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Auf der Suche nach bekannten Gesichtern ließ er seinen Blick durch die Menge schweifen. Dort drüben unterhielt sich Schlichting, der Zunftmeister der Bäcker, mit Schreinermeister Stamitz. Etwas abseits von ihnen war der Apotheker Sterzing ins Gespräch mit dem Stadtarzt vertieft. Simons Herz machte einen kleinen Sprung, als er Julias schwarze Locken entdeckte. Sie stand neben ihrer Mutter zur Rechten ihres Vaters. Dieses Mädchen war etwas Besonderes, ganz anders als die Gören in seiner Nachbarschaft. Plötzlich trafen sich ihre Blicke, und, als sie ihn erkannte, huschte über Julias Gesicht ein Lächeln. Er hob die Hand und winkte ihr zu, doch sie kehrte ihm den Rücken und war mit einem Mal nicht mehr zu sehen. Enttäuscht wandte er sich ab und heftete den Blick auf das Hauptportal. So allmählich könnten die Domherren sich einig werden, wen sie in den Rang eines Fürstbischofs erhoben.
Als ob seine stumme Bitte erhört worden war, erklang ein dreimaliges Pochen aus dem Dominneren. Das Stimmengewirr der Menge ebbte ab, alle Köpfe richteten sich auf das Portal. Das Tor öffnete sich und heraus traten zwei Domherren. Einer davon war Erasmus Neustetter, auf den viele gewettet hatten. Nun, sie hatten sich offenbar getäuscht.
»Der Fürstbischof von Würzburg wurde erwählt. Preiset den Herrn. Von Stund an ist unser geschätzter Domdekan Julius Echter von Mespelbrunn euer und unser Herr. Gelobt sei der Herr.«
Verblüffung machte sich breit, nur vereinzelt erhoben sich Jubelschreie. Simon wusste mit dem Namen nichts anzufangen. Gespannt lauschte er den Gesprächen in seiner Nähe.
»Sie haben den Domdekan gewählt? Der ist doch noch so jung. Ist er überhaupt in der Lage, das fürstbischöfliche Amt zu vertreten?«
»Echter soll sehr gelehrt sein, trotz seiner jungen Jahre.«
»Trotzdem. Wie kommen die Domherren dazu, solch ein Jüngelchen zu wählen? Echter zählt keine dreißig Lenze.«
»Frag den Herzog von Bayern, der hat sicher seine Finger im Spiel. Albrecht ist ein strenger Verfechter des alten Glaubens, die Protestanten sind ihm schon lange ein Dorn im Auge. Echter, dem man nachsagt, er sei ein Gegner der Reformation, ist damit für Herzog Albrecht genau der Richtige auf dem Bischofsstuhl. Außerdem wird gemunkelt, Echters Vater sei mit dem Bayern gut bekannt.«
»Wir können uns alle darauf gefasst machen, dass sich viel verändern wird.«
»Zum Guten oder zum Schlechten?«
»Das kommt darauf an. Wenn sich Mönche, Nonnen und Priester wieder mehr auf ihre Gelübde besinnen, anstatt zu huren und zu saufen, ist das nicht das Schlechteste. Ob der Friede in der Stadt gewahrt wird, wenn der neue Fürstbischof die Protestanten, wie der Bayernherzog die Juden, aus der Stadt und dem ganzen Hochstift vertreibt und damit Geld, Handel und Handwerker verlustig gehen, ist das wohl eher zu unser aller Schaden.«
»Düstere Aussichten. Kein Würfelspiel, keine Besäufnisse, keine Hurerei. Alles, was das Leben etwas bunter macht, wird von einem wie Echter ausgemerzt werden.«
Plötzlich setzte Domglockengeläut ein. Der Augenblick war gekommen, da sich der neue Fürstbischof in vollem Ornat seinem Volk zeigte. Die Glocken verstummten und Posaunen ertönten. Als wäre der Herrgott selbst mit der Wahl zufrieden, riss die graue Wolkendecke auf, und die Sonne sandte ihre Strahlen herab auf Julius Echter von Mespelbrunn, der just in diesem Augenblick vor die Menge trat. Sein mit Perlen besetzter und mit Gold- und Silberfäden durchzogener Chormantel funkelte im Sonnenlicht, die Reliefstickereien, die das Gewand zierten, eine meisterliche Kunst der Seidensticker. Es schien, als ob die fein gearbeiteten, farbenprächtigen Figuren darauf gleich zum Leben erweckt würden.
Julius Echter hob seinen Bischofsstab und klopfte damit auf die Stufe, auf der er stand. Die Menge sank zu Boden, kniete vor dem Mann mit dem schmalen, scharf geschnittenen Gesicht.
»In nomine Patris et Filii et Spiritus Sancti. Amen«, rief er mit klarer Stimme.
»Amen«, scholl es aus der Menge.
Der Fürstbischof schritt die Stufen hinab, ihm entgegen kam der Dompropst mit dem fränkischen Herzogsschwert. Echter gürtete sich selbst das Zeichen der weltlichen Gewalt um. Das kostbare Schwert, dessen Parierstange reich mit Edelsteinen besetzt war, steckte in einer Scheide mit goldgetriebenem Rankenmuster. In dem sich windenden Blattwerk tummelten sich Tiere und Fabelwesen. Wie auch bei den Reliefstickereien des Chormantels war hier ein wahrer Meister zu Werke gewesen.
Echters Schimmel wurde herbeigeführt. Zaumzeug und Sattel waren poliert und glänzten mit den Goldfäden des Bischofsmantels um die Wette. Geschmeidig schwang sich der Fürstbischof auf den Rücken des edlen Tieres und ritt durch die Menge, gefolgt von den hohen Herren, die ihn hinauf zur Burg begleiteten. Dort oben über der Stadt, mit Blick auf den Main und die umliegenden Weinberge, würde er ab jetzt residieren. Echter zügelte sein Pferd, sah auf die Menschen herab und segnete sie ein weiteres Mal.
Eine zarte Hand schob sich plötzlich in Simons Linke. Verblüfft wandte er den Kopf. Er war von der bischöflichen Pracht so gefangen gewesen, ohne zu bemerken, dass Julia sich zu ihm gesellt hatte. Für einen Augenblick hatte er gar das Gefühl gehabt, der Fürstbischof hätte ihm tief in die Augen gesehen und seine Seele berührt. Doch das war sicher nur Einbildung gewesen.
»Er sieht wahrlich fürstlich aus, findest du nicht?«
»Doch. Erhaben und unnahbar«, erwiderte Simon und genoss es, ihre Hand zu halten.
»Wollen wir der Menge bis hinauf zur Burg folgen?«, fragte sie.
»Ich weiß nicht. Eigentlich sollte ich nach meiner Mutter sehen. Und du? Musst du nicht zu deiner Familie?«
Sie schüttelte den Kopf. »Meine Eltern mögen dich offenbar und vertrauen dir. Schließlich hat mein Vater für dich gebürgt, wie ich erfahren habe. Warum hast du das nicht erzählt? Ist ja auch gleich, jedenfalls habe ich gesagt, du begleitest mich bis zur Außenmauer und wieder nach Hause, und sie waren einverstanden.« Auf ihrem Gesicht lag ein spitzbübisches Grinsen.
»Du bist ein wahrer Schelm, Julia«, entgegnete Simon lachend. »Gut, lass uns gehen. Ich war noch nie dort oben.«
Sie hatten die Hälfte des steilen Anstiegs bewältigt und blieben einen Moment stehen. Noch immer hielten sie sich an den Händen. Es war wie ein Zauber. Ihnen zu Füßen breitete sich die Stadt aus. Über die einzige Brücke, die den Main mit ihren acht steinernen Bögen überspannte, eilten jede Menge Menschen, oder sie drängten sich an den Verkaufsständen. Dazwischen mühten sich Fuhrwerke voran, um von einem Ufer zum anderen zu gelangen. Die Wasser des Flusses glichen einem breiten glitzernden Band.
»Wie schön muss es hier erst im Frühling sein, wenn alles blüht«, entfuhr es Simon, der sich an dem Anblick nicht sattsehen konnte.
»Hier steckst du also«, herrschte eine raue Männerstimme ihn an.
Simon fuhr herum, ließ Julias Hand los und sah sich seinem Stiefvater gegenüber. Hinter diesem stand Wulf mit vor Anstrengung gerötetem Gesicht und schnaufte.
»Warum bist du nicht längst zu Hause und kümmerst dich um deine kranke Mutter? Stattdessen treibt sich der junge Herr herum«, fuhr Bernbeck fort.
»Es geht ihr besser, wie du weißt. Außerdem ist die Magd da, falls meine Mutter etwas braucht«, erwiderte Simon trotzig.
»Widersprich mir nicht! Du gehst jetzt auf der Stelle nach Hause. Auch in der Backstube gibt es zu tun.«
»Ich werde zuerst Julia begleiten.«
»Wulf kann das machen. Du kommst jetzt mit mir.«
Melchior Bernbeck packte Simon am Arm, seinen Zorn nur mühsam unterdrückend, und zerrte ihn den Hang hinunter.
»Meister Bernbeck«, rief Julia, »so haltet ein! Es ist meine Schuld, dass Simon hier ist. Er wollte zu seiner Mutter, aber ich habe ihn überredet.«
»Lass gut sein, Mädchen«, entgegnete Bernbeck unwirsch. »Geh mit meinem Sohn.«
»Ich will aber, dass Simon mich begleitet. Mein Vater ist der Apotheker Sterzing, nur damit Ihr’s wisst.«
Julia legte die Stirn in Falten und sah den Bäckermeister finster an, die Arme in die Hüften gestemmt. Simon war hingerissen. Was für ein mutiges Ding sie war.
»Was fällt dir ein, mir zu widersprechen, du rotzfreches, eingebildetes Gör! Du wirst jetzt tun, was ich sage!«
Doch Julia blieb bockig. »Sonst?«
»Sonst kannst du allein durch die Stadt gehen. Das wird dir nicht gefallen, bei all dem Gesindel in den Gassen.«
Stur schüttelte sie den Kopf.
Wulf nahm sie am Arm, auch ihm schien das Mädchen mit den schwarzen Haaren außerordentlich gut zu gefallen.
»Nun komm schon, übertreib es nicht. Ich bringe dich nach Hause.«
Sie versuchte, ihn abzuschütteln.
»Wenn du nicht augenblicklich mitkommst, dann werde ich dafür sorgen, dass Simon es noch bitter bereuen wird, mit dir gegangen zu sein«, raunte Wulf ihr ins Ohr.
Julias Widerstand erlahmte. Sie warf Simon einen bedauernden Blick zu und folgte Wulf, der nun ihren Arm freigab.
Kaum waren sie außer Sichtweite, versetzte Bernbeck seinem Stiefsohn eine schallende Ohrfeige.
»Wag es nie wieder, dich mir zu widersetzen. Hast du verstanden?«
Simons Wange brannte, von seiner aufgeplatzten Lippe rann warmes Blut, das er mit dem Handrücken abwischte. Er hasste diesen Mann und seinen Sohn. Doch sein Entschluss stand fest. Er würde die Zähne zusammenbeißen und die drei Jahre Lehrzeit hinter sich bringen. Der Tag seiner Freisprechung würde der letzte sein, den er in Würzburg zu verbringen gedachte.
1574
Würzburg
Das neue Jahr war gerade erst wenige Monate alt, da bereuten bereits einige der Domherren, ihre Stimme Julius Echter gegeben zu haben. Solch einen sittenstrengen Fürstbischof hatten sie nun doch nicht haben wollen, ebenso wenig wie der Großteil der Würzburger. Anhänger des alten Glaubens und Protestanten lebten bislang gut und vergnügt miteinander. Warum sollte sich das ändern? Der Mensch war nicht dafür gemacht, sich die wenigen Lustbarkeiten, die das ohnehin schon harte Leben zu bieten hatte, zu versagen. Immer mehr bekannten sich sowieso zum lutherischen Glauben. Und wen störte es, wenn Mönche und Nonnen beieinanderlagen und Priester und Domherren sich Mätressen hielten? Außer dem neuen Fürstbischof offenbar niemanden.
Julius Echter war zwar gewählt worden, aber bestätigt durch den Papst und den Kaiser war die Wahl bisher nicht. Auch seine Priesterweihe hatte er noch nicht empfangen. Manche Hoffnung ruhte auf dem jetzigen Kaiser, denn Maximilian II. war dem Protestantismus nicht abgeneigt. Ganz anders als seine Vorgänger, sein Onkel Karl und sein Vater Ferdinand. Sollte Kaiser Maximilian tatsächlich zum neuen Glauben übertreten, konnte Julius Echter mit dessen Zustimmung nicht rechnen. Sicher, Papst Gregor würde Echter bestätigen, doch was, wenn der Kaiser sie ihm versagte? Dann besäße Echter nur die geistliche Macht in Würzburg, aber nicht die weltliche. Was würde dann geschehen?
Simon kümmerte es nicht, wer das Hochstift nun regierte. Seine Tage bestanden aus Arbeit, Arbeit und Arbeit und der Erduldung von Wulfs Bösartigkeiten. Kaum ein Tag verging, an dem Wulf nicht irgendetwas ausheckte, um Simon das Leben so schwer wie möglich zu machen oder, was er am liebsten tat, die Schuld, wenn etwas schiefgegangen war, auf ihn zu schieben. Simons Mutter hörte kaum hin, wenn er sich bei ihr über seinen Stiefbruder beschwerte. Seit Jahresbeginn schlief er in einer Ecke des Lagerhauses, nachdem Melchior darauf bestanden hatte, Simon solle sich das Zimmer mit Wulf teilen, damit die beiden Mädchen in einer Kammer schlafen konnten.
Wortlos hatte er Strohmatratze, Decke und Kissen genommen, war in den angrenzenden Hof gegangen und hatte sich im Lager eingerichtet. Anna hatte ihn angefleht, es doch mit Wulf zu versuchen, und dabei sogar ein paar Tränen vergossen.
»Simon, kannst du auch einmal an mich denken? Ich bin zu jung, um bis an mein Lebensende ein Witwendasein zu führen, deshalb habe ich wieder geheiratet. Melchior ist ein guter und angesehener Mann, wir hätten es schlechter treffen können. Er behandelt Barbara und dich wie sein eigen Fleisch und Blut, ich verstehe nicht, was du gegen ihn hast.«
Ihre Worte hatten ihn nur verächtlich auflachen lassen.
»Lass gut sein, Mutter. Lieber schlafe ich bei den Eseln, als mit Wulf eine Kammer zu teilen.«
Die Turmuhr schlug dreimal. Simon rieb sich den Schlaf aus den Augen und schälte sich aus seiner Decke. Er stieg in seine Kleidung, ging nach draußen zum Brunnen und wusch sich das Gesicht. Das eiskalte Wasser vertrieb die Müdigkeit, und er fröstelte.
Heute mussten sie noch mehr Brote backen als sonst, denn Fürstbischof Julius hatte Gesandte geladen, die er nach Rom schicken wollte, um die Bestätigung seiner Wahl durch den Papst zu erhalten. Am morgigen Abend würde auf der Burg ein fürstliches Bankett für die Gesandten, Domdekan Neidhart von Thüngen, Chorherr Georg Fischer vom Stift Neumünster und alle Domherren stattfinden. Eine stattliche Anzahl von sechsundfünfzig Männern, die zu verköstigen der Koch und seine Gehilfen allein nicht bewältigen konnten. Daher war die Order ergangen, ein Bäcker aus der Stadt sollte zusätzliches Brot backen. Die Zunft hatte das Los entscheiden lassen, wer den fürstbischöflichen Auftrag erhalten möge, und Bernbeck war der glückliche Gewinner gewesen.
Vor einigen Tagen war Simon zur Brauerei gegangen, um sich Hefe zu besorgen. Eigentlich war es Wulfs Aufgabe, doch dieser hatte sich einmal mehr davor gedrückt. Ächzend hob er einen Sack Roggenmehl an und verteilte einen Teil des Inhalts auf mehrere hölzerne Wannen. Die Hefe, die er mit Sauerteig und Wasser vermischen wollte, gab er in eine Schüssel.
»Verdammt, Wulf, wo ist der Sauerteig?«, fluchte er leise vor sich hin und sah sich suchend um.
»Redest du mit mir?« Wulf stand plötzlich in der Backstube. Die Arme vor dem Körper verschränkt lehnte er am Durchgang zum Hof.
»Ja. Wo ist der Sauerteigansatz? Ich brauche ihn, um den Teig fertigzustellen.«
»Hab ich gestern aufgebraucht«, erwiderte Wulf leichthin.
»Bist du noch bei Trost? Wieso hast du einen Teil davon nicht weitergezüchtet? Es dauert Tage, bis wir wieder einen Sauerteig haben!«
»Hüte deine Zunge, Schwachkopf, es geht auch ohne Sauerteig. Los, bring Wasser!«, zischte Wulf und gab Salz und Hefe in die Holzwannen.
»Du kannst das Wasser selbst holen. Ich gehe zu Meister Wachter und werde ihn um Sauerteig anbetteln.« Simon riss sich die Schürze vom Leib und stürzte aus der Tür.
»Was fällt dir ein?«, schrie Wulf wütend hinter ihm her, doch Simon kümmerte es nicht.
Um zum zweiten Zunftmeister, Robert Wachter, zu kommen, musste er fast die ganze Stadt durchqueren. Keuchend rannte er durch die noch dunklen Gassen, wich einer zwielichtigen Gestalt aus, die nach ihm griff, und erreichte schließlich schwitzend und mit rasendem Herzschlag Wachters Backstube. Der Meister und sein Geselle kneteten die Teige in den Wannen und sahen erstaunt auf, als plötzlich Simon auftauchte.
»Meister Wachter, Ihr müsst mir helfen!«
»Dein Benehmen lässt zu wünschen übrig. Solltest du uns nicht zunächst begrüßen?«, spottete der Geselle gutmütig.
»Verzeiht, natürlich, Gott zum Gruße, verehrter Zunftmeister und Geselle Jörg«, antwortete Simon mit hochrotem Kopf.
»Schon gut, Junge. Was treibt dich um diese Zeit zu uns?«, brummte Wachter, ohne seine Arbeit zu unterbrechen.
»Könnt Ihr mir mit etwas Sauerteig aushelfen?«
Wachter runzelte die Stirn. »Wie kann es sein, dass in Bernbecks Backstube kein Sauerteig vorhanden ist? Hast du ihn etwa ausgehen lassen? Du bist schon lang genug dabei, um zu wissen, dass dies nicht geschehen sollte. Dein Meister sollte dir die Ohren lang ziehen.«
»Es war nicht meine Schuld. Könnt Ihr mir nun aushelfen oder nicht?« Er klang patzig.
»Jörg, gib ihm etwas Sauerteig. Und du, Simon Reber, bist nur ein Lehrjunge und solltest es in Zukunft nicht an Höflichkeit und Respekt fehlen lassen. Hast du mich verstanden?«
Der Geselle reichte Simon eine kleine irdene Schale gefüllt mit Sauerteig.
»Ja, Meister. Und habt Dank.« Er wandte sich zum Gehen, doch Wachter hielt ihn auf.
»Wenn es nicht deine Schuld war, wie du sagst, wessen war es dann?«
Simon blieb stumm. An seiner Statt antwortete Jörg.
»Es war Wulf, Melchiors Sohn, nicht wahr?«
Das darauffolgende Schweigen war Antwort genug.
»Nun geh schon«, entließ ihn der Zunftmeister seufzend.
Als Simon zurück zu Bernbecks Haus kam, empfing ihn sein Stiefvater mit einer Ohrfeige und riss ihm die Schale aus der Hand. »Wie oft hab ich dir eingebläut, dass der Sauerteig immer weitergezüchtet werden muss.«
Wulf stand feixend daneben, nahm seinem Vater das Gefäß ab und verschwand in der Backstube.
»Hast du nichts zu sagen?«
Simon schüttelte den Kopf. Melchior würde die Wahrheit nicht hören wollen und sicher auch nicht glauben.
»Zur Strafe wirst du die Sauerteigbrote allein fertigen. Und nun verschwinde.«
Wulf hatte während Simons Abwesenheit den Roggenteig geknetet. Immerhin hatte er den Ofen angefacht, denn es dauerte eine Zeit, bis die Backsteine die richtige Temperatur besaßen. Stirnrunzelnd beobachtete Simon seinen Stiefbruder. Offenbar hatte Wulf zu viel Wasser genommen und gab nun Mehl nach. Wusste er denn nicht, dass der Teig das gar nicht mochte? Doch er hütete sich, Wulf zurechtzuweisen. Nachdem dieser mit seiner Arbeit fertig war, verließ er ohne ein Wort die Backstube. Die hölzernen Wannen, in denen der Roggenteig geknetet worden war, hatte er einfach stehen lassen. Wie jeden Tag kümmerte er sich nicht darum, sie sauber zu machen. Dafür gab es ja schließlich den Lehrjungen.
Simon war es nur recht, dann hatte er wenigstens seine Ruhe. Sorgfältig schrubbte er die Wannen und bereitete alles für seinen Teig vor. Nicht einmal ein halber Sack Roggenmehl war übrig. Für zwanzig Laibe würde er nicht ausreichen. Zischend stieß er die Luft aus. Nun musste er auch noch zum Mehllager gehen und die schweren Säcke vom Dachboden hinunterschleppen. Zu seinem Entsetzen stellte er fest, dass kein Roggenmehlsack mehr dort war. Nur noch Weizenmehl. Nun gut, dann würde er eben mischen. Ächzend warf er sich den Sack über die Schulter und stieg die steile Treppe hinab.
Allmählich knurrte sein Magen, doch das Frühstück musste noch warten. Simon verteilte die Mehle in die Wannen, gab Sauerteig und warmes Wasser dazu und begann zu kneten. Es war eine anstrengende Arbeit, doch in den letzten Monaten hatten seine Hände so viel Kraft bekommen, dass sie ihm kaum mehr etwas ausmachte. Simon liebte inzwischen das Gefühl des Teiges zwischen seinen Fingern. Ganz anders als Wulf, von dem er wusste, dass er das klebrige Gemisch verabscheute.
Während der mit einem Leintuch zugedeckte Teig ruhte, ging er über den Hof zum Stall, wo die beiden Esel schon auf ihn warteten und ihre langen Ohren spitzten.
»Ihr habt Hunger, so wie ich, nicht wahr?« Simon rieb den beiden Grautieren die Stirn, nahm die Heugabel und schob einen ordentlichen Haufen Futter in die Box. Während die Tiere fraßen, mistete er aus, streute frisches Stroh und füllte die Wassereimer nach.
Als er endlich in die Küche kam, um sich seinen Gerstenbrei zu holen, war es längst hell geworden. Seit er im Lager hauste, aß er nur noch selten mit der Familie. In der Küche traf er auf seine Mutter, die Berta, der Magd, Anweisungen erteilte.
»Simon, dein Vater …«
»Mein Stiefvater.«
Anna wischte den Einwand mit einer Handbewegung unwirsch beiseite. »… ist außer sich. Du beschämst ihn als Meister, sagt er, wenn du den Zunftmeister um Anstellgut bitten musst, weil du nicht aufgepasst hast.«
»Wer nicht aufgepasst hat, ist Wulf. Er hat den Sauerteigansatz aufgebraucht, nicht ich«, erwiderte Simon und schlang den Brei hinunter.
»Wulf ist kein Lehrling«, entgegnete seine Mutter, »er weiß, dass das nicht geschehen darf.«
»Ach, ist das so? Nur weil ich in die Lehre gehe, bin ich an allem schuld, was dieser Taugenichts falsch macht? Melchior sollte ihm mal die Ohren lang ziehen. Es vergeht kein Tag, an dem Wulf nicht irgendeinen Fehler macht. Zudem ist er faul und hochfahrend«, schleuderte Simon ihr wütend entgegen.
»Das glaube ich nicht. Wulf ist höflich und fleißig und bei der Zunft sehr beliebt. Du solltest dankbar sein, dass du solch eine Familie hast.«
Simon war fassungslos. War seine Mutter so blind, oder wollte sie die Wahrheit nicht wissen?
»Glaub, was du willst, Mutter, ich weiß es besser. Und wenn Melchior sich weniger in den Wirtshäusern und mehr in der Backstube aufhalten würde, wüsste er es auch.« Mit diesen Worten ließ er sie stehen und ging zurück in die Backstube, wo Wulf gerade dabei war, Laibe zu formen. Wie immer gab er sich nicht sonderlich Mühe, gleichmäßige Laibe zustande zu bringen.
»Los, sieh nach der Glut und rühr sie durcheinander, damit der Ofen eine gleichmäßige Hitze bekommt«, blaffte Wulf ihn an.
»Sieh doch selbst nach.«
Wulf trat drohend auf ihn zu. »Willst du Prügel? Kannst du haben.« Er hatte kaum ausgesprochen, als seine Faust Simon am Kinn traf und ihn an die Wand schleuderte.
Simon schüttelte sich und ging mit gesenktem Kopf auf Wulf los, rammte ihm seinen Schädel in die Magengrube und schlug ihm mit der geballten Rechten in die Nierengegend. Sein Stiefbruder sackte zusammen und krümmte sich vor Pein. Just in diesem Augenblick erschien Meister Bernbeck. Mit einem Wutschrei packte er Simon am Kragen und prügelte auf ihn ein. Simon riss die Hände nach oben, um seinen Kopf zu schützen. Erst als er mit schmerzverzerrtem Gesicht am Boden lag, ließ Bernbeck von ihm ab, jedoch nicht ohne ihm zuvor noch einen Tritt zu verpassen.
»Verfluchter Bengel! Totschlagen sollte ich dich wie einen räudigen Hund!«, spie Bernbeck aus. »Wulf, mein guter Junge, ist alles in Ordnung mit dir?«
»Mein Bauch schmerzt. Wie gut, dass du rechtzeitig gekommen bist. Wer weiß, ob er mich nicht umgebracht hätte.«
»Weswegen seid ihr in Streit geraten?«
»Ich habe ihn gebeten, nach der Glut im Ofen zu sehen, weiter nichts. Und plötzlich hat er auf mich eingeschlagen.«
Melchior Bernbeck schüttelte den Kopf. »Geh ins Haus und ruh dich etwas aus. Ich werde Simon die Flausen schon austreiben.«
Als Wulf verschwunden war, schnappte Bernbeck seinen Stiefsohn am Arm und riss ihn in die Höhe.
»Du wirst heute und morgen allein arbeiten. Die Maifeier der Zünfte kannst du vergessen, du bleibst hier. Und wehe dir, die Brote für den Fürstbischof sind nicht von allerhöchster Güte. Hast du mich verstanden?«
Simon nickte schwach, sein Kopf dröhnte, und ihm wurde speiübel. Nur mit Mühe unterdrückte er den Brechreiz. Bernbeck warf ihm noch einen warnenden Blick zu, bevor er mit zorngerötetem Gesicht die Backstube verließ.
Morgen würde Simons Körper mit blauen Flecken übersät sein und ihm noch mehr Schmerzen bereiten als jetzt. Es war nicht das erste Mal, dass sein Stiefvater ihn windelweich prügelte. Mehr denn je wünschte sich Simon, die Lehrzeit ginge endlich zu Ende. Doch davon war er noch weit entfernt.
Vielleicht konnte er ja den restlichen Teig noch retten. Allerdings bezweifelte er dies. Teige hatten ein Eigenleben, wie er schnell gelernt hatte, und man musste sie mit Sorgfalt behandeln. Tat man es nicht, nahmen sie es einem übel. Er griff in den Teig. Viel zu zäh. Missmutig gab er Wasser hinzu, knetete es unter, aber das Ergebnis war ernüchternd. Das konnte er spüren. Simon leckte seinen Zeigefinger ab und verzog das Gesicht. Wulf hatte viel zu viel Salz in den Teig gemischt, kein Wunder, dass der Teig nichts taugte. Bestimmt hatte er das Salz nicht abgewogen, was er aber unbedingt hätte tun müssen, denn zu viel davon ließ den Teig nicht richtig aufgehen. Wütend brachte er den unbrauchbaren Teig nach draußen und vergrub ihn unter dem Misthaufen. Am liebsten hätte er seinen Stiefbruder gleich mitverscharrt. Nur seinetwegen musste er auf die Maifeierlichkeiten der Zünfte verzichten, denen er seit Wochen entgegenfieberte.
Die wenigen Apotheker der Stadt besaßen keine eigene Zunft, aber sie waren in der Gewürzhändlerzunft eingebunden, und Simon hatte sich schon mit der Apothekertochter Julia tanzen sehen. Daraus wurde nun nichts. Mit hängenden Schultern schlurfte er zu den Eseln und klagte ihnen leise sein Leid, unterdrückte ein Schluchzen. Die Tiere schienen seine Traurigkeit zu spüren und bliesen ihm tröstend ihren warmen Atem ins Gesicht. Er verweilte eine Zeit lang bei den Grautieren, bis er sich wieder beruhigt hatte, und ging zurück in die Backstube, um neuen Teig anzusetzen.