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Die Sache hatte nur einen Haken. Der Betrag der nationalen Anleihe, die für den Bau der Bahn zusammengekommen war, sollte wieder zurückgegeben werden. Dabei zeigte es sich, dass bedeutende Veruntreuungen vorgekommen waren und die Geldgeber lange nicht den einbezahlten Betrag zurück erhielten. So gärte es in der Tiefe weiter.
Dazu kam noch ein anderer Umstand. Schon seit Jahren war eine Revolutionspartei am Werk, die das, was dem Taipingaufstand misslungen war – die Beseitigung der Mandschudynastie – vollenden wollte. Es waren meist junge Studenten, die in Japan und Amerika moderne und republikanische Ideen in sich aufgenommen hatten. Abermals ein Kantonese Sun Wen (Sun Yat Sen), ursprünglich in einer Missionsanstalt als Arzt ausgebildet, war der Leiter dieser Bewegung. Vom Schicksal auf die mannigfaltigste Weise umhergetrieben, hatte er durch seinen Idealismus und den starken persönlichen Einfluss, der von ihm ausging, namentlich in der Jugend einen großen Anhang gewonnen, und bis zu seinem Tode hat er trotz aller Misserfolge und Rückschläge diesen Einfluss in den Herzen der Jugend nicht verloren. Denn er war der Einzige unter den öffentlichen Männern Chinas, der, wenn er auch nicht immer ganz auf der Höhe seiner Prinzipien stand, doch im Großen und Ganzen eine Idee bis zu seinem Tode vertreten hat. Diese Idee war einmal die nationalistische: China für die Chinesen, nicht für einen Kaiser, am wenigsten für einen aus fremdem Stamm wie die Mandschuherrscher, nicht für die Fremden zur Ausbeutung, sondern frei und selbstständig. Auch innerhalb Chinas sollte nicht ein Teil über den anderen herrschen – bisher hatte doch stets der Norden das Übergewicht gehabt, sondern gleichberechtigt sollten die verschiedenen Provinzen und Stämme einander gegenüberstehen, mit vollem Recht lokaler Selbstverwaltung, nur zusammengeschlossen zu einem Staatenbund, etwa nach amerikanischem Muster. Mit diesen politischen Gedanken verband er auch soziale. Eine Industrialisierung Chinas im großen Stil gehört zu seinem Programm, aber diese Industrialisierung soll so vor sich gehen, dass die Gedanken des Sozialismus dabei voll zu ihrem Recht kommen.
Diese revolutionären Ideen waren an sich dem chinesischen Wesen ganz fremd. Der nationale Gedanke war in China im Lauf der Geschichte längst überwunden worden. Im Altertum hatte es auf chinesischem Boden auch Nationalstaaten gegeben, die sich aus dem großen Feudalgebilde des heiligen chinesischen Reichs der Tschoudynastie heraus entwickelt hatten. Während der Jahrhunderte der »kämpfenden Reiche«, die der Zusammenfassung Chinas in eine Beamtenmonarchie unter Ts’in Schï Huang Ti (etwa 250 v. Chr.) vorangingen, hatte es nicht an nationaler Gesinnung und nationalen Kämpfen gefehlt. Aber das lag weit zurück. Längst war der Orbis terrarum, die Welt, als höchste Einheit an die Stelle der Nation getreten. Das hatte sich zunächst auch nicht geändert, als Europa in den Gesichtskreis Chinas eintrat. Man hatte von jeher gewusst, dass China nur das Mittelreich war, dass außen herum mehr oder weniger widerspenstige Barbarengebiete und Inseln lagen. Japan war als Seeräubernation schon lange bekannt, nun kamen noch andere dazu. Das war unangenehm, aber nichts Unerhörtes. Erst der Boxerkrieg hat mit diesen Vorstellungen aufgeräumt. Die jungen Studenten hatten entdeckt, dass es außer der alten chinesischen Welt noch eine andere, größere gebe. In dieser Welt war China eben eine Nation unter vielen, eine Nation groß an Gebiet und reich an Menschen, versehen mit fruchtbarem Land und Schätzen des Bodens mehr als irgendeine andere, und doch misshandelt und gequält von allen Seiten, verachtet und beiseite geschoben und an politischem Einfluss noch nicht einmal so mächtig wie die Schweiz. Alle diese Missstände wurden der Regierung zugeschrieben, die in den Händen eines ungebildeten, fremden Volksstammes sich befand, der in trägem Wohlleben am Mark des chinesischen Volkes zehrte. Daher kam jene Hassstimmung unter den jungen Leuten, die sich gleichmäßig gegen die Fremden wie gegen die eigene Regierung richtete. Die chinesischen Christen standen der Revolution durchaus sympathisch gegenüber. Viele der revolutionären Führer sind selber Christen, denn die christliche Kirche, besonders die evangelische, die unter sehr starkem amerikanischem Einfluss steht, stand dem Gedanken der Demokratie an sich nahe. Auch hatten die Christen so viel unter dem Druck der alten Regierung zu leiden gehabt, dass eine Umwälzung für sie Befreiung bedeutete.
In der Masse der Bevölkerung dagegen hatten die revolutionären Gedanken zunächst wenig Anklang gefunden. Der gute Bürger hielt sich fern von ihnen. Sie untergruben ja nicht nur die Autorität des Staates, sondern auch der Familie.
Aber die Revolutionäre gingen sehr aktiv vor. Gelegentlich veranstalteten sie lokale Unruhen. Sie fanden immer mehr Anklang bei der studierenden Jugend, auch mancher missvergnügte Beamte, der sich ungerecht behandelt fühlte, neigte im Stillen ihnen zu. Besonders unter dem Militär fanden sie Eingang. Dennoch verhielt sich die Regierung ihnen gegenüber zurückhaltend. Ihre ausgesprochene Fremdenfeindlichkeit war manchem Beamten in der Stille vielleicht gar nicht so unangenehm. Andere wieder wollten sich die Finger nicht verbrennen, da der Terrorismus, den sie ausübten, seinen Eindruck nicht verfehlte. Diese zögernde Haltung der Regierung vermehrte natürlich nur den Mut der Revolutionäre.
Zwei Umstände waren es, die ihnen schließlich in einer Weise, die selbst ein gesteigerter Optimismus nicht voraussehen konnte, Einfluss verschafften. Die Missernten der vorhergehenden Jahre hatten schwere Not über weite Gebiete Chinas gebracht. Missernten sind immer etwas Schlimmes. Die Masse der Bevölkerung, die nur eben existieren kann, wenn alles gut geht, kommt durch Missernten stets in Not. Viele gehen zugrunde. Andere suchen als Räuber ihr Leben zu fristen. Und es entsteht ein Murren gegen den Kaiser, der als Himmelssohn dafür verantwortlich ist, dass das Volk seinen Lebensunterhalt findet.
Das alles wirkte nun zusammen. In Setschuan brach ein Aufstand los. In Wutsch’ang erhob sich das Militär. Ein Offizier, Li Yüan Hung, wurde von seinen Truppen zum Führer der Bewegung erhoben.7 Der Aufstand verbreitete sich wie ein Lauffeuer.8 Die Luft war voll von Revolution, und ihre Gegner verloren die Besinnung. Die kaiserlichen Beamten haben zum größten Teil, soweit sie nicht offen ins revolutionäre Lager übergingen, ihre Stellungen fluchtartig verlassen. Sie wandten sich nach Hongkong, Schanghai, Tientsin und ganz besonders nach Tsingtau: überall dahin, wo sie vor dem Ansturm der Revolutionäre sicher sein konnten. Dieser fluchtartige Rückzug der Großwürdenträger ist eine sehr außerordentliche Erscheinung und ist ihnen von europäischer Seite vielfach als Feigheit ausgelegt worden. In Wirklichkeit lagen die Dinge anders. Ganz ähnlich wie die deutsche Revolution war die chinesische nicht nur ein Sieg der revolutionären Partei, sondern ein Zusammenbruch der Monarchie in sich selbst. Wo von oben her die klaren Direktiven fehlen, ist es den Beamten unmöglich, stark zu sein, weil sie keinen Augenblick sicher sind, wie weit sie in ihren Handlungen von der kopflos gewordenen Zentralregierung überhaupt noch gedeckt werden. Die chinesischen Beamten haben sich während der Revolution zurückgezogen und die konsequenteren unter ihnen verharren bis an ihr Ende in selbstgewählter Verbannung. Aber keiner von ihnen hat Memoiren veröffentlicht.
Allein die Sache der Dynastie war keineswegs verloren. Die Nordtruppen waren im Allgemeinen treu geblieben und begannen auf der ganzen Linie siegreich vorzurücken. Aber das lag nicht im Interesse des stillen Anglers Yüan Schï K’ai, dessen Weizen nun zu reifen begann. Er hatte nämlich bei Hofe seine Beziehungen. Als die Dinge nun gefährlich wurden, trat der alte Prinz K’ing, sein Freund, auf und sagte: »Wir brauchen einen starken Mann, und der einzige, der es kann, ist Yüan Schï K’ai. «
Diese Behauptung blieb nicht unwidersprochen. Man fürchtete sich vor ihm. Aber schließlich wurde er zurückberufen und sollte in Gemeinschaft mit den Generälen, die schon die ersten Waffenerfolge errungen hatten, das Weitere in die Hand nehmen. Er blieb zu Hause. Darauf wurde ihm die militärische Oberleitung im Aufstandsgebiet und der Posten eines Generalgouverneurs übertragen. Er versprach zu kommen. Gleichzeitig nahm er unter der Hand Kontakt mit den Führern des Aufstandes auf. Er wurde nach Peking berufen und zum Chef des neu zu bildenden Kabinetts ernannt. Da kam er.
Mit ein paar energischen Maßregeln brachte er den Norden, wohin die Revolution sich auch auszudehnen begonnen hatte, wieder in seine Hand. Er konstituierte ein Ministerkabinett aus den disparatesten Elementen, das nie zusammen getreten ist. Er berief eine konstituierende Versammlung, nachdem ein Waffenstillstand mit den Revolutionären abgeschlossen war. Diese Versammlung kam nicht zustande, da die Volksregierung ihrerseits in Schanghai tagte. Er rief die siegreich vordringenden Truppen zurück und begann mit der revolutionären Regierung zu verhandeln.
Was jetzt folgt, ist ein überlegenes Ränkespiel, wodurch bewirkt wurde, dass das Mandschuhaus schrittweise zum freiwilligen Verzicht auf den Thron bewogen wurde zugunsten Yüan Schï K’ais, während auf der anderen Seite der neugewählte Präsident der Republik China, Sun Yat Sen, auf den Präsidentenposten verzichtete, ebenfalls zugunsten von Yüan Schï K’ai. Dabei halfen ein englischer Gesandter und ein amerikanischer Missionar lebhaft mit. Denn die Stimmung des Auslandes war schließlich ausschlaggebend gewesen für die Entscheidungen des Hofes. Der Grund für diese Haltung lag darin, dass Yüan Schï K’ai einerseits der typische starke Mann und andererseits ehrgeizig und verräterisch war, so dass er alle Eigenschaften hatte, die dem Europäer die Größe des Staatsmanns auszumachen scheinen. Auf chinesischer Seite wurde er wesentlich anders beurteilt. In China gehört zu einem wirklich großen Staatsmann nicht nur überlegene diplomatische Geschicklichkeit, sondern vor allem eine großzügige, klar erkennbare moralische Persönlichkeit. Dafür war Yüan Schï K’ai zu zweideutig. Er hat, wie ein Chinese damals sagte, die Fahne, die ihm die Mandschudynastie anvertraut hatte und die er hochzuhalten versprochen hatte, weggeworfen mit der Begründung, dass auf diese Weise das Fahnentuch erhalten bleibe.
Yüan Schï K’ai ließ sich nun den Zopf9 abschneiden, hisste die neue fünffarbige10 Flagge der Republik an seinem Palast, und China wurde feierlich zur Republik erklärt. Man muss, wenn man gerecht sein will, zu seinen Gunsten sagen, dass sein Verrat nicht so schwer ins Gewicht fällt, als es scheinen könnte. Der regierende Prinzregent hatte sich wirklich den Dank Yüan Schï K’ais nicht verdient und dass er ihn schließlich im letzten Moment als Retter gesucht hat, geschah nicht aus Vertrauen zu ihm, sondern infolge der gänzlichen Ratlosigkeit. Yüan Schï K’ai hat immerhin »das Fahnentuch gerettet«. Er hat der regierenden Familie ein Otium cum dignitate, einen Ruheaufenthalt mit dem nötigen Einkommen verschafft, das solange ausbezahlt wurde, als die Mittel dazu da waren. Die Witwe des Kaisers Kuanghsü freilich, die von ihrer Tante keineswegs die Klugheit geerbt hatte, hat erst später gemerkt, um was es sich bei ihrem Verzicht auf den Thron eigentlich handelte. Sie hat sich dann tagelang unter heftigem Weinen vom Verkehr mit der Außenwelt abgeschlossen. Die Prinzen haben alle ihre Zustimmung gegeben, außer dem Prinzen Su, der später in Dalny starb, und dem Prinzen Kung, der sich nach Tsingtau zurückzog.
Außerdem muss anerkannt werden, dass Yüan tatsächlich damals der einzige Mann war, der Ordnung schaffen konnte und auch Ordnung geschaffen hat. Freilich hat er seine zuverlässigen Truppen bei Schanghai bei einer zweiten Revolution, die kurz danach ausbrach, dadurch ganz besonders in ihrer Treue gestärkt, dass er ihnen den zehnfachen Betrag der Bestechungsgelder bezahlte, der ihnen von gegnerischer Seite angeboten worden war. Er hat es zeitlebens verstanden, sich Freunde zu schaffen mit dem ungerechten Mammon. Auch Sun Yat Sen hat er durch Ernennung zum Fürsten und ein Monatsgehalt von 30000 Silberdollar mit dem Auftrag, für die Organisation des chinesischen Eisenbahnwesens zu sorgen, für längere Zeit zur Ruhe gesetzt. Seine Kunst bestand nicht weniger darin, dass er diese Gelder richtig verwandte, als darin, dass er sie stets in der nötigen Höhe zur Verfügung hatte. Dabei war er nicht kleinlich. Zu seinen erbittertsten Feinden gehörte Ku Hung Ming. Auf Chinesisch und Englisch hat er ihn in der Öffentlichkeit bekämpft und hat kein gutes Haar an ihm gelassen. Aber Ku Hung Ming gehört ein wenig zu der Gelehrtenbohème. Mit der Fähigkeit begabt, viel Geld auszugeben, hat er es doch verschmäht, auf schmutzige Weise Bestechungsgelder anzunehmen. So kam es, dass er in chronischen Geldnöten lebte. Yüan Schï K’ai hörte davon und ernannte ihn zum Erzieher seines Sohnes mit 500 Dollar Monatsgehalt. Er durfte nach wie vor gegen ihn schimpfen und nichts geschah, um ihm eine gemäßigte Sprache nahezulegen. Aber sein Schimpfen machte keinen Eindruck mehr, seit bekannt war, dass er im Dienste Yüan Schï K’ais stand.
Es wäre wohl alles gut gegangen, und Yüan Schï K’ai hätte wohl die Fähigkeit gehabt, das alte China in eine wohlorganisierte moderne Republik überzuführen, wenn er sich damit begnügt hätte, Präsident zu bleiben. Denn solange er das tat, stand er – wie man auch im Übrigen seine Handlungsweise beurteilen mag – auf legalem Boden. Allein er ging einen Schritt weiter und wollte Kaiser werden. Inwieweit das sein eigener Gedanke war, ob er sich nicht durch andere Einflüsse dahin hat treiben lassen, mag dahingestellt bleiben. Er ging auch dabei sehr klug vor, indem er die Initiative seinen Freunden zuschob und selber gleichsam nur gezwungen ihren Forderungen sich anbequemte.
Die Zeit für das Unternehmen schien nicht ungünstig zu sein. Der Weltkrieg war hereingebrochen, der auch in Ostasien seine Wellen warf. Yüan Schï K’ai ließ sich zwar nicht bewegen, in den Krieg aktiv einzugreifen – er war zu klug, um solchen uferlosen Gedanken sich hinzugeben – aber auf der anderen Seite fand er auf Seiten der fremden Mächte ein geneigtes Ohr, und schon wurde sein Sohn bei einem Empfang in der englischen Gesandtschaft als Kronprinz geehrt. Schritt für Schritt ging er dazu über, die Herrschaft in seine Hände zu bekommen. Eine neue Devise wurde geschaffen. Das Jahr 1915 sollte das erste der Periode »Hung Hsiän« sein. Yüan Schï K’ai selbst vollbrachte das kaiserliche Opfer am Himmelsaltar in Peking nach einem eigens für diesen Zweck zusammengestellten Zermoniell, das sich an gewisse Vorbilder aus der Hanzeit anlehnte. Freilich der Gedanke des Opfers wurde sehr stark in positivistischem Sinne abgewandelt. Während früher auf drei hohen Masten drei rote Laternen brannten in der Winternacht des Opfers, durch die das Göttliche im Himmel, auf Erden und im Menschen symbolisiert werden sollte, wurden die Lampen für den Himmel und die Erde beseitigt. Die kosmische Beziehung fiel weg aus dem Gottesdienst. Gott war nur noch ein symbolischer Ausdruck für den Genius der Menschheit, dem Yüan Schï K’ai seine Huldigung darbrachte. Wie sehr die Opfer ihren Sinn gewechselt hatten, geht auch schon daraus hervor, dass Yüan Schï K’ai im Panzerauto – aus Furcht vor Attentaten – unmittelbar vor dem Opfer ankam und auch ebenso verschwand, während früher die Herrscher zu dreitägigem Fasten in der Sänfte sich nach der Halle des Fastens begab.
Am schwierigsten war das Verhältnis zu Japan. Japan hatte durch die Bindung der Großmächte im Weltkrieg in Ostasien freie Hand bekommen, die es auch weidlich auszunützen suchte. Unter dem Vorwand, Tsingtau den Deutschen zu entreißen, marschierten die japanischen Truppen raubend und plündernd von Norden her quer durch die Schantunghalbinsel auf Tsingtau zu, stießen dann aber die Schantungbahn entlang nach der Provinzialhauptstadt von Schantung, Tsinanfu, vor, ehe sie daran dachten, Tsingtau ernstlich zu bekämpfen. Sie führten den Krieg gegen Deutschland lässig und ohne jede Begeisterung, stets darauf bedacht, sich eine Hintertür offen zu lassen für den Fall, dass Deutschland siege. Umso ungenierter suchte Japan dagegen China unter seine Herrschaft zu bringen. Yüan Schï K’ai war nie der Freund Japans gewesen und musste die Duldung für seine Pläne durch die 21 Bedingungen teuer bezahlen, die Japan dem chinesischen Staat auferlegte. Durch diese Bedingungen wollte sich Japan nicht nur in den Besitz der wichtigen Kohlenminen von P’ing Hsiang, der ungeheuer ausgiebigen Eisenminen von Taye am Yangtse und der Eisenwerke von Hanyang setzen, sondern China sollte auch auf allen anderen Gebieten, besonders dem militärischen, dem japanischen Staat rettungslos ausgeliefert werden. So übel waren die Machenschaften, dass die Japaner sie sogar ihren englischen Bundesgenossen in ihren wesentlichen Punkten zu verheimlichen für gut befanden. Noch bis auf den heutigen Tag wird der Tag, da die 21 Bedingungen oktroyiert wurden, als Tag nationaler Schmach in China begangen.
Dennoch gelang es Yüan Schï K’ai nicht, sein Ziel zu erreichen. In Yünnan entstand ein Aufruhr, der sich sehr rasch über das ganze Reich verbreitete. Provinz nach Provinz fiel ab, und schließlich blieb nichts übrig, als nach ein paar Monaten die Devise »Hung Hsiän« wieder abzuschaffen, und den Schritt vom Kaiser zum Präsidenten wieder zurück zu tun. Aber solche weltgeschichtlichen Schritte werden nicht ungeschehen gemacht. Wie um Wallenstein alles unsicher wurde und misslang, nachdem er offen sich seinem Kaiser entgegengestellt hatte, so wich nun der Erfolg von den Fahnen Yüan Schï K’ais, der ja in mehr als einer Hinsicht mit Wallenstein verglichen werden kann. Er starb schließlich, wie die Sage meldet, beunruhigt und gequält von den Geistern, die ihn nicht mehr losließen: Ein Mann mit gebrochenen Herzen.
Fünftes Kapitel
Die Kämpfe der Diadochen
Yüan Schï K’ai schon hatte es nicht ganz leicht gehabt, die verschiedenen Generäle mit fester Hand zusammenzuhalten. Doch hat er zum Mindesten im Norden die Macht unbedingt besessen. Er hatte immer kluge Männer zur Seite, die dem Militär die Waage zu halten vermochten. Er versammelte sie in Peking als seine Freunde, die von jedem Untergebenenverhältnis dispensiert waren und ihm nur mit ihrem Rat zur Verfügung standen. Unter ihnen ragte an geistiger Bedeutung hervor Hsü Schï Tsch’ang, der den Titel eines Erziehers des Kaisers bekommen hatte und sich von seiner Ruhe in den Tsingtauer Hügeln am Meer wenn auch schweren Herzens löste, um seinem Freunde zu Diensten zu sein.
Nach dem Tode Yüan Schï K’ais regten sich die antagonistischen Kräfte. Auf dem Präsidentenstuhl saß Li Yüan Hung, ein Mann voll von rechtschaffenen Gesinnungen, der auch das Parlament wieder berief und mit der Ausarbeitung einer ständigen Verfassung betraute. Ministerpräsident war Tuan K’i Jui, der fähigste unter Yüan Schï K’ais früheren Generälen. Er hatte eine Partei oder richtiger einen Klub von Generälen, Staatsmännern und Finanzleuten um sich versammelt. Nach dem Lokal, in dem sie zusammenzukommen pflegten, wurden sie der Anfuklub genannt. Sie bestanden zum großen Teil aus Elementen von der Yangtsegegend. Ihnen gegenüber bildete sich ein anderer Teil der Militärführer als Tschïlipartei aus, die ihr Haupt in den Generälen der Nordarmee Ts’ao K’un und Wu P’e Fu hatten. Ts’ao K’un war an sich ein unbedeutender Mensch, der weiter nichts erstrebte als den Genuss der Annehmlichkeiten, wie sie die Macht verleiht. Aber er war in den Händen ehrgeiziger und gemeiner Menschen. Wu P’e Fu überragte ihn weit an Bildung und persönlichem Kaliber. Wu P’e Fus Grundsatz war die Einigung Chinas durch Blut und Eisen. Er war aber ständig in Not, die zur Unterhaltung seines Heeres nötigen Mittel aufzubringen, da die Familie T’sao K’uns in schamloser Weise die öffentlichen Gelder stahl. Das bildet überhaupt ein charakteristisches Merkmal der Zeit der Diadochenkämpfe in China, dass die meisten von den Leuten, die auf kürzere oder längere Zeit zur Macht kamen, in ganz großzügiger Weise sich aus öffentlichen Mitteln bereicherten. Man hat vielfach in Europa über die Korruption gesprochen, die unter den Beamten während der letzten Zeiten des Kaisertums geherrscht habe, und es lässt sich in der Tat nicht leugnen, dass wenigstens einige – längst nicht die Mehrzahl – der höheren Beamten im Lauf ihres Lebens eine oder mehrere Millionen zusammenbrachten. Aber diese Beträge verschwinden gegenüber den Beträgen, die im modernen China auf die Seite gebracht wurden. Man ging jetzt mit wahrhaft amerikanischer Großzügigkeit vor. Der zehn- und mehrfache Betrag der Summen, die früher in Jahrzehnten aufgesammelt wurden, kam jetzt in Jahren und Monaten zusammen. Der Unterschied zwischen China und Amerika ist nur der, dass der amerikanische Staat so ungeheure Einkünfte hat, dass Skandal auf Skandal folgen kann, ohne dass die Staatskassen sich leeren, während in China das Geld so knapp ist, dass vom Universitätsprofessor bis zum Polizisten die Beamten monate- und jahrelang mit ihren Gehältern im Rückstand bleiben müssen, wenn die Machthaber ihre Beutel füllen.
Außer diesen Epigonen Yüan Schï K’ais kam noch eine dritte Gruppe in Betracht: Das kleine Häufchen der Kaisertreuen. Unter ihnen war General Tschang Hsün die ausgesprochenste Persönlichkeit. Er war vollkommen ungebildet und eine absolut unkomplizierte Natur. Angeblich soll er vom Rossknecht an allmählich sich emporgearbeitet haben unter persönlicher Förderung der Kaiserin-Witwe. Das vergaß er der Dynastie nicht. Er hatte die Achtung vor dem konservativen konfuzianischen Ideal nicht verloren. Er behielt noch jahrelang seinen Zopf, und auch seine Soldaten gingen noch stolz mit ihren dicken gepflegten Zöpfen umher zu einer Zeit, da in Schanghai und Peking die Zöpfe als reaktionär schon den Leuten auf der Straße von eigens dazu bestellten Polizisten abgeschnitten wurden. Er kannte weder die Gesetze der Taktik noch der Strategie, aber er war ein alter Haudegen und hatte Mut, und wenn es aufs Kämpfen ankam, dann stellte er sich wirklich zum Kampf.
Ihm stand eine Zeitlang zum Mindesten nicht fern der Gouverneur und Befehlshaber der Mandschurei, Tschang Tso Lin. Er hat die Räuberkarriere hinter sich. Eigentlich heißt er gar nicht Tschang Tso Lin. Aber als sein Räuberhauptmann, der wirklich Tschang Tso Lin hieß, von dem Regierungsgeneral aufgefordert wurde, sich zu melden unter Zusicherung von freiem Geleit, wagte er es an Stelle des ängstlich gewordenen Hauptmannes und unter dessen Namen sich zu stellen. Er erhielt nun, da die Sache tatsächlich gut ablief, den diesem zugedachten Posten und blieb von da ab Tschang Tso Lin.
Das waren die hauptsächlichsten Vertreter der verschiedenen einander entgegengesetzten Parteien. In diese Verhältnisse griff zunächst der Weltkrieg ein. Der amerikanische Gesandte Paul Reinsch, ein Deutscher von Geburt, der diesen Makel durch vermehrte Deutschfeindlichkeit gutzumachen suchte, agitierte in Übereinstimmung mit der Politik Präsident Wilsons in der Richtung, China erst zum Abbruch der Beziehungen mit Deutschland und dann zum Eintritt in den Krieg zu bewegen. Dabei musste er China möglichst weitgehende Hoffnungen machen, ohne positiv etwas zu versprechen. Denn die ganze Sache war auf einen großzügigen Betrug Chinas angelegt, da man schon längst vorher die Treue Japans durch geheime Verträge erkauft hatte, die auf Kosten von Chinas Integrität und Souveränität gingen. England, Frankreich, Russland hatten alle Geheimverträge mit Japan geschlossen, alle auf Kosten Chinas und zum Teil so geheim, dass die verschiedenen Partner Japans und Japan selbst den Inhalt der Verträge vor den übrigen Partnern geheim hielten. Eben deshalb musste Amerika an die Front, das durch keinen solchen Vertrag gebunden war, und daher China gegenüber mit besserem Gewissen Hoffnungen erwecken konnte.
So kam es, dass Tuan K’i Jui, der Ministerpräsident, der für den Krieg war, im Parlament zunächst eine Mehrheit kaufte – das Parlament wurde immer mehr zu einer Gesellschaft m. b. H., die aus dem Verkauf ihrer Stimmen ein gutes Einkommen bezog, ohne irgendwen zu »vertreten« als sich selbst –, die den Abbruch der Beziehungen mit Deutschland beschloss. Li Yüan Hung, der dagegen war, sah sich als Präsident der Republik genötigt, dem Parlamentsbeschluss Folge zu leisten.
Der nächste Schritt war der Beschluss des Parlaments, in den Krieg gegen Deutschland einzutreten. Der Süden unter Sun Yat Sen war dagegen. Im Parlament fand sich diesmal keine Mehrheit. Man übte einen Druck auf den Präsidenten aus, das Parlament aufzulösen. Die Parlamentarier zogen sich nach Süden zurück. Li Yüan Hung verschwand von der Bildfläche. Dies war der Moment des chinesischen Kapp-Putsches, der von Tschang Hsün veranstaltet war. Tschang Hsün sah sich dabei von anderer Seite gedrängt. Es blieb ihm schließlich nichts anderes übrig, als den jungen Kaiser auf den Thron zu erheben. Aber nur fünf Tage dauerte die neue Monarchie. Sie war zu schlecht organisiert. Vor allem hatte man versäumt, mit dem mächtigen Mann Tuan K’i Jui sich ins Benehmen zu setzen. Dieser aber war keineswegs gewillt, die über Nacht geschaffene Tatsache anzuerkennen. Es kam zu Straßenkämpfen in Peking. Tschang Hsün zog sich in den Schutz des Gesandtschaftsviertels zurück.11 Der Kaiser trat ungefährdet – er hatte ja nichts dafür gekonnt – in seine bisherige Stellung zurück, und Hsü Schï Tsch’ang, der alte Freund des verstorbenen Yüan Schï K’ai, wurde Präsident. Der Krieg gegen Deutschland wurde auf den Druck der Alliierten erklärt. Dennoch blieb die Stimmung in China im Allgemeinen durchaus freundlich gegen Deutschland, und die Behandlung der internierten Deutschen war die denkbar beste. Auch als später nach dem Abschluss des Waffenstillstandes die Deutschen auf englischen Schiffen gewaltsam aus China abtransportiert wurden in der Absicht, dadurch den deutschen Handel endgültig zu vernichten, nahmen sich die Chinesen der Deutschen nach Möglichkeit an und verhinderten manche unmenschlichen Härten der christlichen Europäer. Im Übrigen hat diese Rückbeförderung der deutschen Kaufleute einen Erfolg gehabt, der dem beabsichtigten entgegengesetzt war. In jener Zeit nämlich trat der Sturz des während des Krieges auf mehr als das Doppelte seines Wertes gestiegenen chinesischen Silberdollars ein. Alle ausländischen Firmen, die damals in China Geschäfte machten, hatten enorme Verluste. Viele machten Bankrott. Vor dem allem wurden die Deutschen gewaltsam behütet und als sie nach China zurückkamen, was nach sehr kurzer Zeit der Fall war, konnten sie mit frischer Kraft in das Geschäft eintreten.