der köstliche Duft von gedünstetem Obst entgegen.
„Hmmm! Das riecht aber lecker, Oma!“
Die Oma schaute sie gespielt ernst an. Ein leichtes Lächeln huschte über ihr runzliges Gesicht, während ihre Mutter Brombeeren und Wurzeln im Topf umrührte.
„Na, Sunny, was soll denn Oma für dich tun?“, fragte sie und blinzelte der Oma zu, die am Tisch Erdknollen schälte.
Sunny setzte sich ganz dicht neben ihre Oma und flüsterte ihr zu:
„Erzählst du mir eine Geschichte?“
Die Oma schaute ihr liebevoll ins Gesicht: „Die Brombeeren, die deine Mutter dort mit den Wurzeln verrührt, schmecken nicht nur, sondern helfen sogar bei Fieber! Wusstest du das?“
Sunny lächelte: „Und aus den Blättern kann man auch Tee kochen. Ach Oma, das weiß ich doch längst.“
Sie stellte ihre Stimme tief und raunte: „Eine Geschichte von verbotenen und geheimen Abkommen?“
Der Löffel im Topf klapperte und ihre Mutter drehte sich um: „Was hast du denn jetzt wieder aufgeschnappt, Kind?“
Sorge lag in ihrer Stimme. „Ich kenne nur ein Abkommen und das ist ganz bestimmt nichts für Kinderohren!“ Jetzt hörte Sunny sogar einen wütenden Klang heraus.
Die Oma reagierte nicht.
„Du erzählst ihr nichts von den Geschichten!“ Die Stimme von Sunny’s Mutter überschlug sich schrill und sie beugte sich über den Tisch. Ihr Gesicht war nur noch eine Handbreit vom Gesicht der Oma entfernt: „Kein Wort“, zischte sie langsam und eindringlich.
Die Oma schaute ihrer Tochter direkt in die Augen. Ihre Stimme war fest, als sie sprach: „Die Dinge nehmen ihren Lauf, wir können es nicht verhindern!“
Mit diesen Worten stand sie langsam auf, während Sunny’s Mutter vor lauter Wut laut „Oooch“ machte.
So standen die beiden Frauen voreinander und starrten sich an.
„Auch du hast damals gefragt und ich habe es erzählt. Wissen kann nicht schaden!“
Ihre Hand tastete nach dem Kopf Sunny’s.
„Komm, lass und Beeren suchen gehen.“
Tränen stiegen in die Augen von Sunny’s Mutter.
„Wenn mein Mann noch leben würde, dann würdest du es nicht wagen!“
Sunny fühlte sich unwohl. Was hatte sie nur angerichtet! Die Stimmung war so schnell umgeschlagen. Eben noch hatten die Beiden gescherzt und nun fochten sie einen Kampf aus, wann Wissen weiterzugeben sei.
„Ich will es nicht mehr wissen“, log sie.
Stille trat ein. Da kniete sich ihre Mutter vor ihr auf den Boden und hielt ihre Hände.
„Es ist gut.“
Eine tiefe Sorgenfalte hatte sich auf ihrer Stirn gebildet und sie rang nach Fassung.
„Es ist schon gut, mein Kleines. Ich war nur nicht darauf vorbereitet, dass du es bereits jetzt erfahren wirst.“
Mit einem Schwung nahm sie Sunny in die Arme und raunte ihr leise ins Ohr:
„Du bist kein Kind mehr.“
Dann sah sie Sunny wieder in die Augen.
„Geht jetzt!“
Schweigsam verließ Sunny mit ihrer Oma das Zelt. Sie fühlte sich unbehaglich und doch war sie gespannt auf die Geschichte. Mit ihrer Oma kam sie jedoch nur langsam voran und sie platzte doch fast vor Ungeduld! Schritt für Schritt ging ihre Oma über den großen Platz. Aus einem Baumwipfel heraus sang eine Nachtigall und Sunny freute sich über die schönen Töne des Vogels, der so gerne Beeren ist. Mit Mühe erreichten sie endlich den Rand des Marktplatzes. Sunny lief vor und machte es sich auf einem Baumstamm bequem. Immer noch lauschte sie den Tönen des Paradiesvogels und wartete.
„Also, mein Kleines, es gibt ein Abkommen mit einem Volk, dass größer, aber nicht mächtiger ist, als wir es sind. Dieses Volk lebt in einer Welt, die so ...“
Es knackte hinter ihnen und jemand machte laut:
„Pssst!“
Lenguja, der Schamane des Dorfes war hinter ihnen stehen geblieben. Mühsam drehte sich die alte Frau um.
„Erzähl weiter“, drängte Sunny.
„Du erzählst die verbotene Geschichte des Steines und von dem Abkommen?“, fragte Lenguja heiser.
Sunny schaute von ihrer Oma zu Lenguja und wieder zurück.
„Ich habe ein Gesicht gehabt“, sagte der Schamane, doch die Oma winkte ab.
„Gesichter! Ha“, rief sie.
„Ich bin alt, mir macht es keine Angst mehr mit euren Gesichtern!“ Lenguja kniff die Augen zusammen.
„Ich habe ein Gesicht gehabt“, wiederholte er „und es nicht verstanden. Nun aber beginne ich zu verstehen!“
Er schaute prüfend in Sunny’s Gesicht. Dann nahm er ihr Kinn in seine Hand und beugte sich vor.
„Erforsche die Geschichte, aber sei vorsichtig. Alles wird sich zeigen.“ Er straffte seinen Körper und wirkte auf einmal ganz zufrieden.
„Trinke jeden Tag etwas grünen Tee, das stärkt die Zähne!“ Verblüfft schaute ihm die Oma hinterher, dann fasste sie sich und rief ihm hinterher
„Zuviel davon macht aber müde“, doch er winkte nur ab.
„Das hätte ich nicht erwartet. Ich dachte, er schimpft und verbietet mir weiterzusprechen, der alte Narr.“ Sunny’s Blick löste sich von dem alten Mann.
„Oma, das ist unser Schamane“, rief sie etwas verstört.
„Ich habe auch Lebenserfahrung“, sagte ihre Oma. Sunny war verwirrt. So kannte sie ihre Oma nicht. Aus irgendeinem Grund war diese nicht gut zu sprechen auf Lenguja.
„Ach Sunny. Seit Jahren höre ich seine Worte. Sicherlich hat sein Hinweis mit dem Tee seinen Sinn. Schau ihn dir an. Er ist selten krank, obwohl er nur seine grünen Blätter isst und nichts trinkt, außer natürlich seinen Tee.“ Leise lachte sie und zeigte dabei ihre grauen Zahnstummel.
„Aber seine Macht schwindet und er unternimmt nichts. Er benutzt die Anderen, um seine Ziele zu erreichen. Schon lange hat er keine große Tat mehr vollbracht!“ Sie verstummte und hing ihren Gedanken nach.
„Er war mal ein staatlicher Wichtel“, sagte sie und ihre Stimme klang fast ein wenig traurig. Zögernd schüttelte sie den Kopf.
„Ich wüsste zu gern, was er im Schilde führt.“
Sunny fiel der Stein wieder ein, doch bevor sie etwas sagen konnte, nickte ihre Oma schon und sagte: „Ja, ja, der Stein.“
Liebevoll schaute sie Sunny an.
„Er führt zu dem Volk, das in dem hellen Licht lebt und dass noch immer Verrat und Tod und Krieg übt. Sie essen sogar Tiere!“
Sunny wurde schlecht.
„Igitt“, rief sie.
Eine Frau, die eilig an Ihnen vorbeilief, schaute kurz herüber.
„Wo liegt denn dieser Stein?“, würgte Sunny schnell hervor.
„Erzähl ihr nicht zu viel“, rief Lenguja zu ihnen und trat heran.
„Das könnte alles zunichtemachen!“
Ärgerlich schüttelte die Oma den Kopf und stand mühsam auf.
„Das meine ich. Von dir erfährt man nichts und weitergeben soll man auch nichts. So gehen die alten Geschichten verloren!“
Sie blickte düster in Lenguja’s Augen und öffnete den Mund.
„Pssst“, machte Lenguja leise und sie schloss den Mund wieder.
Mit einem vernichtenden Blick zu Lenguja machte sie sich auf den Rückweg. Sunny blieb verwirrt stehen, dann aber beeilte sie sich, ihre Oma einzuholen, um noch ein wenig zu erfahren. Doch viel konnte sie nicht mehr in Erfahrung bringen.
Unterdessen trugen viele auf dem Marktplatz ein großes Lagerfeuer zusammen. Die Wichtel tuschelten über eine Vorstellung, die am Abend stattfinden sollte. Sunny war gespannt. Sie wusste, dass jedes Stammesmitglied am Lagerfeuer die Gelegenheit hatte, andere an einem eigenen Erfolg teilhaben zu lassen. Manche dichteten ein neues Lied und stellten es den anderen vor, oder hatten gelernt ein Instrument zu spielen. Wer sich zutraute sein Können einzubringen, durfte dies tun und lief nicht Gefahr ausgelacht zu werden. Das Lagerfeuer bot jedem die Gelegenheit, den Stamm an der eigenen Freude teilhaben zu lassen. Jeder hörte einem geduldig zu und freute sich mit dem Stammesmitglied, doch wer wollte heute Abend von seiner neuen Kunst berichten?
Als Sunny die Vorbereitungen zu dem Lagerfeuer sah, vergaß sie in der Aufregung ihre weiteren Fragen nach dem Stein. Ihre Mutter schaute auf, als beide in das Wichtelhaus eintraten.
„Mama! Heute Abend berichtet jemand am Lagerfeuer! Darf ich aufbleiben und zuhören?“
Ihre Augen flehten ihre Mutter Sorbi an und als diese nickte, warf sich Sunny in ihre Arme.
„Danke.“
Sie half beim Zusammenräumen der Felle und beim Aufhäufen der Strohballen, die als Bett dienten. Als endlich die Nacht hereinbrach, gingen sie los zum Marktplatz.
Das Feuer brannte meterhoch und viele hatten sich gesammelt. Sie redeten durcheinander und Sunny’s Augen suchten nach Skalli und Dorin. Als sie entdeckte, dass Dorin gerade von einigen Alten verscheucht wurde, lächelte sie. Wahrscheinlich hatten sie ihn beim Lauschen erwischt.
„Hallo Dorin, bringst du wieder Geheimnisse in Erfahrung?“
Dorin kam zu ihr herübergelaufen.
„Ja, ähm, hat dir Skalli das also doch noch erzählt“, rief er auf einmal sehr fröhlich.
„Was soll Skalli mir erzählt haben?“, fragte sie etwas irritiert und setzte sich auf einen Baumstamm dicht vor dem Lagerfeuer. Dorin hatte schon ganz dicht neben ihr Platz genommen und murmelte
„Ach nichts.“
Er stieß Sunny an, deutete auf einen Kobold, der einen kleinen Eimer trug und den sandigen Inhalt in das Feuer kippte, um es zu löschen. Doch es war schon zu groß, um von dem Sandhäufchen gelöscht zu werden. Der Kobold hüpfte vor Wut auf dem Eimer herum, besann sich und holte einen neuen, größeren Eimer. Diesmal war er mit Wasser gefüllt. Es schwappte immer wieder über den Rand und als der erschöpfte Kobold endlich am Feuer ankam, war er patschnass.
„Ist der nicht lustig, der kleine Kobold?“, fragte Sunny.
„Ja, dem geht alles daneben!“
Sie lachte: „Weißt du eigentlich woher die Kobolde kommen?“
Als Dorin den Kopf schüttelte, erklärte sie mit ihrer lieblichen, noch zarten Stimme: „Kobolde zu dessen Geschlecht auch schadenfrohe Berggeister, Feldgeister und Waldgeister gehören, leben in Wäldern und geistern zuweilen auch als Irrlichte durch den Wald. Allen ist gemein, dass sie sich freuen, Furcht zu verbreiten oder andere zu ärgern!“
Dorin sah sie ratlos an: „Wie sollen sie zu Irrlichtern werden, wenn sie doch Waldgeister sind?“
„Grauenhaft tückische Wassergeister gibt es auch. Alles Kobolde!“. Sie strahlte ihn an: „Aber wenn man schläft, lassen sie einen in Ruhe.“
Er lachte: „Du meinst tatsächlich, wenn man einem Unhold gegenübersteht, braucht man nur so tun, als schliefe man und er lässt einen in Ruhe?“
Sunny guckte ihn ernst an: „Ich ziehe mir auch die Bettdecke über den Kopf.“
Dorin lächelte.
„Ich würde mich ihm in den Weg stellen und zeigen, dass ich kämpfen werde. Egal, ob ich verliere, ich hätte es wenigstens versucht.“
Sunny sah auf den Boden. Sie überlegte.
„Wenn ich das von der anderen Seite her betrachte, von Gott ...“, ihr versagte fast die Stimme vor Angst von Dorin ausgelacht zu werden, weil sie Gott ins Spiel brachte. Tapfer riss sie sich zusammen und beendet ihren Satz.