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Zunächst gab es einen wochenlangen Ausnahmezustand. Einen Ausnahmezustand der Freude. Der Überraschung, des Ungewissen. Wahnsinn eben.
Den Ausnahmezustand der Freude konnte man auch im Westen spüren. Zumindest in West-Berlin und in den grenznahen Regionen in Westdeutschland. Man begrüßte unzählige Menschen in ihren Trabbis, in hessischen Grenzdörfern wurden an der Bundesstraße Kaffee und Plätzchen verteilt. Wenige Jahre später standen an denselben Stellen Schilder, die auf den Verkehrsinfarkt aufmerksam machten. Der Autobahnbau der A4 dauerte bis in die späten 1990er hinein. Zumindest für diese westdeutschen Kommunen änderte sich durch die Grenzöffnung vieles und in diesem Fall nicht zum Guten. Die vielen Autos und Lkws, die sich durch die hessischen Grenzdörfer quälten, waren laut, machten die Straßen kaputt und vergifteten die Luft in einer Gegend, die bisher im Dornröschenschlaf des Zonenrandgebietes lag.
Meine Mutter war eine der Ersten, die sich bei der Stadtverwaltung Koblenz meldete, um Ostdeutsche aufzunehmen. Wenig später hatten wir auch einen jungen Mann sonntags zum Essen, der als Überkopfschweißer in der DDR gearbeitet hatte, mit der Stasi in Konflikt geraten und gerade aus der Haftanstalt in Bautzen entlassen worden war. Meine Eltern hielten irgendwie die Unterhaltung beim Essen in Gang, ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Was sagt man zu jemand, der wochenlang an eine Heizung gefesselt worden war?
In der Noch-DDR hingegen änderte sich das Leben radikal, besonders für meine Generation. Wir spürten: Das ist unsere Zeit, wir können es schaffen! Viele brachen Studium oder Ausbildung ab und gingen einfach in den Westen, fingen etwas Neues an.
Für mich selbst war das kein Thema, ich wollte meine Schneiderlehre abschließen. Von meiner Lehrlingsklasse jedoch blieb nur gut die Hälfte übrig.
Kurze Zeit später hatte meine Mutter ein Ehepaar aus der Koblenzer Partnerstadt Sondershausen über unsere Stadtverwaltung zugeteilt bekommen, mit denen sich ein reger Briefverkehr entspann. Sie luden uns spontan ein, Silvester bei ihnen in Thüringen zu verbringen, wir waren aber schon verplant. Wenig später kam das Ehepaar nach Koblenz zu Besuch. Um sich am Bahnhof zu erkennen, hatten der Mann und mein Vater sich eine rote Nelke in den Reverskragen gesteckt.
Unsere Familie war glücklich, da wir wieder Kontakt zu meiner Schwester hatten, dass wir uns wohl doch wiedersehen können. Sie war mit Mitte 20 im September 1989 über die ungarische Grenze in den Westen gelangt. Mittlerweile hatte sie in Baden-Württemberg Fuß gefasst, hatte sofort eine gute Arbeitsstelle als Kartografin bekommen. Im Osten wäre sie vermutlich recht schnell arbeitslos geworden und hätte keine neue Anstellung in ihrem Beruf gefunden.
Eine euphorische, teils anarchische Stimmung herrschte im Osten. Die DDR-Volkspolizei hatte zwar offiziell noch für Ordnung zu sorgen, aber die Beamten, vor denen man früher eine höllische Angst hatte, kamen uns plötzlich machtlos, fast hilflos vor.
Es gab Straßenszenen, bei denen Polizisten vor Jugendbanden Reißaus nahmen, da sie nicht wussten, wie sie sich am besten verhalten sollten. Die Staatsgewalt war erodiert.
Das Straßenbild bei uns in Rheinland-Pfalz änderte sich nach dem Mauerfall wenig. Ab und zu sahen wir Trabis auf der Autobahn. Anfangs hupten wir und winkten den Leuten freudig zu. Das legte sich mit der Zeit. Mein Leben ging in den gewohnten Bahnen weiter: Nichts änderte sich!
Das Wie und Was war noch nicht klar: Werden wir jetzt Gesamtdeutschland? Es war das bestimmende Thema in Ost- und Westdeutschland und auch international. Und trotzdem, in erster Linie genossen die meisten den Mauerfall. Wie viele Ostdeutsche erlebte ich diese Zeit in einer Art Rauschzustand, in den uns die Überdosis Möglichkeiten versetzte. Die Möglichkeiten, uns frei zu bewegen, uns die Nasen an westdeutschen Schaufenstern platt zu drücken und uns etwas zu kaufen. Wenn man heute bedenkt, welch geringe Mengen Devisen wir hatten: Bis zur Währungsunion im Frühsommer 1990 hatten wir nur die paar D-Mark, die wir von westdeutschen Verwandten zugesteckt bekamen oder das Begrüßungsgeld, dass alle Ostdeutschen bei Reisen in den Westteil bekamen: Pro Person und Jahr bekam jeder DDR-Bürger bis Ende 1989 100 D-Mark, 1990 bis zur Währungsunion durfte man 100 DDR-Mark gegen 100 D-Mark umtauschen. Für uns war das zu der Zeit unglaublich viel. Die Ossis kauften hauptsächlich Schokolade, Kaffee und Südfrüchte. Dieser chaotisch-euphorische Zustand hielt an bis zur Währungsunion im Juli 1990.
Es waren acht Monate seit dem Mauerfall, in denen die Ostdeutschen ihr glückliches Schicksal genossen, aber auch verdauen mussten. Die eigentliche Wiedervereinigung, der Staatsakt Anfang Oktober stand noch bevor.
Blühende Landschaften?
Von Ilka Wild und Carolin Wilms
Ilka Wild
Der Staatsakt zur Deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 sollte das Symbol der Wiedervereinigung werden. Mit einem Konzert in der Philharmonie Berlin, der bundesdeutschen Flagge über dem Reichstag und ökumenischem Gottesdienst: Nun ist der 3. Oktober der Nationalfeiertag der Deutschen.
Doch für viele Menschen, hüben wie drüben, hatte dieser Tag nur eine mäßige Bedeutung, dieses mehr oder weniger zufällig gewählte Datum konnte es nicht mit der Wucht des 9. November, dem Tag des Mauerfalls, und mit der Erwartung auf den 1. Juli, den Tag der Währungsunion aufnehmen.
Carolin Wilms
Ich habe die Nacht vom 2. auf den 3. Oktober 1990 auf dem Mahnmal der Deutschen Einheit – dem Deutschen Eck – in Koblenz erlebt, wo die zweitgrößte Feierlichkeit im Land – nach Berlin – stattfand. Durch einen Kontakt hatten eine Freundin und ich VIP-Karten bekommen und standen mäßig bewegt in einer dicht gedrängten Menge und schauten uns das Feuerwerk über der Festung Ehrenbreitstein an, die sich am gegenüberliegenden Rheinufer erhebt. Nationale oder patriotische Gefühle waren und sind mir fremd. Irgendwie kam mir der Gedanke, dass etwas Großes passierte, das ich in seinen Ausmaßen aber nicht begriff, mich aber gleichzeitig nicht sonderlich berührte. Während die Spider Murphy Gang am Fuß des Deutschen Ecks das Lied vom „Skandal im Sperrbezirk“ spielte, beschlich mich das Gefühl, dass ich eigentlich nicht im Ansatz eine Vorstellung davon hatte, was das für unsere schöne alte BRD bedeuten würde.
Auch für mich plätscherte dieser neblige Oktobertag vor sich hin, die Bewegtheit hielt sich in Grenzen. Die Monate zuvor hatten wir in einem Taumel der Gefühle erlebt, fast jeden Tag geschah etwas Neues – irgendwie war ich erschöpft von all dem, was in den letzten Wochen passiert war.
Vielen Ostdeutschen dämmerte es schon, dass die Veränderungen der letzten Wochen und Monate nicht nur Gutes bringen würden. Mit der Einführung der D-Mark konnten viele volkseigene Betriebe mit einem Schlag ihre Produkte nicht mehr bei ihren osteuropäischen Partnern absetzen, es war in erster Linie ein Devisenproblem.
Außerdem war die Treuhand bereits am Werk und begann, einen Betrieb nach dem anderen abzuwickeln. Also hatten bereits viele Ostdeutsche am 3. Oktober zwar die Deutsche Einheit, aber keinen Job mehr.
Doch wie viele andere hielt auch ich die Werksschließungen für ein kurzes, reinigendes Gewitter, danach würde es aufwärtsgehen für den Osten. Was dann kam, die schleichende Erkenntnis, dass die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe nicht von einem Tag auf den anderen zu beheben war, wurde bald für viele eine bittere Gewissheit. Langsam, aber stetig machte sich immer mehr Hoffnungslosigkeit breit. Im dritten Quartal 1991 hatte die Zahl der Erwerbstätigen um 2,23 Millionen, also um 25 Prozent abgenommen.
Trotzdem: Ende 1991 dachten noch viele in der DDR, dass alles besser werden würde. Es konnte ja auch nicht alles innerhalb von zwei Jahren perfekt werden. Man würde durchhalten. Man vertraute dem Westen, den Politikern und wünschte sich „blühende Landschaften“.
Ich glaube, eines der heutigen Grundprobleme zwischen Ost- und Westdeutschland stammt aus dieser Zeit: Dass diese Hoffnung, die Politiker wie Helmut Kohl bewusst aufgebaut hatten, und an die man auch selbst zu gern glauben wollte, zerstört wurde. Um Wählerstimmen im Osten zu gewinnen, wurden Dinge versprochen, die, bei Licht betrachtet, nie gehalten werden konnten. Die Ostdeutschen sind heute vielleicht skeptischer denn je, was Politiker, was die Demokratie insgesamt betrifft. Laut einer Allensbach-Studie aus dem Jahr 2019 sprechen sich fast 80 Prozent der Westdeutschen dafür aus, dass Demokratie die beste und erstrebenswerteste Staatsform ist; im Osten sind es nur 42 Prozent. Denn das neue System der echten Demokratie versprach insgesamt ein besseres Leben – nicht nur freiheitliche Grundrechte, sondern auch, materiell gesehen, ein gutes Leben. Das gehörte für die Ostdeutschen zusammen, hatte doch die Führung der DDR immer davon gesprochen, dass man nicht nur ideologisch das überlegene System hat, sondern auch die bessere Lebensqualität bringt. Dies konnte aber bis in die späten 1980er Jahre nicht eingelöst werden. Und so glaubten die Ostdeutschen gern den westdeutschen Politikern, die Freiheit UND Wohlstand versprachen.
Damals WOLLTEN auch viele Ostdeutsche die positiven Aussichten glauben, denn diese gab ihnen die Hoffnung, bald wirklich eins zu sein und gleiche Lebensverhältnisse wie im Westen zu haben. Stimmen, die sagten, dass es ca. 20, vielleicht 25 Jahre bis zur Angleichung dauern würde, empfand ich, sowie viele andere, als völlig unrealistisch. Kohls „blühende Landschaften“ waren uns da viel lieber.
Wir hatten keine Ahnung, welche Fehleinschätzung das war, sonst hätte man sich vielleicht viel mehr mit den Vorgängen beschäftigt, die an den Runden Tischen passierten – ganz ehrlich: Die meisten, so auch ich, probierten die neuen Möglichkeiten und Freiheiten aus. Man konnte reisen und einkaufen, was für ein (schnelles) Glück! Dafür wollte man sich auch gern beruflich umorientieren.
Dass über Alternativen zur ‚Angliederung‘ an die Bundesrepublik diskutiert wurde, bekamen wir am Rande mit, hielten das aber für unrealistisch.
Irgendwann würden sie kommen, die westdeutschen Unternehmen, würden Arbeitsplätze schaffen, so wie es die westdeutschen Politiker versprochen hatten. Und für mich traf auch genau das ein: Die ostdeutsche Staatsbank wurde in weiten Teilen Ostdeutschlands von der Deutschen Bank übernommen, ich bekam dort einen Ausbildungsplatz. Meine Azubi-Vergütung war um einiges höher als das Gehalt, das ich in so manchem Ost-Betrieb 1989 verdient hätte. Lebenswege wie meiner hätten die Regel sein sollen, leider waren sie eher die Ausnahme.
Viele andere in meinem Alter hatten keine andere Möglichkeit, als sich in den „alten Bundesländern“ nach Beschäftigung umzusehen. Dies führte zu einem regelrechten Exodus aus Ostdeutschland. Viele Städte verloren innerhalb weniger Jahre große Teile ihrer Bevölkerung. So lebten beispielsweise in Thüringen 1988 2,7 Millionen Menschen, zwei Jahre später waren es schon 100.000 weniger. 2017 hatte Thüringen nur noch 2,1 Millionen Einwohner und heute ist es noch eine halbe Million weniger. Die Tatsache, dass gerade wir jungen Leute abwanderten, verstärkte diesen Trend noch: Meine Heimatstadt Gotha musste zwischen 1989 und 2016 einen Bevölkerungsrückgang von fast einem Viertel verzeichnen. Die jungen Leute, die blieben, bekamen wegen der Unsicherheit der Lebensverhältnisse kaum Kinder, die Geburtenrate von 1985 bis 1995 sank auf die Hälfte. Heute ist die Überalterung hoch, in manchen Landkreisen, wie etwa in Altenburg, liegt die Seniorenquote bei einem Drittel.
Die Jahre kurz nach der Wende waren eine Zeit des „Wilden Ostens“: Kleinkriminalität bis zur organisierten Kriminalität, Radikalismus, eine wilde Party-Szene mit Drogen – damit waren die neu aufzubauenden Staatsorgane erstmal überfordert. In der DDR war wohl kaum ein Polizist jemals mit Mafia-Kriminellen oder harten Drogen und offen ausgetragenem Rechtsradikalismus konfrontiert worden, das war für die Exekutive plötzlich Neuland.
Neu war auch der Umgang mit der Marktwirtschaft im Kleinen. Durch den Mangel an Privat-Pkws in der Ex-DDR war die Nachfrage nach einem Familienauto groß. Doch viele Ostdeutsche konnten oder wollten sich keinen Neuwagen kaufen, also schossen Gebrauchtwagen-Märkte oder Läden von Gebrauchtwarenhändlern wie Pilze aus dem ostdeutschen Boden.
Ich arbeitete damals in der Automobilindustrie und die Absatzzahlen im Osten zeigten in unseren Verkaufsstatistiken ungeahnte und unbekannte Ausschläge nach oben. In den Folgejahren wurden die zunehmend schlechteren monatlichen Zahlen im Vergleich zu diesen Höchstständen immer mit dem „Ost-Effekt“ erklärt: Einmal und nie wieder!
Viele westdeutsche Glücksritter boten ihre Schrottkisten zu Höchstpreisen an, die Ostdeutschen kauften fast alles. Sie taten das zum Teil aus Leichtgläubigkeit, zum Teil daher, da man es ja gewohnt war, mit schadhaften Autos umzugehen, man reparierte es einfach. Dass dies bei modernen Autos westdeutscher Fabrikation weniger einfach war als bei einem simplen Auto wie einem Trabi, und dass die Autos oft überteuert waren im Vergleich zum Westen, dass bekamen viele Ossi erst später mit. Ähnlich war der Umgang mit Versicherungspolicen oder anderen Produkten, die an der Haustür verkauft wurden. Es war so einfach in dieser Zeit, den Ostdeutschen einfach alles zu verkaufen.
Die Erkenntnis kam vielen schnell, dass manche Westdeutsche nicht nur Gutes mit den Ostdeutschen im Sinn hatten. So wurde oft verallgemeinert: Die Wessis ziehen uns über den Tisch! Ein Freund aus dem Westen erzählte, dass der Kontakt zu seiner Familie im Osten, der während der deutsch-deutschen Trennung hielt, nach der Wende von ostdeutscher Seite plötzlich abgebrochen wurde, nachdem er wohlwollende Hilfe beim Kauf des Gebrauchtwagens oder der richtigen Versicherungen angeboten hatte. Woran das genau lang, kann er heute nicht sagen, aber ein Misstrauen allen Wessis gegenüber, auch aus der eigenen Familie, gab es oft, wenn auch häufig unberechtigt.
Doch der Osten brauchte Hilfe aus dem Westen, und das nicht nur finanziell: Behörden und Betriebe mussten aufgebaut, neue Strukturen mussten geschaffen werden. Das war sinnvoll und notwendig, gerade in den Bereichen Justiz, Bildung und Verwaltung.
Man versüßte vielen westdeutschen Mitarbeitern, die in den Osten gingen, ihren Wechsel mit einer sogenannten „Busch-Zulage“. Das waren finanzielle Anreize, die das Gehalt der entsandten Wessis erhöhte. Sie waren wie Expats im eigenen Land. Oft waren diese Mitarbeiter sehr motiviert und hilfsbereit, aber es gab auch eine große Anzahl von Westdeutschen, die sich aufspielten, ohne wirklich Fachleute zu sein, Führungskräfte aus der zweiten und dritten Reihe mit ungenügenden Kompetenzen für die teilweise sehr komplexen Anforderungen im neuen Umfeld, die das West-Unternehmen auf diese Weise im Osten „entsorgte“. Diese taten ihre Arbeit meist mit großem Selbstbewusstsein.
Der Aufbau Ost war auch in der Automobilindustrie ein großes Thema. Es mussten Vertriebsstrukturen durch Händlernetze eingerichtet werden. Ich selbst war für einige internationale Märkte zuständig, erinnere mich aber noch an meinen Kollegen, der mit mir das Büro teilte und den ostdeutschen Markt bearbeitete: Bei den Telefonaten prallten häufig nicht nur der schwäbische und der sächsische Dialekt aufeinander, sondern gleich zwei Welten. Mitunter beendete er die Telefonate milde lächelnd, es schienen sich Abgründe im Hinblick auf marktwirtschaftliches Verständnis aufgetan zu haben, die telefonisch nicht „gschwind“ zu beheben waren.
Der Terminus „Besserwessi“ entstand und wurde umgehend das Wort des Jahres 1991. Es gibt unzählige Geschichten über Besserwessis. Oft geht es darum, dass der Mitarbeiter oder Chef aus dem Westen zwar das Sagen und die vermeintlich besseren Ideen hat, der Ossi das Problem jedoch gewitzt und praktikabel anders löst. Und da fällt mir ein beliebter Witz aus diesen Zeiten ein: Warum sagen Wessis zu Ostdeutschen immer Ossis? Weil sie das Wort ‚Spezialist‘ nicht aussprechen können.
1995 bis heute: Der Osten wird ein neues Land
Von Ilka Wild und Carolin Wilms
Ilka Wild
Als die Treuhandanstalt Ende 1994 umbenannt wurde, hatten sich noch immer keine „blühenden Landschaften“ eingestellt. Im Gegenteil: Die Zeit bis 2005 kam mir als die schwerste Zeit Ostdeutschlands vor.
Viele Ost-Betriebe waren geschlossen worden, manche wurden von Investoren übernommen. Bei diesen Übernahmen gab es häufig eine regelrechte Mitnahme-Mentalität: Fördergelder wurden eingestrichen und nach dem Ende einer bestimmten Zwangsfrist wurde das Werk weiterverkauft oder doch endgültig geschlossen. Viele Fördergelder wanderten in Betriebsteile im Westen oder in die Tasche windiger Manager.
Aus wirtschaftlicher Sicht war der Osten für den Westen, besonders in den ersten Jahren, zunächst erstmal eines: ein neuer Absatzmarkt. Aber über die Tatsache hinaus, dass Gebrauchtwagen nach Jena oder Rostock geliefert wurden, hatten die meisten Mitarbeiter tief im Westen keinen Bezug zum neuen Absatzmarkt. Es sei denn, sie mussten in den Osten ausrücken, um Händlerstandorte zu finden oder Ersatzteillager aufzubauen. Viele wussten sicher nicht einmal genau, ob Rostock an der Küste oder im Erzgebirge lag.
Carolin Wilms
Ich hatte mir zu der Zeit lieber Guatemala, Costa Rica und Venezuela angeschaut, meine Eltern hingegen fuhren oft in den Osten. Mein Vater bekam einen neuen ostdeutschen Kollegen, der Russisch sprach. Seine Perspektive änderte sich mit der Wende vollständig, denn mein Vater hatte plötzlich beruflich mit Russland zu tun. Dies eröffnete ihm neue Einblicke: Er reiste nach Moskau und lernte über die beruflichen Kontakte Land und Leute kennen. Eine ungewöhnliche Annäherung.
Auch ich hatte beruflich viel mit Westdeutschen zu tun, aber in den ersten Jahren war es ein ständiges Kommen und Gehen. Für viele Westdeutsche war der Osten einfach noch nicht lebenswert genug. Die Wohnverhältnisse waren oft noch sehr schlecht, von wenigen Ausnahmen abgesehen. Somit war es eher eine Seltenheit, wenn sich eine westdeutsche Familie im Osten ansiedelte, was umgekehrt sehr häufig passierte: Die Abwanderungswelle aus dem Osten hielt an, erst im Jahr 2018 gab es einen Überhang von ca. 500 Personen, die vom Westen in den Osten zogen.
Um den Osten attraktiver zu machen und natürlich auch um Arbeitsplätze zu schaffen, initiierte man eine ganze Menge Infrastrukturprojekte. Wie lange eine Angleichung der Lebensverhältnisse wirklich dauert, und wie sich die Dinge in der Zwischenzeit entwickeln können, sieht man sehr anschaulich am größten Infrastrukturprojekt der Deutschen Bahn, VDE-8: Es brauchte 26 Jahre, von 1992 bis 2018, um Berlin und München mit der neuen ICE-Trasse zu verbinden. Die Strecke verläuft durch Brandenburg, Sachsen, Thüringen und Bayern. Somit braucht man zwischen Leipzig und München nur noch ca. drei Stunden. Leider wurde durch den Bau Jena, eine der wichtigsten Leuchtturmstädte im Osten mit vielen Technologiefirmen, vom direkten ICEVerkehr abgeschnitten, die Trasse verläuft über Erfurt. Dass sich Jena so gut entwickeln würde im Vergleich zu anderen Städten, hatte man bei der langfristigen Planung nicht abschätzen können.
Die Ungleichheit, die man untereinander verspürte, kam in Witzen oder in Satire zum Ausdruck. Während die Ossis sich über die arroganten Wessis Witze erzählten, kam im gesamtdeutschen Privatfernsehen immer mal wieder der unbedarfte, dümmliche Ossi mit schlechtem Geschmack und schrecklichem Dialekt vor: Ein berühmter TV-Komiker, dessen Scherze ausschließlich auf Kosten anderer funktionierte, vertonte Mitschnitte aus anderen Sendungen, unter anderem eine Hausfrau aus Sachsen, die sich bei einer TV-Gerichtsshow darüber aufregte, dass ihr Nachbar ihren Maschendrahtzaun beschädigt hatte. Die Aussprache verschiedener Wörter wurde in einen Liedtext eingefügt. Alles in allem lag der Witz darin, dass die Dame einen sehr breiten sächsischen Dialekt sprach. Ganz Deutschland lachte darüber, aber so platt der Witz war, einer beiderseitigen Annäherung von Ost und West war er sicherlich nicht dienlich.
Andere Formate und Protagonisten, von „Go, Trabbi, go“ bis Sachsen-Paule, bedienten das Klischee des kauzigen Ostdeutschen mit starkem Dialekt, der sich zwar nicht auskennt, aber sehr störrisch ist. Gleichzeitig verzichteten auch die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten im Rahmen einer Fernseh-Serie, dem gesamten Land ein Bild von Ostdeutschland zu vermitteln. Bis zum letzten Atemzug einer Person in der Nebenrolle musste die „Lindenstraße“ produziert werden, statt der ganzen Nation in diesem Format die Augen für die Lebenswelt im Osten zu öffnen. Aus heutiger Sicht ist das ein eklatantes Versäumnis der verantwortlichen Intendanten.
Für mich wie viele andere Ostdeutsche war dieses Bild sehr abstoßend, es spiegelte uns nicht wider, wir wollten damit nicht in Verbindung gebracht werden. Daher wollten viele Ossis sich nicht mehr outen, manche schämten sich für ihre Herkunft und verleugneten sie. Eine Bekannte aus Gotha, die 1990 nach Baden-Württemberg ging, kam zu Besuchen in ihrer Heimat mit einem so starken Schwäbisch zurück, dass man sie kaum verstand. Damit hatte sie ihre Integrationsfähigkeit im Schwäbischen auf die Spitze getrieben. Auch wenn diese Übertreibung bestimmt eine Ausnahme ist, die vielen Ostdeutschen im Westen wurden oft gar nicht mehr als solche wahrgenommen. Sie bauten sich ein Leben auf und waren in ihrer Lebensweise von vielen Wessis nicht mehr zu unterscheiden.
In Ostdeutschland wurde jedoch die Stimmung immer schlechter. Die fehlenden Perspektiven in vielen Gegenden und die damit verbundene Abwanderung der jungen, gut ausgebildeten Ostdeutschen war lähmend. Meine Eltern siedelten 2002 nach Baden-Württemberg über, unter anderem auch deshalb weil sie, nach eigener Aussage, die „Jammer- Ossis“ selbst nicht mehr ertragen konnten.
In den Jahren kam mir der Osten vor wie ein Heranwachsender, der erstmal ausreifen muss. Als es bei uns 2006 hieß, wir würden in den Osten ziehen, war mein erster Gedanke: „Muss das sein?“ Jammertäler in desolatem Baubestand hatte ich vor meinem inneren Auge. Vor der Unterzeichnung des Arbeitsvertrages fuhren wir auf dem Weg nach Berlin von der ehemaligen „Transitstrecke“ in Leipzig ab. Die „Einflugschneise“ von der A9 in Richtung Leipziger Innenstadt sah damals grausig aus: abgerockte leerstehende Häuser.
Andererseits empfand ich es als kleines Abenteuer, in diese neue Stadt im Osten zu ziehen, raus aus dem saturierten Westen, wo alles so war, wie es immer war.
Rückblickend war der Zeitpunkt ideal: Leipzig kam gerade aus der Talsohle raus und die Gesellschaft waren offen. Ich habe in kurzer Zeit die interessantesten Personen kennengelernt und unvergessliche Einblicke in verschiedene Lebens- und Berufswelten erhalten. Das wäre mir im Westen nie passiert, wo viele bereits ihren festen Bekanntenkreis haben und „Neuzugänge“ es schwer haben.
Die Koordinaten sind nun andere: Schnell nach Frankreich oder Holland fahren, ist jetzt mit einem deutlichen längeren Weg verbunden. Dafür haben wir Polen für uns entdeckt. Überhaupt haben wir unsere östlichen Nachbarländer erst mal kennengelernt und damit unseren Fokus insgesamt auf den Osten hinter dem Osten gerichtet. Das war und ist eine bereichernde Erfahrung für mich, deren Hemisphäre während meiner Kindheit 240 Kilometer weiter östlich endete.
In den folgenden Jahren verschwand das Thema Ostdeutschland immer mehr von der Bildfläche. Viele Ossis hatten selbst keine Lust mehr darauf, und im Westen war es noch nie ein umfassendes Thema gewesen, wenn es nicht gerade um aktuelle politische Themen ging. So gab man Sportspiele wie gewohnt an westdeutsche Sportstätten, man berichtete vom Oktoberfest, von der Hannover-Messe und der Kieler Woche. Dass es wenig über den Osten zu berichten gab und woran das lag, das hinterfragte im Westen niemand.
Im Osten begann, zunächst schleichend, eine offene Verklärung. „So schlimm war das doch gar nicht“, „Das kann man doch auf keinen Fall mit dem Dritten Reich vergleichen“, waren die ersten Sätze, die immer mal wieder kursierten, bis hin zu Statements von Ex-Stasi-Offizieren wie: „Die Stasi war ein ganz normaler Geheimdienst, wie jedes Land einen hat.“ Ein Höhepunkt der Verharmlosung und Rechtfertigung der Verbrechen, die vom DDR-Regime begangen wurden.