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»Tu ich nicht.«
»Doch.«
»Das bildest du dir ein.«
»Nein. Du solltest mal dein Gesicht sehen. Du wärst gerne an Wulfs Stelle, nicht wahr?«
Gott im Himmel, war es wirklich so offensichtlich, dass sogar seine neunjährige Schwester es bemerkte?
»Ich muss nach draußen«, antwortete Simon.
Er lief die Gassen entlang, erleichterte sich an einer Ecke und versuchte, seiner Gefühle Herr zu werden. Seine Füße trugen ihn quer durch die Stadt und zur Marienkapelle. Vor dem Westportal blieb er stehen, sah hinauf zur Statue der Jungfrau Maria, die auf dem Mittelpfeiler thronte und das Jesuskind im Arm hielt.
»Heilige Mutter Gottes, sag mir, was ich tun soll. Am liebsten möchte ich von hier fortlaufen«, sprach er leise zu der steinernen Figur. Doch er erhielt keine Antwort.
*
Eine Woche nach Anna Rebers Begräbnis kam Wulf grinsend in die Backstube.
»Heute Abend bekommen wir Besuch. Möchtest du raten, wen Vater eingeladen hat?« Er erwartete keine Antwort und fuhr fort: »Apotheker Sterzing mit seiner Frau und seiner Tochter. Vater hat Berta einen fetten Schweinebraten besorgen lassen, damit es ein Festessen wird. Julia und ich haben übrigens viel getanzt bei den Maifeierlichkeiten. Einen Kuss vermochte ich ihr gar zu rauben, und es wird sich schon bald eine weitere Gelegenheit bieten, da bin ich mir sicher.«
»Dein Vater scheint ja sehr um meine Mutter zu trauern«, entgegnete Simon verächtlich und zwang sich, ruhig zu bleiben, »wenn er, kaum dass die Trauerzeit begonnen hat, sich Leute ins Haus lädt.«
Wulf trat drohend einen Schritt näher. »Was willst du damit sagen?«
»Das weißt du ganz genau. Melchior und dir ist Mutters Tod doch gleich.«
Ein Stoß vor die Brust ließ ihn zurücktaumeln.
»Mein Vater leidet. Es ist nur gut für ihn, wenn etwas Leben ins Haus kommt und er für wenige Stunden abgelenkt ist. Er hat einen Sohn verloren und ich einen Bruder, als Anna starb«, spie Wulf aus. Speicheltröpfchen landeten auf Simons Gesicht, die er sich angeekelt mit dem Hemdärmel abwischte.
»Woher willst du wissen, dass das Kind ein Junge geworden wäre? Aber wie dem auch sei, dein Vater hat eine eigenartige Weise, seine Trauer zu zeigen. Ich bin ziemlich sicher, dass ich heute in aller Frühe die Schankmagd vom ›Stachel‹ sich aus dem Haus schleichen sah. Oder war sie etwa in deinem Bett?«
Wulf starrte ihn verblüfft an. Offenbar hatte er davon nichts gewusst, und das hehre Bild, das er von seinem Vater pflegte, schien einen ersten Riss zu bekommen.
»D… das ist eine Lüge.«
Simon zuckte mit den Schultern. »Wenn du meinst. Sie hatte nicht einmal ihr Kleid anständig verschnürt, ich konnte einen Blick auf ihre weißen dicken Brüste werfen. Aber anstatt hier herumzustehen, könntest du besser arbeiten. Die Wecken müssen noch gemacht werden.«
Plötzlich stand Melchior Bernbeck wie aus dem Boden gestampft in der Tür zur Backstube.
»Du erteilst meinem Sohn keine Befehle! Was fällt dir ein? Geh in den Hof! Der Eselmist muss weggefahren werden, der Haufen ist schon wieder viel zu groß.«
»Ich bin Bäckerlehrling und kein Knecht«, entfuhr es Simon. »Was ist mit Matthes, dem Dummen, der den Mist sonst abholt?«
Matthes war der einfältige, aber herzensgute Sohn eines Bauern, der regelmäßig in die Stadt kam, um den Mist wegzuschaffen und ihn auf den Feldern auszubringen. So verdiente er sich ein paar wenige Pfennige, und die Besitzer der Tiere oder der Mietställe waren froh, die Arbeit nicht selbst verrichten zu müssen.
»Ich will, dass der Hof heute noch sauber gemacht wird. Wer weiß, wann Matthes wiederauftaucht. Also, scher dich hinaus und kümmere dich um den Mist.«
Simon öffnete den Mund, um zu widersprechen, doch Bernbeck packte ihn bereits am Kragen und schüttelte ihn.
»Wag es nicht. Du tust, was ich sage. Bisher hat deine Mutter dich immer in Schutz genommen, doch das ist nun vorbei«, drohte er.
Simon konnte den schalen Weindunst riechen, den der Bäckermeister noch immer ausströmte. Er fragte, sich, wann und wie ihn seine Mutter denn je vor Melchior in Schutz genommen hatte, doch er fand keine Antwort darauf. Allerdings war er sicher, dass er künftig mit mehr Prügel zu rechnen hatte.
Gerade rechtzeitig war Simon mit der Arbeit fertig geworden, um sich Gesicht und Hände zu waschen und saubere Kleidung anzulegen, bevor die Sterzings erschienen. Mit einem grobzinkigen Kamm fuhr er sich durch seine dichten blonden Haare, die er von seinem Vater geerbt hatte. Ein verführerischer Duft drang durch das Haus. Berta hatte sich mit ihren Kochkünsten offenbar selbst übertroffen. Simon lief das Wasser im Munde zusammen. Er hastete in die an die Küche grenzende Stube, wo Barbara und Sibylla den Tisch gedeckt hatten. Die Mädchen hatten sich redlich Mühe gegeben. Ein weißes Leinentuch, Teller und Becher standen bereit und in den Leuchtern steckten neue Kerzen. Sogar Blumen hatten die beiden gepflückt und die Stängel ineinander verwoben, sodass eine Kette aus Gänseblümchen und Primeln entstanden war, die die Tischmitte zierte. Der Boden war frisch gefegt, und der mit grünen Reliefkacheln verzierte Ofen strahlte eine wohltuende Wärme aus.
»Das sieht schön aus«, lobte Simon und erntete dafür strahlende Gesichter.
»Hilfst du uns, die Kerzen zu entzünden?«, fragte Sibylla.
Simon nickte und ging in die Küche, um einen Kienspan zu holen. Dort legte Berta letzte Hand an das Gemüse. Möhren, Zwiebeln und Mairübchen. Über dem Feuer köchelte ein großer Topf Suppe vor sich hin. Simons Augen blieben an einer gusseisernen, mit einem Deckel verschlossenen Pfanne auf der Herdstelle hängen. Er wollte gerade den Deckel lüften, als Bertas Stimme ihn innehalten ließ.
»Untersteh dich! Außerdem würdest du dir die Finger verbrennen.« Die Magd schnappte sich ein Tuch und hob augenzwinkernd den Deckel, um Simon einen Blick auf die Schweinebratenstücke werfen zu lassen, die in einer dunklen Biersoße schwammen. »Nimm dir ein Stück Brot, Junge.« Berta hatte ihn schon immer gemocht.
Simon tunkte Brot in die Soße und ließ es genießerisch zwischen seinen Lippen verschwinden.
»Hmmm, wunderbar. Brauchst du noch Hilfe?«
»Nein, nein, das schaffe ich schon. Nun geh, ich hab noch zu tun«, sagte sie und scheuchte ihn hinaus.
Simon saß zwischen seiner Schwester und Sibylla, ihnen gegenüber Wulf, Julia und ihre Mutter, an den beiden Tischenden hatten der Apotheker und Melchior Platz genommen. Das Tischgespräch führten die beiden Männer, während die Übrigen sich wortlos Suppe, Fleisch und Gemüse munden ließen. Ab und an trafen sich Simons und Julias Blicke für nur einen Lidschlag lang, und jedes Mal durchzuckte Simon ein wohliger Schauer. Schon den ganzen Tag über fragte er sich, warum sein Stiefvater die Familie Sterzing eingeladen hatte, doch er fand keine Erklärung.
»Nun, da meine liebe Frau verstorben ist, müssen die Mädchen mehr mithelfen«, sagte Bernbeck gerade. »Sie sind alt genug, um Berta zur Hand zu gehen. Je früher sie lernen, wie man einen Haushalt führt, desto besser.«
Teresa Sterzing nickte zustimmend.
»Julia musste auch schon früh mit anpacken. Jetzt ist sie fünfzehn und weiß, worauf es in einem Haushalt ankommt.«
Melchior Bernbeck atmete tief durch.
»Nun, da Ihr die Apotheke erwähnt. Mein Sohn Wulf hat den Wunsch geäußert, nicht in meine Fußstapfen treten zu wollen. Was mich einerseits betrübt, andererseits möchte ich seiner Zukunft nicht im Wege stehen.«
Konrad Sterzing lachte leise.
»Guter Meister Bernbeck, sicher wisst Ihr, dass Wulf bereits mit mir gesprochen hat. Ich habe über sein Ansinnen nachgedacht. Euer Sohn ist ein ausgesprochen höflicher junger Mann und nicht auf den Kopf gefallen. Allerdings gibt es sehr viele Dinge, die er zu lernen hat, um sich einmal Apotheker nennen zu können.«
Simon blieb das Stück Fleisch, das er gerade hinunterschlucken wollte, beinahe im Hals stecken. Wulf möchte Apotheker werden? Wenn er dafür so viel Ehrgeiz an den Tag legt wie in der Backstube, sterben die Leute wie die Fliegen, wenn er die Arzneien nicht richtig abwiegt. Und von ›höflich‹ kann nicht die Rede sein.
»Ich bin bereit, Tag und Nacht zu lernen«, beeilte sich Wulf zu sagen. »Ich bitte Euch, verehrter Apotheker, mir die Möglichkeit zu geben, Euch zu überzeugen.«
»Nun, Wulf, wie ist es bei dir mit Lesen, Schreiben und Rechnen bestellt? Und Latein? Beherrschst du Latein?«
»Ego … dabo … meum optimum«, erwiderte Wulf zögernd und sah Sterzing erwartungsvoll an.
Dieser lachte dröhnend. »Du wirst dein Bestes geben. Ich sehe, dir ist es ernst. Gut, du sollst die Gelegenheit bekommen und bei mir anfangen. Nach einem Jahr werden wir weitersehen.«
Wulfs Gesicht leuchtete freudig auf. »Ich bin Euch zu großem Dank verpflichtet. Ich … Ich weiß gar nicht, was ich noch sagen soll«, stammelte er.
Simon wurde beinahe übel, als er sich vorstellte, wie Wulf täglich Julia beäugen konnte.
»Dann ist es beschlossene Sache?«, wandte sich Konrad Sterzing an Melchior.
»In der Backstube wird mir mein Sohn sehr fehlen, geschickt und fleißig, wie er ist. All die Arbeit nur mit einem Lehrjungen zu bewältigen wird schwer«, erwiderte der Bäckermeister seufzend.
Unwillkürlich stieß Simon einen verächtlichen Laut aus, und alle Gesichter wandten sich ihm zu.
»Simon, du scheinst anderer Meinung zu sein«, sagte der Apotheker und zog fragend eine Augenbraue hoch.
»Seine Meinung ist nicht von Belang«, fauchte Wulf. »Er ist nur neidisch und gönnt mir nichts. Seit er hier aufgetaucht ist, macht er mir das Leben schwer.«
Wütend stand Simon auf, die Hände auf den Tisch gestützt, neigte er sich nach vorn.
»Elender Lügner! Du bist faul und taugst zu nichts. Wie oft schon habe ich deine Fehler ausmerzen müssen.«
»Raus!«, donnerte Melchior. »Auf der Stelle! Wie kannst du es wagen, so über Wulf zu reden.«
Simon zuckte mit den Schultern. »Weil es die Wahrheit ist, und du weißt es.« Damit machte er auf dem Absatz kehrt, stürmte aus der Stube und ließ die Tür hinter sich krachend ins Schloss fallen.
*
»Wulf? Wieso soll er in der Apotheke lernen?«, wagte Julia ihren Vater zu fragen, als sie nach Hause kamen.
Sie war entsetzt gewesen, hatte kaum ihren Schrecken verbergen können. Schon beim Leichenschmaus nach der Beerdigung von Simons Mutter war ihr Wulf unangenehm aufgefallen. Seine schmalen, eng stehenden Augen hatten sie gemustert, als wäre sie ein Pferd, das er zu kaufen gedachte. Einmal hatte er es sogar gewagt, unter dem Tisch ihr Knie zu berühren.
»Julia, ich brauche irgendwann einen Nachfolger in der Apotheke. Wulf ist jung und nicht glücklich damit, sein Leben als Bäcker zu verbringen. Das hat er mir gestanden. Er lernt eifrig Latein, und das zeigt mir, es waren nicht nur leere Worte, als er mich gebeten hat, ihn anzunehmen.«
»Ich mag ihn nicht«, erwiderte sie mit zusammengezogenen Augenbrauen.
»Schluss damit, Julia. Wulf wird hier ausgebildet, ob es dir gefällt oder nicht. Er wird mit uns essen, aber schlafen wird er zu Hause, weil er keinen weiten Weg hat. Und du wirst dich benehmen und nett zu ihm sein.«
»Aber …«
»Julia, lass gut sein«, warnte ihre Mutter, »vielleicht lernst du ja, Wulf zu mögen, wenn du ihn besser kennenlernst. Er ist bestimmt kein schlechter Kerl.«
»Kann nicht Simon anstelle von Wulf zu uns kommen?«
Konrad Sterzing wechselte einen schnellen Blick mit seiner Frau und rollte die Augen. »Geh zu Bett, Julia, ich will nichts mehr davon hören.«
Spät in der Nacht wurde Simon plötzlich aus dem Schlaf gerissen. Melchior packte ihn an den Haaren und schleuderte ihn gegen die Wand. Bevor Simon sich aufrappeln konnte, war der Bäckermeister über ihm und schlug ihm die Faust ins Gesicht. Er hörte seine Nase krachen, Blut schoss heraus. Ein Schlag in den Bauch ließ ihn sich zusammenkrümmen, gefolgt von einem Tritt in die Nieren. Ein lauter Schrei entfuhr ihm, und die Esel begannen, unruhig zu wiehern. Weitere Schläge und Tritte hagelten auf ihn ein. Melchior Bernbeck war rasend vor Zorn.
»Merk dir ein für alle Mal: Nie wieder wirst du dich in meinem Haus so benehmen!«
Er schlägt mich tot, fuhr es Simon durch Kopf.
Der nächste Hieb ließ alles schwarz werden.
Wie lange er besinnungslos gewesen war, vermochte er nicht zu sagen, als er langsam wieder zu sich kam. Durch die Ritzen der Stalltür konnte er fahles Licht erkennen. Er erinnerte sich, dass Vollmond war. Mühsam wollte er sich aufrichten, doch sein Schädel schien bei jeder Bewegung zerplatzen zu wollen, und jede Handbreit seines Körpers schrie vor Schmerz. Stöhnend blieb er liegen. Selbst das Atmen tat weh, vermutlich hatte Bernbeck ihm eine Rippe gebrochen. Auch sein Sehvermögen war beeinträchtigt, das linke Auge war zugeschwollen. Ganz vorsichtig hob er die rechte Hand und fasste an seine Nase, spürte ihre Schiefe unter seinen tastenden Fingern. Simon schloss die Augen, nahm seine Nase zwischen die gekrümmten Zeige- und Mittelfinger. Mit einem beherzten Ruck richtete er das gebrochene Nasenbein und unterdrückte einen Schmerzensschrei.
Seine Gedanken schwirrten. Keinen Tag wollte er hier länger bleiben. Aber was sollte er tun? Er könnte die Zunft anrufen. Meister Schlichting mochte ihn. Bestimmt würde er ihm helfen, eine andere Lehrstelle zu finden. Die Zunftordnung sah vor, dass bei übermäßiger Gewalt, zu langen Arbeitszeiten und Tätigkeiten, die mit der Ausbildung nichts zu tun hatten, ein Lehrling sich an das Schiedsgericht wenden konnte.
»Bernbeck hat mich übel zugerichtet, und ich schufte jeden Tag zu lange. Zudem lässt er mich andere Arbeiten verrichten, wie sich um die Esel zu kümmern, nur weil er zu geizig ist, einen Knecht einzustellen. Nicht, dass ich die Esel nicht mag, aber all dies sollte ausreichen, von der Zunft einen anderen Lehrmeister zugeteilt zu bekommen«, überlegte Simon hoffnungsvoll.
Diese Aussicht verlieh ihm die Stärke, sich trotz der Pein aufzurichten. Mit zitternden Beinen lehnte er an der Wand, hielt sich an einer Leiter fest, bis er sicher war, nicht umzufallen. Quälend langsam schlurfte er hinaus in den Hof, schöpfte Wasser aus dem Brunnen, kühlte sein Gesicht und machte sich in der aufziehenden Dämmerung auf zu Meister Schlichting.
Der Weg erschien ihm zweimal so lange wie sonst, doch schließlich erreichte er sein Ziel. Schlichting besaß ein stattliches dreigeschossiges Haus, die große Tür zur Backstube im Erdgeschoss stand offen. Für einen Augenblick lauschte Simon den Gesellen, die ein Lied angestimmt hatten.
»Uns vor allem auf der Welt,
das Bäckerhandwerk gut gefällt,
knet den Teig auf rechte Weise,
so erhält man gute Speise …«
So ging es also in einer Backstube zu. Gut gelaunte, fröhliche Menschen, die ihre Arbeit liebten und offenbar gerne zusammenarbeiteten. Wie anders war es doch bei Bernbeck. Simon pochte an die offen stehende Tür und machte einen Schritt in die warme, nach frischem Brot duftende Backstube.
»Grüßt euch Gott«, sagte er laut.
Die Gesellen sahen zur Tür, ohne ihre Tätigkeit zu unterbrechen. Einer knetete zwei Laibe auf einmal, der andere streute Mehl darüber, ritzte mit einem Messer die Oberfläche ein und schoss die Brote in den Ofen. Simon war beeindruckt, wie die beiden Hand in Hand arbeiteten.
»Was willst du, Junge?«, brummte der bärtige Mann am Ofen über die Schulter gewandt. Argwöhnisch betrachtete er die dunklen Blutflecken auf Simons Hemd. »Hungerleider sind nicht willkommen, geh und bettle woanders.«
»Ich bin kein Bettler«, erwiderte Simon, »ich bin ein Lehrjunge und suche Meister Schlichting.«
Die letzten Laibe wanderten in den Ofen, und die Männer wischten sich ihre bemehlten Hände an ihren Schürzen ab.
»Der Zunftmeister ist auf dem Weg zum Stadtrat«, gab der Bärtige Auskunft.
»Was willst du von Schlichting?«, fragte der andere, ein hagerer Mann mit einer wulstigen Narbe im Gesicht, und musterte ihn neugierig.
»Das kann ich nur dem Meister selbst sagen.« Simons Beine begannen zu zittern. Der Weg hierher hatte ihm einiges abverlangt.
»Er fällt uns gleich um, Karl«, warnte der Hagere und ging zur Tür, um Simon zu stützen.
Als er ihm den rechten Arm um die Körpermitte legte, stöhnte Simon auf.
»Ich glaube, eine Rippe ist gebrochen«, stieß er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor.
»Was prügelst du dich auch. Es gehört sich nicht für einen Lehrjungen. Und überhaupt, wo ist deine Schürze? Du weißt wohl, dass du ohne sie nicht aus dem Haus gehen sollst«, schimpfte der Bärtige.
»Lass ihn, Karl, ich habe so eine Ahnung, warum er zum Meister will. Setz dich hierhin, Junge.« Sanft ließ er Simon auf die gemauerte Bank an der Wand gleiten.
»Sei bedankt. Ich heiße übrigens Simon. Simon Reber.«
»Ich bin der Lois. Was ist mit deinem Gesicht geschehen, du siehst ziemlich schaurig aus.«
»Was schon? Er wird sich mit anderen gerauft haben«, fuhr Karl dazwischen und begann, kleine runde Wecken aus Roggenteig zu formen.
»Mein Meister …«, sagte Simon leise und schluckte.
»Dein Meister hat dir das angetan?« Lois pfiff leise durch die Zähne. »Hab ich’s mir doch gedacht. Siehst du, Karl?«
»Ein paar Ohrfeigen haben noch keinem geschadet, wer weiß, was er ausgefressen hat.«
»Das waren wohl nicht nur ein paar Ohrfeigen. Diese Narbe hier«, wandte er sich an Simon und zeigte auf den dicken roten Wulst, der sich von seinem Unterlid bis zum Kinn zog, »hat mir einst mein Lehrmeister verpasst. Er war sturzbetrunken und behauptete, ich hätte ihn bestohlen. Plötzlich hatte er ein Messer in der Hand und ist auf mich losgegangen.«
»Du hast Glück gehabt«, antwortete Simon. »Wann wird Meister Schlichting zurück sein?«
»Ich weiß nicht. Geh nach Hause und komm morgen wieder.«
»Kann ich nicht hierbleiben?«, flüsterte Simon, dem angst und bange wurde, wenn er nur daran dachte, zurückzugehen.
Lois schüttelte bedauernd den Kopf, und Simon erhob sich ächzend.
»Hier, nimm, du hast heute sicher noch nichts gegessen.«
Dankbar nahm Simon das Stück Brot entgegen, schenkte dem Gesellen ein trauriges Lächeln und verschwand.
Seine Füße trugen ihn zur Lilien-Apotheke. Vielleicht würde ihm Sterzing helfen, schließlich war dieser einer seiner Bürgen. Auf keinen Fall konnte er zurück zu Bernbeck.
Als er scheu den Laden betrat, befanden sich bereits eine Frau und ein Mann in der Offizin. Konrad Sterzing war mit beiden ins Gespräch vertieft und bemerkte den Neuankömmling nicht. Simon verzog sich in eine Ecke, hielt den Kopf gesenkt und lauschte dem Apotheker.
»Aquae vitae sind gesund und dienen der Verdauung. Nach dem Essen trinkt Ihr einen Schluck und werdet spüren, wie Euer Magen leichter wird. Zu viel auf einmal solltet Ihr aber nicht davon genießen.«
Das Ehepaar entschied sich für einen nach Kräutern schmeckenden Trank, bezahlte und verließ mit einem herzlichen »Ad Deum« die Apotheke. Simon war erstaunt, meist sagten die Leute nur noch ›Ade‹, kaum einer machte sich die Mühe, den Gruß ganz auszusprechen.
Scheu trat er auf Konrad Sterzing zu, der mit dem Rücken zu ihm gewandt hinter dem großen Tisch stand und seine Finger suchend über die Keramikgefäße im Regal gleiten ließ.
»Grüßt Euch Gott, Herr Apotheker«, brachte er trotz seines plötzlich trockenen Mundes hervor.
Sterzing drehte sich um und starrte ihn an, verblüfft und mitleidig zugleich, als er Simons geschwollenes Auge und der Blutspuren im Gesicht gewahr wurde. Doch dann verwandelte sich seine Miene. Die Augenbrauen waren so zusammengezogen, dass sie sich beinahe berührten, sein Mund glich einem dünnen Strich. Sterzing war zornig.
»Was willst du? Reicht es nicht, dass du deine Familie beleidigt hast? Für mich und die meinen war dein Verhalten beschämend.«
»Ich … ich«, Simon schluckte, »ich wollte Euch als meinen Bürgen um Hilfe bitten. Aber ich merke schon, es ist vergebens.«
»Melchior hat dich büßen lassen, weil du unverschämt warst. Und du hast die Tracht Prügel verdient. Leiste Abbitte bei deinem Stiefvater und Lehrmeister, das ist die einzige Hilfe, die ich dir geben werde.«
»Aber …«
»Vater, Mutter schickt mich, sie …«
Plötzlich erschien Julia in der Offizin, die Locken flossen über ihre schmalen Schultern, und ihre dunklen Augen wurden noch größer, als sie Simon erblickte.
»Oh, du bist es«, freute sie sich.
Simon hatte schnell den Kopf gesenkt, damit sie die Spuren, die Melchiors Schläge hinterlassen hatten, nicht sehen konnte.
»Julia, geh und sag deiner Mutter, ich bin gleich bei ihr. Und du«, wandte sich Sterzing an Simon, »verschwinde und tu, was ich dir geraten habe.«
Julia sah von einem zum anderen und rührte sich nicht. »Was geht hier vor?«
»Hast du nicht gehört, Julia, geh! Dasselbe gilt auch für dich, Simon.«
Sterzing riss die Tür auf und deutete mit dem Zeigefinger hinaus auf die Straße.
Er war noch nicht weit gekommen, als er Julia rufen hörte.
»Simon, warte!«
Die dunklen Locken wippten auf ihren Schultern, als sie eiligen Schrittes näher kam.
»Mein Vater wollte mir nichts sagen, also habe ich mich davongestohlen. Was ist mit deinem Gesicht geschehen? Tut es sehr weh?«, sprudelte es aus ihr heraus.
Sie hat das blaue Auge vorhin doch bemerkt, dachte Simon.
»Bernbeck hat mich halb totgeschlagen, weil ich es gewagt habe, die Wahrheit über seinen lausigen Sohn auszusprechen. Das ist geschehen.«
»Ich glaube dir, was du über Wulf gesagt hast. Die Worte kamen so plötzlich, dass sie einfach die Wahrheit sein mussten. Ich mag Wulf nicht, er ist zwar freundlich, aber er mustert mich, als ob ich ein Stück Vieh auf dem Markt wäre.«
»Er sagt, ihr beide hättet sehr viel getanzt und er hätte dich geküsst …«
Sie winkte ab. »Einen Tanz. Und der Kuss ist gelogen. Du warst nicht da, und ich habe dich vermisst. Warum bist du den Feierlichkeiten ferngeblieben?«
Die dunklen Augen sahen ihn fragend an, und Simon glaubte sich in ihnen zu verlieren. Wie in tiefen ruhigen Seen.
»Wir hatten Streit, Wulf und ich. Nicht zum ersten Mal. Bernbeck kam dazu und hat mir befohlen, die Arbeit allein zu machen, und verboten, zur Feier zu gehen.«
Mitfühlend nahm sie seine Hand. Warm und tröstlich fühlte sie sich an. Es tat gut.
»Was hast du nun vor?«, fragte sie und strich sich eine Locke hinter ihr linkes Ohr.
»Ich werde den Zunftmeister anrufen, vielleicht kann er mir helfen. Er war nicht in seiner Backstube, der Geselle sagte, ich solle morgen wiederkommen.«
»Und bis dahin? Wo willst du bleiben? Du wirst doch sicher nicht nach Hause wollen.«
Immer noch hielt sie seine Hand, und er wünschte, sie würde nie wieder loslassen.
»Irgendwo werde ich ein Plätzchen zum Schlafen finden, gut, dass es nachts nicht mehr so kalt ist.«
Mit ihrer Linken zupfte sie an ihrer Unterlippe. Dann strahlte sie ihn plötzlich an. »Komm mit«, sagte sie. »Ich bringe dich auf unseren Dachboden, dort bewahren wir die Vorräte auf und trocknen die Kräuter.«
»Damit handelst du dir viel Ärger ein, Julia. Ich komme schon zurecht.«
»Das lass mal meine Sorge sein. Nun komm schon.« Sie packte seine Hand fester und zerrte ihn hinter sich her.
»Und wie sollen wir ungesehen an deinem Vater vorbeikommen?«, zischte er.
»Es gibt eine Außentreppe«, entgegnete sie augenzwinkernd.
Während Julia Simon ein behagliches Plätzchen in einer Nische auf dem nach Kräutern und Gewürzen duftenden Dachboden einrichtete, eilte Melchior Bernbeck durch die Gassen der Stadt. Sein Weg führte ihn am Ziehbrunnen vor dem Rathaus mit dem gewaltigen Grafeneckart vorbei. Der Turm beherbergte Glocken, die bei Sturm und Feuer geläutet wurden, um die Bürger zu warnen, und tief in seinem Inneren befand sich das Lochgefängnis. Im Wenzelsaal, im Seitenflügel des Turms, fanden die Ratsversammlungen statt, und just in dem Augenblick, als die Turmuhr elfmal schlug, öffnete sich die Tür. Die Ratsherren traten hinaus in die Sonne, lüpften die Hüte zum Abschiedsgruß und zerstreuten sich. Melchior entdeckte die gedrungene Gestalt des Zunftmeisters und rief: »Sebastian, das trifft sich gut, ich war auf dem Weg zu dir.«