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Die Aufarbeitung im Osten konzentrierte sich auf die Stasi-Verbrechen. Die SED selbst in Form ihrer Nachfolgeorganisation PDS schaffte die Transformation in die neue Zeit und ist bis heute als Partei Die Linke im Bundestag und in vielen Landtagen vertreten, eine nennenswerte interne Aufarbeitung gab es nicht. Alte Funktionsträger, deren Verstrickungen nicht allzu offenkundig waren, bekleiden bis heute dort wichtige Posten, das gilt auch für Positionen außerhalb dieser Partei.
Die juristische Aufarbeitung der Stasi- und SED-Verbrechen fand sehr zögerlich statt. Von den ca. 100.000 Beschuldigten in ca. 75.000 Ermittlungsverfahren wurden nur 1.737 angeklagt, davon wurde rund die Hälfte verurteilt, kam aber zum größten Teil mit Geld- oder Bewährungsstrafen davon. Nur ca. 40 Personen wurden mit einer Haftstrafe belegt. Die Menschen im Osten stellten ernüchtert und resigniert fest, dass viele Verbrechen nicht bestraft wurden, dies stärkte den Glauben in das neue System nicht und verwässerte die Schwere der Taten der Vergangenheit. Marianne Birthler, zwischen 2000 und 2011 Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, formulierte treffend: „Wir wollten Freiheit und bekamen den deutschen Rechtsstaat.“
Wirtschaftlich gleichen sich nun die beiden Teile Deutschlands langsam an, zumindest in den sogenannten Leuchtturm-Regionen. Die Lebensverhältnisse verbessern sich, die Zufriedenheit wächst, obwohl die Menschen im Osten im Schnitt 24 Prozent weniger verdienen als ihre Kollegen im Westen. Die Sanierung ist in vielen Teilen abgeschlossen, mittlerweile werden wieder Arbeitskräfte gesucht, man spricht sogar schon von Fachkräfte-Mangel. Erstmals ziehen seit 2018 wieder mehr Menschen in die ostdeutschen Länder. Der Osten hat sein Schmuddel-Image etwas abgelegt, manche Regionen sind sogar überaus beliebt und hip. Die Bezeichnung Hypezig für die Stadt Leipzig sagt alles: Die Suchscheinwerfer der Trendscouts haben seit ein paar Jahren die großen Städte des Ostens für sich entdeckt. Viele ostdeutsche Städte wirken moderner und schicker als so manche westdeutsche Stadt.
Erinnerungskulturen
Von Carolin Wilms und llka Wild
Carolin Wilms
Denke ich an meine Kindheit, denke ich auch an Geschichten vom Krieg. Geschichten, die mir meine beiden Omas erzählt haben. Die eine erzählte gute Geschichten. Die andere erzählte gerne Geschichten. Ich brauchte nur zu sagen „Oma, erzähl doch mal vom Krieg“, dann nahm sie mich in den Arm und mein Blick richtete sich gen Zimmerdecke und ich bebilderte vor meinem inneren Auge die Szenen mit Episoden aus Fernsehfilmen: Mit Ausschnitten von „Michel aus Lönneberga“ entstanden in meinem Kopf Bilder, die zu den Geschichten meiner Lieblingsoma gehörten, in denen immer wieder das Milchkannen-tragende Mädchen Rosemarie mit stramm geflochtenen Zöpfen und Kittelschürze vorkam.
Mit Sequenzen aus Indianerfilmen stellte ich mir die Flucht meiner Großmutter vor der Roten Armee vor. Mir kamen Pferdefuhrwerke aufregend romantisch vor und ich stellte Fragen nach Zaumzeug und Reitstiefeln. Die wahre Dramatik, die dahinterlag, hatte sich mir als Kind nicht erschlossen – wie sollte ich mich auch in eine Diktatur und in einen Krieg hineindenken? Die entsprechende Einordnung und Fakten zum Zweiten Weltkrieg habe ich später in der Schule gelernt.
Ilka Wild
In meiner Kindheit wurde wenig über die Zeit des Krieges gesprochen. Mein Opa väterlicherseits war Sanitäter, wurde mir erzählt; in einem alten Fotoalbum sah ich ihn in Wehrmachts-Uniform mit den untrüglichen Insignien der Nazis. Er hatte eine schwere Lungenverletzung davongetragen und litt unter den Spätfolgen bis zu seinem Tod. Über seine Krankheit wurde ab und zu geredet, sonst jedoch war die Nazi-Zeit Tabu. Schließlich war diese Zeit Dauerthema in der Schule, das Wort „Antifaschismus“ hörten wir dort täglich. Die Schule hatte das Monopol an der Geschichts- Deutung des Dritten Reiches, da war wenig Platz für persönliche Geschichten. Und mit Kindern wurde darüber erst gar nicht gesprochen. Erst viel später, als ich mich als Erwachsene für meine Familiengeschichte interessierte, erfuhr ich mehr darüber.
In meiner Kindheit Anfang der 1970er Jahre waren Kriegsgeschichten allgegenwärtig. Ich hatte Zeitzeugen um mich, die das Schicksal zwar halbwegs verschont hatte, die aber die verlorenen Menschen und Jahre betrauerten.
Solche Hintergrundmusik prägt. Die erdachten Bilder brannten sich in mein Gedächtnis.
Nun hinkt der Vergleich der beiden deutschen Diktaturen in vielerlei Hinsicht. Dennoch frage ich mich heute, warum ich für die Geschichten meiner Großeltern mehr Interesse entwickeln konnte als für die DDR. Vielleicht, weil meine eigene Familie nicht betroffen war und ich niemanden aus der DDR kannte. Man könnte einwenden, dass ich mich trotzdem dafür hätte interessieren können, da es immerhin meine Gegenwart und mein Land war. Stimmt! Aber „tief im Westen“ – wie Herbert Grönemeyer in seinem Lied „Bochum“ grölt – strahlte die DDR nicht aus.
Sah man aber genau hin, kam die DDR an einigen Orten im Westen doch vor: Man hatte etwa den Straßen des Koblenzer Neubauviertels, in dem ich groß wurde, ausschließlich Namen ostdeutscher Städte gegeben (erst wohnte ich kurioserweise in der Leipziger Straße). Auf diese Weise sollten wohl die Menschen im Westen wenigstens diese Orte im Osten in Erinnerung behalten und Nachgeborene sie zumindest namentlich kennen.
Das führte dazu, dass ich, als ich später in den Osten zog, die dortigen Städtenamen ausschließlich mit meinen früheren Schulkameraden in Verbindung brachte, die in Koblenz etwa in der Zwickauer oder Magdeburger Straße gewohnt hatten. Einen anderen Bezug hatte ich zu den Städten bis dahin nicht hergestellt.
Im Osten jedoch schaute man permanent auf den Westen. Er war unsere Referenz für ein besseres Leben, auch wenn man dies nicht offen sagen durfte. Jeder wusste, wo Köln, Hamburg oder München lag, zumindest von der Wetterkarte der Tagesschau: Wir schauten (heimlich) Westfernsehen und fühlten uns bestens informiert über die Bundesrepublik. Und bundesdeutsche Fernsehserien brachten uns All-tags-Geschichten: Wir fieberten mit den Drombuschs, den Schumanns, den Ärzten der Schwarzwaldklinik und den Bewohnern der „Lindenstraße“.
Wir hatten keine Familie im Osten, die wir hätten besuchen oder der wir Pakete zu Weihnachten hätten schicken können, im Gegensatz zu vielen anderen Menschen in der BRD. Vor Kurzem las ich, dass allein im Jahr 1988 fast 28 Millionen solcher Postsendungen registriert wurden, mit einem geschätzten Gesamtwert von mehr als fünf Milliarden DDR-Mark. Freunde von mir bekamen von ihrem Onkel aus der DDR Listen mit Dingen, die er brauchte: darunter auch Jacobs Kaffee. Nun trank seine eigene Familie aus Kostengründen ausschließlich Aldi-Kaffee, schickte aber über Jahrzehnte die gewünschte Marke.
So erreichen die heutige Generation von Kindern völlig unterschiedliche Narrative. Meine von West-Eltern erzogenen, allerdings im Osten aufgewachsenen Kinder kennen den entsprechenden Schulstoff zur deutsch-deutschen Teilung, haben mit uns brav Gedenkstätten besucht, die die „Macht und Banalität“ der Stasi etwa in Leipzigs „Runder Ecke“ zeigt, aber eigene Geschichten konnte ich ihnen kaum erzählen. Lediglich beim Passieren der früheren innerdeutschen Grenze auf der A4, erwähne ich jedes Mal, dass früher an dieser Stelle unsere Welt aufgehört hatte. Denn meine einzige Erfahrung mit der DDR beschränkt sich auf eine organisierte Reise durch Sachsen, zu der mich meine Mutter im Jahr 1986 angemeldet hatte und bei der ich alles merkwürdig verkrampft und grau gefunden hatte.
Mein Sohn wird mit ganz anderen Geschichten groß. Mein Mann und ich erzählen ihm von den beiden Deutschlands. Auch seine Großeltern fingen schon im Vorschulalter damit an, so kindgerecht wie möglich auf sein Interesse und seine Nachfragen einzugehen. „Bei uns im Land war ne Mauer?“, fragte er dann. Es erschien ihm unglaublich.
Andere Familien haben positive Erinnerungen an die Zeit in der DDR, wie eine entfernte Verwandte von mir, die es bei der NVA weit gebracht hatte und im wiedervereinigten Deutschland beruflich nicht mehr auf die Füße gekommen ist. „Früher ging es mir besser“, heißt es dann beim runden Geburtstag. Meine Eltern und deren Freunde haben schlechte Erinnerungen an die DDR, als sie mit ihrem Wanderverein Anträge stellen mussten, um mit ihrer Gruppe in den Ferien selbst im sozialistischen Ausland wandern zu gehen. Die Eliten hatten ihre Privilegien, aber die normalen Leute – zumal in Gruppen – wurden in ihren bürgerlichen Rechten beschnitten und mussten dem Eindruck vorbeugen, keine Republikflüchtlinge zu sein.
Viele meiner engen Freunde, selbst meine Schwester sind vor und nach dem Mauerfall „in den Westen gegangen“. Falls sie geblieben sind, und das gilt für den überwiegenden Teil, haben sie im Westen eine neue Heimat gefunden, die nie zur DDR gehört hat. Folglich werden sie vor Ort nicht mit den Anpassungsschwierigkeiten konfrontiert, die es im Osten gibt. Wenn sie über den Osten reden, geht es meist um die DDR-Zeit. Nur bei Telefonaten mit den Verwanden im Osten oder bei Besuchen in der alten Heimat werden sie mit dem Wandel konfrontiert. Aber im Alltag steht das Ost-West-Thema nicht ständig auf dem Plan. Natürlich interessieren sich die Ex-Ossis noch für ihre alte Heimat, aber sie ist weit weg. Manche sprechen mit den eigenen Kindern darüber, wie sie aufgewachsen sind, andere nicht. Die Kinder selbst interessieren sich genauso viel für den Osten wie andere westdeutsche Kinder auch. Aber der Systemwechsel ist am Küchentisch nicht das bestimmende Thema wie bei vielen Familien im Osten. So kann es sein, dass die Familien-Geschichten aus dem Osten selbst in diesen Ost-Familien verblassen.
Der fundamentalen, kollektiven Erfahrung des Systemzusammenbruchs der Ostdeutschen steht auf westdeutscher Seite nichts Vergleichbares gegenüber. Die meisten haben nicht den Hauch einer Ahnung, was das Leben in einer Diktatur und der Umbruch für die Menschen im Osten bedeutet hat. So nimmt es auch nicht Wunder, dass sie der Gedanke schmerzt, dass sich viele Westdeutsche nicht dafür interessiert haben und dies teilweise bis heute nicht tun.
Die Erfahrung, die wir Ostdeutschen mit der friedlichen Selbstbefreiung, dem Zusammenbruch des Staates und unserer Welt gemacht haben, ist wie eine Klammer, die uns verbindet, egal ob wir den Wandel in der Form begrüßt oder abgelehnt haben. Diese Erfahrung haben wir den Westdeutschen voraus, die dabei nur die Zaungäste sein konnten.
Uns Ostdeutsche macht diese Erfahrung reicher, so schmerzhaft sie teilweise auch gewesen sein mag. Wir haben gelernt, dass man auch das überleben kann. Die Zeit in der Diktatur hat unsere Sinne geschärft. Diesen Spürsinn hat man im Westen nicht entwickeln können.
An den Gedenktagen zur deutschen Einheit ist eine gelungene Balance für eine gemeinschaftsstiftende Erinnerungskultur nicht einfach. Das „Lichtfest“ in Leipzig etwa erinnert jedes Jahr daran, dass die große Montags-Demonstration vom 9. Oktober 1989 mit etwa 80.000 Teilnehmern als bedeutsamer Wegbereiter für den Mauerfall nicht vergessen werden darf. Zum 25. Jahrestag habe ich erlebt, wie die Menschen ruhig, ein wenig in sich gekehrt und stolz auf ihre Selbstbefreiung den historischen Demonstrationsweg rund um den Leipziger Innenstadtring gegangen sind. Ich finde es wichtig, den Mut und friedlichen Widerstand der Menschen zu würdigen, die ihre Rechte einklagten und mit der Deutungshoheit einer solchen Veranstaltung diejenigen in die Schranken zu weisen, die heute versuchen, die DDR zu verklären.
Gerade die jungen Menschen, die die 1.400 Kilometer lange Grenze nur vom Hörensagen kennen, müssen eine Einordnung mit Fakten zu diesem Teil der deutschen Geschichte zumindest in der Schule erhalten, damit sie ihr Wissen nicht nur aus familiären Überlieferungen speisen. Eine Untersuchung der Lehrpläne durch die Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) aus dem Jahr 2016 hat ergeben, dass dieser Teil der Geschichte zumindest in allen Schularten abgedeckt ist. Allerdings zeigt eine weitere Analyse der Geschichtsbücher aus dem Jahr 2006, „dass die DDR-Geschichte innerhalb der deutschen Nachkriegsgeschichte nur eine untergeordnete Rolle spielt und nur selten eine vergleichende Betrachtung von DDR und Bundesrepublik stattfindet“, so der Bericht der KAS. Dieser schließt zudem mit dem Fazit einer nicht repräsentativen deutschlandweiten Lehrerbefragung, dass dieses Thema oft aus Zeitgründen nicht mehr behandelt werden kann.
Und der eigene Augenschein ist nicht nur für Journalisten unverzichtbar: Obwohl die DDR in die Museen verbannt wurde, können auch durch Zeitzeugen-Gespräche und Schüleraustausch-Programme eindrückliche Einblicke vor Ort gewonnen werden, wie etwa im Dorf Mödlareuth in Thüringen, wo die innerdeutsche Mauer mittendurch führte, oder in der Gedenkstätte des Staatssicherheitsgefängnisses Berlin-Hohenschönhausen.
Einerseits sind Familiengeschichten durch die Glaubwürdigkeit und den Bezug zum Familienmitglied durch nichts zu ersetzen, andererseits müssen diese persönlichen Erfahrungen unbedingt durch Fakten in staatlichen Institutionen relativiert werden, denn anders als in West-Deutschland, wo die Demokratie mit dem langsam zunehmenden Wohlstand in den 1950er Jahren Hand in Hand ging, hielt sie in den 1990er Jahren im Osten häufig mit Arbeitsplatzverlust Einzug. Damit nichts durcheinanderkommt, ist ausreichender (Zeit-)Geschichtsunterricht und politische Bildung für die Erinnerungskultur unerlässlich; wie der Friedensnobelpreisträger und Überlebende der Shoa Elie Wiesel darauf hingewiesen hat, sei es wichtig, die Beschäftigung mit Vergangenem mit der Gestaltung einer demokratischen und friedlichen Zukunft zu verbinden: „Es ist falsch, von der Vergangenheit zu reden, wenn man nicht in der Zukunft handelt.“
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