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Der Friede, der dann zustande kam, ist in allem das getreue Vorbild des Diktats von Versailles gewesen. Man hatte die Einzelheiten in Deutschland nur vergessen, sonst hätte man sich über Versailles nicht so sehr verwundert. In China wunderte sich kein Mensch darüber. Ohne dass man Deutschland für schuldig am Weltkrieg hielt, wusste man doch aus eigener Erfahrung, wie die Friedensschlüsse beschaffen sind, die Kulturnationen besiegten Gegnern zu diktieren pflegen. Auch im chinesischen Krieg spielte die Schuldfrage eine Rolle. Obwohl man während der ganzen Expeditionszeit die Fiktion aufrechterhalten hatte, dass man nicht gegen China, sondern nur gegen die Räuber kämpfe, weil sonst der Krieg unmögliche Dimensionen angenommen hätte, so musste nun doch die Regierung sich für alles verantwortlich halten. Statt dass man gemeinsam mit China Maßregeln beraten hätte, die eine Rückkehr ähnlicher Konvulsionen verhüteten, statt dass man daran gegangen wäre, eine Erschließung der ungeahnten Hilfsquellen Chinas durch sachgemäße Untersuchung zu ermöglichen, wobei alle Teile auf ihre Rechnung gekommen wären, begann zunächst ein widerliches Feilschen um die Köpfe von Großwürdenträgern und Prinzen, die man als Sühneopfer brauchte, wobei denn die groteske Situation sich ergab, dass man oft sogar die falschen Köpfe begehrte, Köpfe von Leuten, die sich für Schutz der Fremden und Mäßigung eingesetzt hatten: so schlecht war man informiert. Ungeheure Entschädigungen mussten bezahlt werden, die zu ihrer Amortisation fantastische Zeiträume brauchten und auf unabsehbare Zeit das große Reich unter die Finanzkontrolle der siegreichen Mächte stellten. Ein kaiserlicher Prinz musste persönlich nach Europa kommen, um sich wegen der Ermordung des deutschen Gesandten zu entschuldigen. Ein Ehrentor musste in der großen Hatamenstraße errichtet werden, auf dem in chinesischer und lateinischer Schrift der Frevel an dem deutschen Gesandten und seine Sühne verzeichnet stand – zum ewigen Andenken.
An der englischen Gesandtschaft aber ließ man ein Stück der von Kugeln durchlöcherten Mauer unberührt stehen und schrieb daran: »Lest we forget!« Diese Worte sind jedoch längst verblasst, und die Mauer ist mit Moos überzogen. Der Weltkrieg hat andere Feinde geschaffen und man ließ nicht nach, bis man China in diesen Krieg der Zivilisation gegen die deutschen Barbaren hineingezogen hatte. Bei der Friedensfeier versuchten betrunkene französische Soldaten den Kettelerbogen umzureißen, was ihnen jedoch misslang. Die chinesische Regierung hat ihn dann an sich genommen. Heute steht er am Eingang des Zentralparks, in dem sich die Jugend Pekings amüsiert und trägt wieder eine lateinische und eine chinesische Inschrift: »Dem Sieg des Rechts«. Man fragt sich im Grunde vergebens, was mit dem Recht gemeint ist, das gesiegt hat. Ist es der Gesandtenmord, der nun nachträglich unter allgemeiner Zustimmung der Alliierten sanktioniert werden soll? Oder sind es die Versprechungen, die man China beim Eintritt in den Krieg gemacht hat und die man bis auf den heutigen Tag nicht zu erfüllen gewillt ist? In Wirklichkeit wäre es im eigentlichen Interesse Chinas, wenn man diese volltönende Inschrift, die von den Tatsachen längst überholt ist, in aller Stille entfernen würde. Aber wie dem auch sei, auch diese Inschrift wird nicht ewig dauern.
Jene Zeit hatte auch in Schantung kleinere Störungen im Gefolge. Der Bau der Bahn von Tsingtau nach Tsinanfu war begonnen worden. Allein verschiedene Umstände wirkten mit, den Bahnbau in der chinesischen Bevölkerung sehr unbeliebt zu machen. Zum Teil herrschte noch der Aberglaube, der eine Störung der Ahnengeister fürchtete, zum Teil hatte man – wie sich später herausstellte – sehr berechtigte Befürchtungen, dass die Überschwemmungsgefahr für gewisse tiefliegende Landstriche durch den Bahndamm vermehrt werde, zum Teil gab es Missverständnisse zwischen Bahnangestellten und Bevölkerung.
Kurz, es kam zu Störungen des Bahnbaus, in deren Folge eine militärische Expedition ins Hinterland Tsingtaus nach Kaumi ausgerüstet wurde.
Hier kam es nun zu äußerst bedauerlichen Konflikten zwischen europäischer und asiatischer Denkweise. Als die deutschen Truppen anrückten, schlossen die Dörfer ihre Tore zu und begannen mit ihren vorsintflutlichen Kanonen in die Luft zu schießen, wie sie das gewohnt waren, wenn Räuber um den Weg waren. Wie erstaunten sie jedoch, als die deutsche Artillerie sich davon nicht erschrecken ließ, sondern wiederschoss, und mit welch vernichtendem Erfolg! Die Frauen und Kinder wollten nun zu einem Seitentor hinaus entfliehen. Aber von deutscher Seite hielt man die Frauen in ihren roten Hosen für Boxer und nahm sie unter Maschinengewehrfeuer. Unterdessen begann auch ein entferntes Dorf seine Böller zu lösen. Die Deutschen zogen ab, um jenes Dorf in Brand zu schießen. Als sie zurückkamen, waren die Boxer, die im ersten Dorf den Widerstand organisiert hatten, entkommen und die eingesessene Bevölkerung hatte die Not des Krieges zu erdulden.
Ich hörte in Tsingtau von diesen Dingen. Ich war überzeugt, dass es sich um gegenseitige Missverständnisse handle. Und trotz Abreden bedenklicher Freunde entschloss ich mich, in die Gegend zu reisen, um zu versuchen durch Vermittlung Menschenleben zu retten.
Es gab nun viel zu tun und zu besprechen. Da alle Verhandlungen auf Chinesisch geführt werden mussten, so lernte ich in jenen Wochen ganz von selbst die chinesische Sprache meistern. Besonders aufregend war die Geschichte eines entfernten Dorfes, das der Aufforderung, die Waffen abzuliefern nicht Folge zu leisten gewagt hatte. Schon war ein Strafzug geplant. Mit Mühe erreichte ich Aufschub bis zum nächsten Morgen. Ich ging zum Ortsbeamten und teilte ihm die Lage mit. »Dem dummen Volk, das noch immer nichts gelernt hat, ist nicht zu helfen«, war seine Antwort. Da musste ich ihn recht ernst an seine Verantwortung erinnern. Noch in derselben Nacht wurden reitende Boten abgesandt. Am nächsten Morgen zählte ich mit Aufregung die Stunden. Schon war die Strafabteilung zum Aufbruch fertig. Ich hatte Nachricht, dass die Waffen kommen und konnte sie noch einige Minuten zurückhalten. Endlich verlor der Offizier die Geduld und wollte eben den Befehl zum Abmarsch geben. Da tauchten die Leute auf dem nächsten Hügel auf. Sie hatten ihre Waffen getreulich mitgebracht. Verrostete Schwerter und Donnerbüchsen und ein paar alte Mörser, aus denen man steinerne Kugeln ein paar hundert Meter weit schleudern konnte. Man war aber damals sehr scharf darauf aus, die Entwaffung wirksam durchzuführen.
Schließlich gelang es mir, die Vertreter aller Dörfer des Kreises zusammenzubringen. Sie hatten ihre Waffen abgeliefert und ich konnte ihnen die Beruhigung geben, dass sie künftig geschont werden sollten. Noch lange hatte ich mit meinen Gehilfen zu tun, die Verwundeten, namentlich Frauen und Kinder, zu verbinden und zu versorgen. Eine rührende Dankbarkeit der Bevölkerung war die Folge. Eine Menge von seidenen Ehrenbehängen wurde mir überreicht, in denen die Leute für ihre Rettung dankten und schließlich wurde mir auf Antrag des Provinzialgouverneurs von der chinesischen Regierung sogar der Rangknopf eines Mandarins verliehen.
Auf die Boxerzeit folgte eine Zeit sehr starker Gegenströmung. Waren früher die Christen verfolgt worden, so suchten sie sich jetzt an ihren Feinden mit Hilfe der Missionare zu rächen. Ja, gar mancher schloss sich an eine Kirche an, um auf diese Weise einen Prozess, den er mit seinen Nachbarn hatte, wirksam unterstützen zu lassen. Denn wenn es gelang, den Nachbarn als früheren Boxer zur Anzeige zu bringen, so war sehr viel zu hoffen.
Solche Erfahrungen ließen mich eine ganz neue Missionsmethode für China bevorzugen. In einem Land wie China wird es dem Europäer selten gelingen, die moralische Höhenlage eines Christen, den er taufen soll, vollkommen zu durchschauen. Dennoch übernimmt die Kirche die Verantwortung für ihre Mitglieder und nichts schadet dem Christentum in China mehr als ein zweifelhafter Lebenswandel seiner Bekenner. Denn nicht die Lehre macht den Menschen groß, sondern der Mensch macht die Lehre groß. Die katholische Kirche, der die einzelne Generation nichts ist, rechnet mit diesen Faktoren. Sie nimmt unbedenklich auch zweifelhafte Elemente auf in der festen Zuversicht, dass die Kinder und Enkel solcher Konvertiten einst gute Christen werden. Der Individualismus der Protestanten lässt solche langfristigen Wechsel nicht zu.
Aber eben deshalb schien es mir richtiger, mich auf das einfache Leben nach christlichen Grundsätzen zu beschränken, durch Schule und Hospital zu wirken, mit den Menschen zusammenzuleben und ihnen innerlich nahe zu kommen, indem ich es dem Wirken des Geistes überließ, was sich daraus gestalten würde. Eine Kirche in einer Kulturnation kann sich nur von selbst konstituieren, sie kann nicht unter der Leitung von Fremden – oft solchen von niedriger gesellschaftlicher Bildung und ohne Takt – stehen, ohne selbst zur Inferiorität verdammt zu sein. So habe ich denn niemand in China getauft und bin dem Wesen des chinesischen Volkes vielleicht eben dadurch umso näher gekommen. Und ich habe nie Konflikte gehabt wegen eines Anhangs unerwünschter Konvertiten.
Zum Schluss sei noch eine Frage beantwortet, die gegenwärtig häufig gestellt wird. Weil nämlich um die Jahrhundertwende viele Kenner einen Ausbruch vorausgesagt hatten, der von den leitenden Kreisen nicht geglaubt wurde, dünken sich auch heute manche Menschen besonders klug, wenn sie einen neuen Boxeraufstand für die nächste Zukunft weissagen. Der Nachtmahr von der gelben Gefahr gehört ebenfalls in dieses Gebiet. In Wirklichkeit aber darf man ziemlich beruhigt sein. Der Boxerkrieg beruhte einerseits auf nationaler Begeisterung und religiösem Fanatismus; aber um solche Dimensionen annehmen zu können, wie er es getan hat, gehörte auch die ganze geografische Unwissenheit jener Zeit dazu. Heute aber kennt man in China etwas von der Welt. Man weiß, dass die Fremden nicht spärliche Bewohner ferner Inseln sind, sondern reale Mächte, mit denen man rechnen und sich auseinandersetzen muss. Diese Auseinandersetzungen können vielleicht noch manche Überraschung bringen, aber einen Ausbruch der »Faust zum Schutz der öffentlichen Ruhe« wird es nicht mehr geben.
Drittes Kapitel
Die chinesischen Reformen
Die Boxerzeit war der Anfang des Neuen in China. In einem heftigen Fieberparoxismus war die chinesische Reaktion zusammengebrochen. Gegen die europäischen Kanonen halfen keine geheimen Waffensegen. Das war vor aller Augen sichtbar geworden. Nun kam der große Umschwung. Die Kaiserin-Witwe Tsi Hsi kam aus ihrer Zuflucht im fernen Westen wieder nach ihrer Hauptstadt Peking zurück. Es war ein Triumphzug. Die Damen der Gesandtschaften hatten es sich nicht nehmen lassen, das Schauspiel mit anzusehen. Noch vor kurzem gehasst als schlimmster aller Teufel, der die Europäer ausrotten wollte, wurde sie nun zum Gegenstand der allgemeinen Neugier. Auf dem Tsiänmen, dem großen Südtor der inneren Kaiserstadt Peking, standen die Damen versammelt, als die alte Frau die meilenlange, kerzengerade Südstraße der äußeren Chinesenstadt in ihrer gelben Sänfte in kaiserlichem Pomp herangetragen wurde. Sie wurde nicht einmal böse über diesen Verstoß gegen die altheiligen Gesetze, die vorschrieben, dass alles Volk sich in den Häusern verbergen musste, wenn die Sänfte des Herrschers durch die Straßen getragen wurde. Sie brachte ihre Opfer dar in den beiden kleinen roten Tempelchen mit den gelbglasierten Dächern, die das Südtor flankieren, von denen das eine der Kuanyin, der Mutter der Barmherzigkeit, und das andere dem Schutzgenius der Dynastie, Kuanti, geweiht ist. Ja, sie winkte freundlich nach oben, als sie die fremde Versammlung dort sah, und die Gesandtschaftsdamen winkten begeistert mit den Taschentüchern.
Aber die alte Herrscherin hatte aus den Erlebnissen gelernt. Sie, die früher der Schrecken auch der mächtigsten Satrapen gewesen war, von denen keiner ohne Zittern vor dem Throne kniete, gefiel sich nun in der Rolle der gütigen Mutter. Der alte Bodhisatva Kuanym wurde sie genannt. Sie trug bei einem Hoffest die Gewänder der Gottheit Kuanyin, die ihrem Herzen so nahe stand, und ließ sich auch so mit ihren Hofdamen und ihrem Lieblingseunuchen fotografieren. Miss Carl, die amerikanische Malerin, die noch jetzt die Gesellschaft Pekings ziert, wurde berufen, ein Ölgemälde von der betagten neuen Heiligen anzufertigen. Die ganze Zeit über wurde ihr ein Schloss in einem prächtigen Park angewiesen mit Hunderten von Dienern in der Nähe des Altersaufenthaltes der Herrin, des Sommerpalastes I Ho Yüan (Park der öffentlichen Ruhe), der wegen des fatalen Anklangs an die Boxerzeit nun Wan Schou Schan (Berg der zehntausendjährigen Lebensdauer) genannt wurde. Für die fremden Damen wurden Teegesellschaften veranstaltet. Fern lagen die Zeiten, in denen darum gekämpft wurde, ob die fremden Barbaren von der Kniebeugung, mit der jeder Chinese seinen Herrscher ehrte, befreit werden könnten in Anbetracht ihrer verstockten Unwissenheit, oder ob die geheiligten Formen des Altertums auch von den Fremden zu wahren seien. Jetzt konnten alle kommen, groß und klein, alt und jung. Lächelnd übersah die gütige Mutter die Unzulänglichkeiten ihrer fremden Gäste in Beziehung auf Ordnung und Sitte, und diese waren für ihr Leben lang beglückt, wenn sie die goldenen Schutzhülsen der prächtigen langen Fingernägel der zierlichen Frauenhand küssen durften, deren Wink schon so vielen Hunderten den Kopf gekostet hatte.
Aber die Fürstin ließ es nicht bei Äußerlichkeiten bewenden. Sie nahm die Reform, die sie so heiß bekämpft hatte, nun selber in die Hand.
Der Übergang Chinas aus der alten in die neue Zeit vollzog sich in mehreren Stufen, die sich über mehr als ein halbes Jahrhundert hin erstreckten. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts hatte der Kriegeradel der Mandschus, der bis dahin an den entscheidenden Stellen des Reichs gesessen hatte, seine alte Kraft und Ursprünglichkeit verloren. Er war versunken in den Genuss der Macht und üppiges Wohlleben, wie das gegen Ende der verschiedenen Herrschergeschlechter in China zu geschehen pflegt. Im Süden, in Kanton, war ein durchgefallener Examenskandidat, der viel mit christlichen Missionaren verkehrt hatte, aufgetreten, um das Reich des großen Friedens zu begründen. Gleichzeitig mit der Änderung der Dynastie sollte eine Änderung der Religion erfolgen; das Christentum sollte von nun an über China herrschen. Er hatte himmlische Offenbarungen und wusste, dass er der jüngere Bruder Christi sei. Wie ein Sturmwind fegte der Aufruhr durch die morschen Wälder. In einem immer mehr durch Raub und Verwüstung gezeichneten Siegeszug durchtobte er das Land. Die südliche Hauptstadt, Nanking, fiel in die Hände der Aufständischen, die dort die Hauptstadt ihres neuen Reichs T’ai P’ing, des großen Friedens, einrichteten. Der Mandschu-Adel hatte vollständig den Kopf verloren und stand wehrlos diesem Ungewitter gegenüber. Und als sei die Natur selbst gegen das Herrscherhaus, so trat die Sorge Chinas, der Gelbe Fluss, aus seinen Ufern und überschwemmte einmal wieder die weite Tiefebene, die sich um die Halbinsel Schantung im Westen herumlegt. Jahrelang dauerte es, bis die Wasser sich verlaufen hatten. Da ward auch das Bett des großen Flusses trocken, und erst allmählich gelang es, ihn in dem stark angeschwollenen Tatsin-Ho wiederzuerkennen. Während er früher südlich der Halbinsel Schantung ins Gelbe Meer sich ergossen hatte, fließt er nun seit siebzig Jahren nördlich davon in den Golf von Tschïli. – Es ist eine Umwälzung, wie wenn etwa die Elbe von da ab, wo sie aus Böhmen nach Deutschland eintritt, die ganze norddeutsche Tiefebene überschwemmen und dann nachher im Bett der Memel sich ins Kurische Haff ergießen würde. Das Herrscherhaus schien vor dem Ende zu stehen.
Da erhob sich ein Retter aus der Klasse der Literaten: Tsong Kuo Fan. Er erzählt, wie sie ihre langen Literatengewänder ausgezogen und Kriegerkleidung angelegt. »Ich ließ durch unsere jungen Gelehrten die Bauern befehligen um den Frieden des Reichs herzustellen«, sagt er einmal. So gelang es, des Aufstandes Herr zu werden und außer ihm noch andere gefährliche Bewegungen niederzuwerfen, die im Norden, Westen und Süden sich erhoben hatten. Bekanntlich waren bei der Niederwerfung dieses Aufstandes auch einige europäische und amerikanische Bandenführer in chinesischen Diensten tätig, über die der edle Gordon sowohl an Tüchtigkeit als auch an Charakter weit hervorragte. Die Taiping-Rebellen wurden von Position zu Position zurückgetrieben. Schließlich waren sie in Nanking eingeschlossen und es entspann sich nun das Schauspiel eines ausgehungerten religiösen Fanatismus, das in allen Stücken auf das merkwürdigste an das Los der Wiedertäufer in Münster erinnert.
Nun galt es, einmal die Trümmer des Reichs neu zu organisieren und andererseits Mittel und Wege zu finden zur Anpassung der chinesischen Welt an die neue Zeit und ihre Anforderungen. Das erste gelang mit bewundernswürdiger Schnelligkeit. Als die chinesischen Literaten in die Bresche getreten waren, taten sie es keineswegs aus sklavischer Unterwürfigkeit unter das landesfremde Geschlecht der Mandschus. Sie taten es, weil die Herrscher dieses Geschlechts sich mit der alten chinesischen Kultur identifiziert hatten. Man findet in der chinesischen Geschichte wenige Herrscher, die so groß und rein die wesentlichen Ideen des Konfuzianismus vertreten haben wie z. B. der Mandschuherrscher, der unter der Devise Kanghsi von 1662 bis 1723 das Reich regierte. Dass die Mandschus von diesen Grundsätzen einer hohen und strengen Staatsmoral abgewichen waren, hatte zum Zusammenbruch geführt. Nun galt es, das Reich nach diesen Grundsätzen neu zu organisieren. So ging der wesentliche Einfluss aus den Händen der vornehmen Mandschugeschlechter auf die Klasse der chinesischen Gelehrten über, die in Tsong Kuo Fan ihr geistiges Haupt verehrten. Die Größe der Kaiserin-Witwe war es, dass sie diese Bewegung stützte und förderte. Tsong Kuo Fan hatte in Tso Tsung T’ang, Li Hung Tschang u. a. Gehilfen, die mit bemerkenswerter Fähigkeit die schwere Aufgabe der Reorganisation des Reichs durchführten. Damals sind Dinge erreicht worden, die in der ganzen vieltausendjährigen Geschichte vergebens erstrebt worden waren. Durch das Wirken dieser Männer ist die Gefahr der Mohammedaneraufstände, die zu verschiedenen Malen den Bestand des Reichs bedrohten, endgültig beseitigt worden. Das große und zukunftsreiche Gebiet von Chinesisch-Turkestan kam unter dem Titel Sinkiang (Das neue Gebiet) unter die unmittelbare Verwaltung der Zentralregierung. Die Ureinwohner im Süden wurden endgültig zur Ruhe gebracht. Eine Zeit des inneren Friedens folgte, während der die Bevölkerung des chinesischen Reiches nach den besten zugänglichen Quellen auf eine bisher ungeahnte Höhe stieg. Man darf diese positiven Seiten nicht vergessen, wenn man sich von dem China des 19. Jahrhunderts, das sich den Europäern gegenüber immer wieder versagte, ein richtiges Bild machen will.
Die andere Aufgabe freilich, vor die die chinesische Regierung gestellt war, misslang. Tsong Kuo Fan lebte in den konfuzianischen Vorstellungen des chinesischen Mittelalters. Für ihn und die Seinen waren die westlichen Ideen, die im Taipingaufstand so unerwünschte Früchte gezeitigt hatten, etwas zu Meidendes. So fand er kein Verhältnis zu diesen Problemen. Li Hung Tschang, der ihm als Senior der Gelehrten folgte, hatte lässlichere Anschauungen. Er hatte schon während der Taipingrebellion Europäer kennengelernt, schätzte sie aber nicht hoch. Die Söldner waren geldgierig und roh gewesen. Der Einzige, der moralisch ganz auf der Höhe stand, war Gordon. Aber der schien ihm andererseits zu doktrinär, indem er kategorisch verlangt hatte, dass man auch einem Rebellen gegenüber unbedingt sein Wort halten müsse. Li Hung Tschang war in diesen Dingen eher ein Renaissancemensch und hatte die gefangenen Rebellen, die Gordons Ehrenwort hatten, ohne Zögern hinrichten lassen. Alles in allem war er der Meinung, dass das Problem der Anpassung an den Westen leicht zu lösen sei. Die europäischen Waffen hatten in den Kriegen der Westmächte gegen China und im Taipingaufstand ihre Überlegenheit gezeigt; es handelte sich also nur darum, europäische Waffen einzuführen, um die Bedürfnisse der Regierung zu decken. Es kam die Zeit der großen Waffenankäufe Chinas und der Anstellung fremder Militärinstruktoren, von denen mancher, wie z. B. Faltenhayn, sich später einen Namen gemacht hat. In jener Zeit wurde die Marineschule in Futschou und das Arsenal in Schanghai2 gegründet. Damals wurden von seiten des Schanghaier Arsenals auch die ersten Bücher über westliche Wissenschaften ins Chinesische übersetzt. Diese Übersetzungen lassen freilich sehr viel zu wünschen übrig, ganz ähnlich wie die ersten Übersetzungen von Missionaren, aber sie waren wenigstens ein – wenn auch zunächst noch recht wenig beachteter – Anfang einer Umgestaltung des chinesischen Geisteslebens.
Dann kam der japanische Krieg, durch den klar erwiesen wurde, dass die Waffen allein nicht ausreichen, sondern dass hinter den Waffen der entsprechende Geist stehen müsse. So begann denn nach Li Hung Tschangs Niederlage die zweite Periode in der Umgestaltung der chinesischen Kultur. Diese Periode zeigt bedeutende Schwankungen, und von den Führern der Bewegung sind manche später wieder in andere Richtungen übergegangen oder wurden in der Welt zerstreut.
Während dieser zweiten Periode lag ein Mittelpunkt der Reform am Yangtse in der alten Stadt Wutsch’ang, die mit Hank’ou und Hanyang zusammen die große Millionenstadt Chinas bildet. Hier saß der Generalgouverneur Tschang Tschï Tung, vielleicht neben Li Hung Tschang der bedeutendste der alten chinesischen Beamten. Aber während Li Hung Tschang mehr ein Mann der Praxis war, der weniger Wert auf Feinheit und Schönheit legte als auf das, was von unmittelbarem Nutzen war, lebte in Tschang Tschï Tung der Geist des mittelalterlichen Konfuzianismus mit seinem Bedürfnis nach Feinheit und Form.
Darum war die Reformbewegung, die von Tschang Tschï Tung ausging, ganz anderer Art. Erst gehörte er zu einer reaktionären Bewegung, der sogenannten Ts’ing Liu Tang, die den alten chinesischen Geist gegen die neue Zeit verteidigen wollte. Ku Hung Ming, der lange Jahre Sekretär bei Tschang Tschï Tung war und trotz seiner europäischen Erziehung sich durch fanatische Anhänglichkeit an das Alte und grimmige Feindschaft gegen alles Fremde auszeichnet, erzählt von dieser Bewegung, die er mit der Oxford-Bewegung in England vergleicht3. Er überschätzt ihre Bedeutung. Eine Handvoll literarischer Ideologen suchte eine Reaktion in die Wege zu leiten, ohne der Sache gewachsen zu sein. Die ganze Bewegung scheiterte kläglich und bedeutet kaum eine Episode in der Geschichte der chinesischen Reformen.
Tschang Tschï Tung wandte sich denn auch rechtzeitig von diesen Versuchen ab und wandte sich den jungen aufstrebenden Kantonesen K’ang Yu We, Liang K’i Tsch’ao u. a. zu, die, ohne selbst im Westen gewesen zu sein oder eine europäische Sprache zu sprechen, dennoch davon durchdrungen waren, dass ein Geist strenger Kritik die eigene Kultur zu prüfen habe und dass unter allen Umständen eine Europäisierung der ganzen Gesetze und der Staatsverwaltung notwendig sei. Durch seine Empfehlung erlangten die jungen Reformer das Ohr des Kaisers Kuanghsü, der seit 1889 die Zügel der Regierung in der Hand hatte und seit kurzem sich auch von dem moralischen Einfluss seiner Tante, der Kaiserin-Witwe Tsi Hsi, loszumachen im Begriff war. Und nun beginnt, nachdem das alte System Li Hung Tschangs zusammengebrochen war, die Reformära von 1898. Edikt folgte auf Edikt. Die alten Prüfungen, die seit Jahrtausenden das Sieb waren, durch das die Beamten aus der Masse der Bevölkerung herausgesiebt worden waren, wurden abgeschafft. Schulen nach westlichem Muster sollten allenthalben gegründet, das ganze Staatswesen sollte nach westlichem Muster reformiert werden. Eine allgemeine Bestürzung war die Folge.
Tschang Tschï Tung war in der größten Verlegenheit. Er schrieb die berühmte Abhandlung über die Notwendigkeit des Lernens. Hier suchte er einen Kompromiss zwischen dem Alten und dem Neuen. Die altheiligen Lehren des Konfuzianismus sollten nach wie vor das unverbrüchliche Heiligtum der Seele bleiben. Hier sollte kein Geist der Kritik, kein Utilitarismus und Positivismus Eingang finden. Aber in einer Welt der Hässlichkeit, da die Gemeinheit mit Macht verbunden war, sei es nötig, dass man die Methoden, die Macht verliehen, sich aneigne, um staatlich seinen Platz auf Erden zu wahren. Im Zentrum konfuzianisch und moralisch, im Äußeren europäisch und mächtig, das war die Auskunft, die der greise Gelehrte in seiner Verlegenheit fand.