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Später formte er sorgfältig die Laibe, gab jeden für sich in einen geflochtenen Weidenkorb, damit sie dort noch eine Weile ruhten, und bestäubte sie mit Mehl. Während die Laibe auf Gare waren, säuberte Simon die Wannen und ging nach draußen, um auf Vorrat Holz zu spalten. Die Scheite stapelte er ordentlich in der Scheune und fegte anschließend die Späne zusammen.
Als er wieder hereinkam, waren die Buchenscheite inzwischen vollständig heruntergebrannt, und der Ofen strahlte eine enorme Hitze aus. Schnell fegte er die Asche in einen metallenen Kasten und spießte einen nassen Lappen auf den Feuerhaken, um den Großteil des Aschestaubs aus dem Ofen zu entfernen. Mit geübten Handgriffen stülpte er die Laibe aus den Körben auf ihre bemehlte Seite, ritzte mit einem Messer ein Kreuz hinein, damit der Teig Platz hatte, um im Ofen aufzugehen, und die Brote später gleichmäßig aussahen. Dann schoss er flink einen Laib nach dem anderen mit dem Schieber in den Ofen. Eine knappe Stunde würde es dauern, bis die Brote fertig gebacken waren. Simon rieb sich die Augen und gähnte herzhaft, ein kleines Schläfchen käme ihm jetzt gelegen. Doch er verwarf den verlockenden Gedanken, als er sich vorstellte, was geschehen würde, sollten Wulf oder sein Stiefvater ihn dabei erwischen.
Sein Blick fiel auf den kleinen Beutel feinsten Weißmehls, den der Müller ihm letztes Mal geschenkt hatte, als Simon in der Grabenmühle gewesen war. Ein Sturm hatte Äste und Blattwerk in die Kürnach befördert und den kleinen Fluss behindert, der die Mühle antrieb. Simon hatte wortlos mit angepackt und dem Müller und seinen Gesellen geholfen.
»Bist ein guter Junge, Simon, hier, nimm das Weißmehl zum Dank für deine Hilfe. Ich bin sicher, du wirst etwas Besonderes daraus machen«, zwinkerte der Müller ihm zu und klopfte ihm auf die Schulter.
Nun, vielleicht war heute der Tag, an dem er das feine Mehl verarbeiten sollte. Etwas Süßes würde er daraus machen, so süß wie Julias Lächeln.
»Simon!« Aufgeregt platzte Barbara in die Backstube.
Das Gesicht seiner Schwester war bleich, ihre blauen Augen mit den ungewöhnlichen Sprenkeln darin vor Furcht geweitet. Genauso blass erschien Sibylla, die ihr wie immer auf dem Fuß folgte.
»Du musst Mutter helfen, es geht ihr nicht gut!«
Simon wischte sich die Hände an seiner Hose ab. »Was ist denn? Ich hab keine Zeit, die Brote …«
Barbara packte ihn am Handgelenk und zog ihn mit sich. »Seit dem Morgenmahl spuckt sie nur …«
»Sie wird sich den Magen verdorben haben, da kann ich nichts machen«, gab Simon barsch zurück.
»Aber jetzt ist sie ohnmächtig geworden!«
»Wo ist dein Vater, Sibylla? Sollte er sich nicht um Anna kümmern?«
Sibylla zuckte mit den Schultern. »Er ist mit Wulf weggegangen, wohin, weiß ich nicht.«
Simon seufzte und folgte den Mädchen zu den Wohnräumen im Obergeschoss. Im Schlafzimmer seiner Mutter roch es säuerlich nach Erbrochenem. Anna Reber lag auf dem Bett, die Augen geschlossen, die Wangen fahl. Ihre Lider flatterten, als Simon ihre Hand nahm.
»Mutter, kannst du mich hören?«
Anna schlug die Augen auf und nickte schwach. »Ich habe schrecklichen Durst«, krächzte sie.
»Barbara, Sibylla, holt ihr einen Becher verdünnten Wein«, befahl er den Mädchen, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder seiner Mutter schenkte.
»Was ist mit dir? Hast du etwas Verdorbenes gegessen?«
Seine Mutter schloss einen Lidschlag lang die Augen.
»Nein. Ich bin schwanger. Simon, ich habe solche Angst, das Kind zu verlieren. Melchior wünscht sich so sehr einen weiteren Sohn«, flüsterte sie.
Simon ließ abrupt ihre Hand los. »Das ist alles? Dann kann ich beruhigt nach meinem Ofen sehen. Ich kann mich noch erinnern, wie schlecht es dir ging, als du mit Barbara schwanger warst. Wochenlang hast du gespien, aber meine Schwester kam gesund und munter zur Welt.«
»Du bekommst ein Geschwisterchen, Simon. Freust du dich denn nicht?«
Er sah auf sie hinunter, sah das Flehen in ihren Augen. Wortlos wandte er sich ab und verließ die Schlafkammer. Beinahe wäre er mit Barbara zusammengestoßen.
»Es ist nichts Schlimmes, Schwester, unsere Mutter bekommt nur ein Kind.« Er strich ihr über den Kopf und eilte zurück in die Backstube, ohne sich weiter zu kümmern.
Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Ein weiterer Stiefbruder. Trotzig schüttelte er den Gedanken ab und gab das Weißmehl in eine Schüssel. Etwas ganz Besonderes wollte er daraus backen. Dafür würde er kein Wasser nehmen. Milch sollte es sein. Simon stahl sich in die Vorratskammer und nahm sich Milch, Butter und Eier. Seine Augen schweiften umher, wanderten die Regale auf und ab. Rosinen, Haselnüsse, Zimt und Zucker. Letzteres ein teurer Schatz, selbst wenn die Preise nicht mehr ganz so hoch waren, seit aus den fernen Ländern immer mehr des weißen Goldes hierhergelangte. Noch teurer allerdings war Zimt. Wozu hatte Melchior Zimt gekauft? Er buk keine süßen Brote oder Kuchen.
»Da du das Erbe meines Vaters verprasst, brauche ich wenigstens kein schlechtes Gewissen haben, wenn ich mir einen Teil davon zurückhole«, murmelte er vor sich hin und griff nach dem Gefäß mit dem stark duftenden Gewürz.
Simon erwärmte einen Teil der Milch, gab sie dann in die Schüssel zu Mehl und Hefe. Salz und Zucker schüttete er dazu und schnitt kleine Stückchen von der Butter, die er auf dem Mehl verteilte. Nach einer Weile schlug er die Eier auf, vermengte alles und rührte die Masse kräftig mit einem Holzlöffel, bis ein gleichmäßiger Teig entstand. Während der Teig ruhte, kochte er die Milch zusammen mit den zerstoßenen Haselnüssen, dem Zimt, weiterem Zucker und den Rosinen auf. Nachdem die Mischung etwas abgekühlt war, steckte Simon den Zeigefinger hinein und leckte ihn ab. Mit geschlossenen Lidern spürte er mit der Zunge der süßen Masse nach. Wundervoll.
Es war Zeit, die Brote aus dem Ofen zu holen und auskühlen zu lassen. Er klopfte auf den Boden eines Laibes. Der hohle Klang zeigte ihm an, dass das Brot durchgebacken war. Melchior Bernbeck mochte ein Trinker und ein Weiberheld sein, doch sein Handwerk verstand er. Simon beobachtete stets genau, was sein Stiefvater tat. Als er alle Laibe nahe ans Fenster gelegt hatte, wandte er sich seinem süßen Brot zu. Mit einer hölzernen Walze glättete er den Teig. Julias schwarze Zöpfe kamen ihm in den Sinn, und wie von selbst teilten seine Hände den Teig in gleichmäßig dicke Stränge, die er mit der Füllung bestrich, und flocht daraus einen Zopf. Mit den restlichen Rosinen bildete er den Buchstaben ›J‹ auf der Mitte seines Werkes ab. Im Milchkrug befand sich noch ein Rest, den er auf die Oberfläche des Gebäcks strich, bevor er es in den Ofen schob.
Am frühen nächsten Morgen spannte Simon die Esel vor den Karren, lud die Brotlaibe in Körben darauf, und in einem Leinenbeutel verstaute er seinen süßen Zopf. Seine Arme schmerzten noch von der harten Arbeit des vorigen Tages, ebenso wie die blauen Male an seinem Körper. Todmüde war er gestern auf sein einfaches Lager gesunken. Nachdem er die Brote in der Burg abgegeben hatte, wollte Simon sein süßes Backwerk zu Julia zu bringen. Wenn er schon nicht mit zu den Maifeierlichkeiten konnte, wollte er sie wenigstens damit überraschen. Kurz kamen ihm Zweifel, ob das Gebäck auch wirklich schmeckte, doch der Teig war gut gewesen, also was zum Teufel sollte schiefgegangen sein?
Der steile Anstieg zur Festung ließ die Esel schnaufen, und Simon begann, in der Maisonne zu schwitzen. Die Luft war erfüllt vom Summen der Bienen, von Vogelgezwitscher und dem zarten Duft der Apfel- und Birnenblüten. Einen Augenblick hielt Simon inne, um sich umzusehen. An den Hängen blühten die Obstbäume in voller Pracht, der Main am Fuße des Marienberges glitzerte blausilbern, die Dachziegel der Häuser in der Stadt glänzten, und die Kreuze auf den Turmspitzen des Doms funkelten in der Sonne. Ob es noch ein schöneres Fleckchen Erde als dieses hier gab? Simon konnte es sich nicht vorstellen.
Die Wachen ließen ihn durch, nachdem er ihnen die Brotkörbe gezeigt hatte. Er war nicht der Einzige, der Waren brachte. Weinhändler, Bierwagen, Jäger mit kürzlich erlegtem Wild, Metzgerkarren beladen mit deftigen Würsten und gepökeltem oder geräuchertem Fleisch. Fürstbischof Echter ließ es seinen Gästen an nichts fehlen, obwohl er bekannt dafür war, sich selbst meist zu kasteien. Julius Echter kniete lieber vor einem Altar, betete, um die Dämonen der Versuchungen zu vertreiben.
Eine lange Wagenschlange hatte sich im Innenhof gebildet. In der lauen Frühlingsluft wartete jeder geduldig darauf, dass seine Waren Gnade vor den Augen des Hofmeisters fanden. Simon lehnte sich an den Karren, schloss schläfrig die Lider und dachte an Julia. Vor seinem inneren Auge erschien ihr von dunklen Locken umrahmtes Gesicht, und sie lächelte ihm zu.
»Junge, lass sehen, was du hast«, riss ihn die schnarrende Stimme des Hofmeisters aus seinem Tagtraum.
»Ja, Herr«, antwortete Simon und schlug eilig das große Leinentuch zurück, unter welchem sich die Körbe mit den Broten befanden.
Der Hofmeister nahm eines der Brote heraus, befühlte die Kruste und roch daran. Zufrieden nickte er und legte den Laib auf eine Waage. Die römische Schnellwaage pendelte im Lot. Genau ein Pfund. Der Mann nahm noch drei weitere Brote aus den verschiedenen Körben, alle hielten der Prüfung stand.
»Stell dich dort drüben an«, er wies mit dem Kinn auf eine weitere Schlange, »die Knechte werden abladen, und der Kämmerer zahlt dich aus.«
Simon nahm die Zügel und führte seine Esel in die angegebene Richtung. Hinter ihm hörte er den Hofmeister aufstöhnen.
»Glaubst du, Eure Exzellenz duldet, dass dieses Fleisch aufgetischt wird? Das ist gerade gut genug für die Hunde!«
»Aber Herr, mein Meister …«
Der Rest ging im Stimmengewirr unter, als Simon sich weiter vom Hofmeister entfernte. Er musste nicht lange warten, denn die Knechte arbeiteten schnell und entluden die Karren in Windeseile. Der Kämmerer saß hinter einem Tisch, vor ihm eine Liste, auf der er akribisch alles aufzeichnete.
»Der Nächste.«
Kurz sah der Mann mit dem Spitzbart hoch.
»Was bringst du?«
»Zwanzig Brotlaibe, Herr.«
»Wer ist dein Meister?«
»Melchior Bernbeck, Herr.«
Der Mann tauchte die Feder in das Tintenfässchen und schrieb eine weitere Zeile auf den Bogen Papier. Dann öffnete er ein Kästchen und fischte einige Münzen hervor, die er Simon vorzählte.
»… neununddreißig, vierzig.«
Simon nahm die Pfennige und verstaute sie in einem kleinen Lederbeutel, den er am Gürtel trug.
»Danke, Herr.«
Der Kämmerer brummte und bedeutete Simon, Platz für den Mann hinter ihm zu machen. Das Geld klimperte im Beutel, als er die Esel mit dem Karren durchs Tor führte.
»So, ihr beiden Hübschen, auf geht’s zu Julia«, frohlockte Simon und stellte sich das hübsche Gesicht der Apothekertochter vor. Bestimmt würde sie sich über sein Geschenk freuen und sein Gebäck gebührend loben. Plötzlich fiel es ihm ein. Verdammt, der süße Zopf war in einem der Brotkörbe verstaut gewesen! Er musste umkehren und versuchen, den Leinenbeutel wiederzubekommen. Doch die Esel stellten sich stur und wollten nicht wieder den steilen Berg hinauf.
»Nun kommt schon, bitte, ich verspreche euch einen großen Haufen Heu«, bettelte er und zog an den Zügeln. Doch Betteln und Drohen half nichts, ebenso wenig wie ein Hieb mit dem Stock, den er dem linken Esel versetzte. Das Einzige, was er damit bewirkte, war, sich den Unmut des Tieres zuzuziehen, denn es legte die langen Ohren an.
Verzweifelt seufzte Simon auf. »Es tut mir leid, das hätte ich nicht tun sollen, aber ich muss wieder zur Burg«, redete er auf die Tiere ein.
»Junge, mach den Weg frei«, dröhnte es hinter ihm.
Ein großer Bierwagen, gezogen von zwei mächtigen Braunen, näherte sich. Simon blieb nichts anderes übrig, als seinen Weg nach unten fortzusetzen, denn es gab nicht genügend Platz, damit das Fuhrwerk an ihm vorbeiziehen konnte. Bergab war genau im Sinne der Esel, und zügig schritten sie aus. Simon bildete sich ein, ein spöttisches Grinsen auf ihren Gesichtern zu sehen.
Nachdem sein Geschenk für Julia auf der Burg geblieben war, verzichtete er auf einen Besuch und kehrte nach Hause zurück. Als er die Esel ausgeschirrt und versorgt hatte, stapfte er in die Küche. Den Münzbeutel knöpfte er vom Gürtel und legte ihn auf einen Mauervorsprung am Fenster. Später würde er das Geld Bernbeck geben. Doch jetzt musste er seinen hungrigen Magen beruhigen. Er fand einen Käse, von dem er großzügig abschnitt und ihn zusammen mit einem Kanten Brot in sich hineinschlang. Erst jetzt fiel ihm auf, wie eigenartig still es war. Sollten alle bereits zu den Maifeierlichkeiten aufgebrochen sein? Selbst Berta war nirgends zu sehen.
Simon stieg die Treppe nach oben.
»Mutter?«
Er konnte sich kaum vorstellen, dass sie mit zur Feier gegangen war. Gestern war ihr noch sterbenselend gewesen.
»Mutter?«, rief er erneut und blieb vor der Tür ihrer Schlafkammer stehen.
Das Ohr an die Tür gelegt, lauschte er für einen Augenblick, klopfte. Nichts. Gerade wollte er sich wegdrehen, als ein leises Stöhnen an sein Ohr drang. Simon drückte die Tür auf und betrat das Zimmer, wobei er beinahe über die am Boden liegende Gestalt gestolpert wäre. Seine Mutter lag mit bleichem Gesicht auf dem Rücken, die Augen geschlossen, auf ihrem weißen Nachtgewand hatte sich im Schoß ein großer Fleck gebildet. Unter ihr hatte sich eine dunkel schimmernde Lache ausgebreitet. Blutgeruch stieg in Simons Nase.
»Heiliger Vater im Himmel!«, entfuhr es Simon. »Mutter, kannst du mich hören?«
Sanft tätschelte er ihre Wange, doch Anna Reber zeigte keine Regung. Behutsam schob Simon die Hand unter ihren Nacken, versuchte, seine Mutter aufzurichten. Sie stöhnte und ließ sich gegen seinen Körper sinken.
»Simon«, flüsterte sie, »ich habe das Kind verloren, geh und hol einen Priester. Schnell, eil dich! Ich will nicht ohne Beichte sterben.«
»Nein!«, stieß Simon erstickt hervor. »Ich helfe dir aufs Bett. Du musst dich nur ausruhen.«
Schwach bewegte sie den Kopf hin und her. »Ich war dir keine gute Mutter, mein Junge, nachdem ich Melchior geheiratet habe. Verzeih mir. Und jetzt geh!«
Langsam ließ er ihren Oberkörper zurücksinken, schob ihr ein Kissen unter den Kopf. Dann hastete er aus der Kammer, stürzte die Treppe, zwei Stufen auf einmal nehmend, hinunter und rannte zur Marienkapelle. Heute hatte er keinen Blick für die prächtige Kirche, die er sonntags immer besuchte. Er stieß das südliche Portal auf, über das links und rechts in Stein gehauene Figuren wachten. Adam und Eva, geschaffen von einem der berühmtesten Männer Würzburgs, Tilman Riemenschneider. Wie oft hatte Gebhard seinem Sohn von dem Bildhauer erzählt und Simons Begeisterung für Schnitz- und Bildhauerarbeiten geweckt.
Fast wäre er mit dem Mann zusammengestoßen, den er suchte.
»Was fällt dir ein, Junge, ein Haus Gottes betritt man ehrfürchtig …«
»Hochwürden, verzeiht, meine Mutter …«, unterbrach Simon keuchend den Pfarrer.
Erst jetzt erkannte Pfarrer Magnus den aufgeregten Burschen, mit dessen Vater er oftmals über die Schönheit der Marienkapelle und auch der anderen gottgeweihten großartigen Bauten in dieser Stadt gesprochen hatte.
»Simon, Simon Reber, nicht wahr?«
»Ja, Hochwürden. Sie stirbt, bitte eilt Euch! Sie will nicht sterben, ohne gebeichtet zu haben«, schniefte Simon und wischte sich die Tränen von den Wangen.
»Warte hier, ich hole alles, was ich brauche, um die Sterbesakramente zu spenden.«
Wenig später folgte er eiligen Schrittes dem aufgelösten Jungen durch die Gassen.
Sie kamen zu spät. Anna Reber war, ohne ihre Sünden zu bekennen, von dieser Welt gegangen. Pfarrer Magnus half Simon, den Leichnam auf das Bett zu legen, faltete Annas Hände und besprengte ihren Körper mit Weihwasser, während Simon eine Kerze entzündete.
»Lass uns beten, Simon.«
Der Junge legte die Handflächen aneinander, kniete nieder und murmelte leise mit.
»… und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel. Amen«, beendete der Pfarrer das Vaterunser. »Ich werde nun gehen und eine Seelnonne schicken, die den Leib deiner Mutter waschen wird.«
Simon nickte nur. Er war wie betäubt. So garstig war er zu ihr gewesen. Im Streit waren sie auseinandergegangen, und nun konnte er seine Mutter nicht mehr um Vergebung bitten. Das würde er sich nie verzeihen. Er setzte sich auf den Boden, die Arme auf den Knien verschränkt, vergrub sein Gesicht darin und weinte leise.
Als die Kirchturmglocken schlugen, erschien eine ältere Frau. Unter ihrem Skapulier trug sie eine hellbraune Tunika, ihren Kopf bedeckte eine Haube derselben Farbe. Simon hatte sie nicht einmal die Treppen hochkommen gehört. Sanft berührte die Seelnonne ihn an der Schulter.
»Steh auf, mein Junge.«
Mühsam stemmte sich Simon hoch, starrte die Frau mit vom Weinen geröteten Augen an.
»Geh, ich werde jetzt deine Mutter waschen«, sagte sie und schob ihn zur Tür.
Mit hängenden Schultern ging er die Treppe hinunter und über den Hof und fand Trost bei den Eseln. Eigentlich hätte er Melchior suchen müssen, um ihm von Annas Tod zu berichten, doch er fand nicht die Kraft dazu.
Ein Schrei weckte ihn auf. Es war bereits dunkel geworden, irgendwann musste er erschöpft eingeschlafen sein. Simon zupfte ein paar Strohhalme von seinen Kleidern und ging zum Haus.
»Simon«, brüllte Melchior. »Wo steckst du, du Faulpelz?«
»Hier.« Seine Stimme hörte sich eigenartig dünn an.
In der Backstube stand sein Stiefvater, die beiden Mädchen drängten sich weinend an ihn. Wulf lehnte am Tisch, die Arme vor der Brust verschränkt.
»Was ist geschehen? Los, rede!«, herrschte Melchior ihn an.
Simon räusperte sich und sah zu Boden. »Sie hat ihre Leibesfrucht verloren. Als ich von der Burg kam, lag sie blutend auf dem Boden der Schlafkammer. Sie schickte mich nach einem Priester.«
»Hast du nicht daran gedacht, uns zu holen, damit wir Abschied nehmen können?« Melchiors Gesicht nahm eine ungesunde Röte an.
»Ich … als ich mit Pfarrer Magnus zurückkam, war es bereits zu spät, ich …«
Bernbeck verpasste ihm eine Ohrfeige. »Sie ist in Sünde gestorben? Das ist alles deine Schuld, du elender Nichtsnutz«, brüllte er und begann, auf Simon einzuprügeln, der die Arme schützend vor sein Gesicht riss.
»Vater, nicht, bitte!«, flehte Sibylla, und Barbara fiel weinend ein. »Bitte, hör auf.« Gemeinsam zerrten die Mädchen an Bernbecks Hemd.
Schwer atmend ließ der Bäckermeister von ihm ab. Simon nahm die Hände herunter und erhaschte Wulfs hämisches Grinsen.
»Geh mir aus den Augen, Simon«, presste Melchior hervor. »Wulf, morgen früh holst du den Totengräber, er soll die Leiche aus dem Haus schaffen.«
»Wollen wir nicht gemeinsam für ihre Seele beten und Totenwache halten?«, fragte Sibylla leise.
Simon war überrascht. Das Mädchen war meist still im Gegensatz zu seiner Schwester Barbara.
»Ja, kommt ihr Mädchen, Wulf, wir gehen nach oben.« Damit stellte Melchior klar, dass er Simon nicht dabeihaben wollte. »Ach, und bring mir das Geld, das du für die Brote bekommen hast.«
Simon blieb allein zurück. Es machte ihn sprachlos, dass Melchior den Nachbarn nicht einmal die Möglichkeit geben wollte, sich von Anna zu verabschieden. Normalerweise blieben die Toten nach ihrem Hinscheiden zwei bis drei Tage aufgebahrt im Haus, bevor der Totengräber sie mitnahm. Was war der Bäckermeister nur für ein Mensch?

Fürstbischof Julius aß wie immer wenig. Nur einen halben Teller Suppe, eine dünne Scheibe Braten mit etwas Brot und Gemüse. Innerlich rümpfte er die Nase über seine Gäste, die all die aufgetischten Köstlichkeiten nur so in sich hineinschlangen. Den meisten hätte es besser gestanden, sich zurückzuhalten. Ohnehin schoben sie bereits stattliche Bäuche vor sich her, und ihre geröteten Nasen und geäderten Wangen zeugten von übermäßigem Weingenuss.
»Sobald die Bestätigungen aus Rom und Prag eingegangen sind, werde ich der Universität Würzburg neues Leben einhauchen«, sagte er zu seinem Nachfolger im Amt des Domdekans, der zu seiner Linken saß. »Die Gesandten werden dieses Anliegen beim Papst und beim Kaiser vorbringen.«
»Ein Vorhaben, das ich jederzeit unterstütze, Exzellenz«, antwortete Neidhart von Thüngen. »Zu lange warten die Würzburger darauf. Eine Universität ist ein leuchtender Stern für eine Stadt, nicht nur, dass sie Gelehrte aus vielen Ländern anzieht, nein, sie bietet auch Arbeit für viele Menschen.«
Julius Echter nickte und griff nach seinem Weinglas, ein fein geschliffenes Stück Arbeit aus der Innsbrucker Hofglashütte.
»Einhundertfünfundsiebzig Jahre sind wahrlich eine lange Zeit. Doch dieses Mal wird es gelingen. Ich habe noch einige Pläne, um das Leben der Menschen im Hochstift Würzburg zu verbessern und zu verändern.«
Zu oft hatte Julius Echter bei seinen Gängen durch die Stadt erschüttert feststellen müssen, wie viele Arme keine Versorgung erhielten und wie viele sterbend in den Gassen lagen. Das musste geändert werden, und er, Fürstbischof, der er nun war, ausgestattet mit Geld und Macht, saß an der richtigen Stelle, um dies zum Guten zu wenden.
Diener brachten die Nachspeisen. Süße Krapfen, mit Honig glasierte Äpfel der letzten Ernte aus den Fruchtkellern der Stadt, frische Feigen, Mandeltopfen, Küchlein mit Ingwer und Anis. Johann Voit von Rieneck, der Neffe eines Domherrn, besaß die Ehre, dem Fürstbischof aufzuwarten.
»Eure Exzellenz, dieses Gebäck scheint der Bäcker nur für Euch gefertigt zu haben. Es gibt kein Weiteres seiner Art und ein ›J‹ ziert seine Mitte.«
Voit von Rieneck stellte eine Platte vor den Fürstbischof, der erstaunt auf das ungewöhnliche Backwerk starrte. Tatsächlich waren die Rosinen zu einem Buchstaben geformt worden. ›J‹ wie Julius.
»Seid so gut und schneidet mir ein Stück davon ab«, bat Echter.
Es schmeckte wundervoll. Die Rosinen und die Nussfüllung hatten das süße Brot frisch und feucht gehalten. Julius aß ganz gegen seine Art drei weitere dünne Scheiben davon. Süßgebäck war das Einzige, dem er frönte, wenn er es sich auch eher selten gestattete. Was für ein schöner Einfall des Bäckers, ihm ein Gebäck zu widmen. In seinem Herzen erwachte eine Kindheitserinnerung: Seelenbrot. Ja, dieses Backwerk schmeckte wie Christina Alberdinens Seelenbrot.
*
Wieder starrte Simon in ein offenes Grab und hielt die Hand seiner Schwester. Barbara presste die dünnen Lippen aufeinander und kämpfte mit den Tränen. Neben ihm standen Melchior, Wulf und Sibylla Bernbeck, die Hände gefaltet, die Köpfe andächtig gesenkt. Simon nahm den beiden Männern ihre zur Schau gestellte Trauer nicht ab, nur Sibylla schien ehrlich betrübt. Während er der Predigt lauschte, fragte er sich, was die Zukunft für Barbara und ihn bereithalten mochte.
Der Leichenschmaus fand wieder im ›Stachel‹ statt. Die Zunftmitglieder und Nachbarn sprachen tröstende Worte, bevor sie sich an Speisen und Wein gütlich taten. Schnell war der Anlass ihres Hierseins vergessen, und man widmete sich den Alltagsdingen. Der Tod war ein ständiger Begleiter. Jeden Tag starben Menschen, alt oder jung, reich oder arm.
Auch Julia war mit ihren Eltern zum Begräbnis gekommen, was Simon tief berührt hatte. Sehnsüchtig schielte er immer wieder hinüber zu dem Tisch, an dem der Apotheker mit seiner Familie saß, doch er traute sich nicht, aufzustehen und hinüberzugehen. Julia schenkte ihm ein Lächeln, welches sein Herz schneller schlagen ließ. Wie hübsch sie aussah mit den hellblauen Bändern im Haar. Gerade als er all seinen Mut zusammengenommen hatte, um sich zu der Apothekerfamilie zu setzen, schob Wulf neben ihm plötzlich seinen Stuhl zurück und schlenderte seinerseits zum Tisch der Sterzings. Simon konnte nicht hören, was er sagte, doch Wulf wurde eingeladen, sich dazuzusetzen. Als er sich neben Julia niederließ und diese ihm scheu zulächelte, brannte Simons Innerstes, als hätte er flüssiges Blei getrunken.
»Was starrst du denn immerzu dort hin?«, flüsterte Barbara zu seiner Rechten und pikte ihm mit dem Zeigefinger in die Rippen.