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Gut, denkst du jetzt, der Auer Max ist ja nicht unterbelichtet. Der wird einen Teufel tun und dem Chili erzählen, was er vorhat. Der Max stand auf und sagte im Rausgehen: »Keine Ahnung. Ich muss noch einen sizilianischen Zitronenkuchen für die Friedl vom Bergmeister mitbringen. Ich mach mich mal vom Acker, sodass ich in die Stadt reinkomme, bevor die Läden schließen. Pass auf, ich frag deine Jungs, wo die zuletzt mit dem Brunner waren. Du gehst jetzt mit an die Tür und sagst denen, dass sie mir alles erzählen können, weil ich ja quasi zur Familie gehöre. Klar?«
Chili zog sich murmelnd hinter seinem Schreibtisch hoch und ging an Auer vorbei zur Tür, riss sie auf und rief: »Wer ist ab heute Danny?«
Der Kleine kam grinsend angewieselt. Im Büro war es hell, aber das Lokal hinter ihm war diffus beleuchtet und fast dunkel. »Ich, Boss. Klingt cool, oder? Was gibt’s?«
»Der Max hier, der gehört zur Familie, aber das wisst ihr wahrscheinlich schon. Er fragt euch was wegen dem Brunner. Ihr sagt ihm alles, was ihr wisst. Aber nur über den Brunner. Das hier …«, Chili beschrieb mit dem rechten Arm einen Bogen, »das hier, was in der Kneipe so passiert oder auch nicht, da muss auch die Familie nicht alles so genau wissen, verstehen wir uns?«
Der Kleine nickte und ging im schummrigen Licht zurück an den Tisch. Max folgte ihm. Danny nahm eine kleine Maglite-Taschenlampe aus seiner Jackentasche und leuchtete auf einen Teller, der vor Arnold stand. »Er hat sich letzte Woche in die Finger gebissen, weil er seine Hauer ein bissel schnell in einen Hamburger geschlagen hat. Sieht ja auch keine Sau was, bei diesem Pettinglicht hier drinnen.«
Arnold knurrte, nahm im schmalen Lichtkegel der Maglite etwas Undefinierbares vom Teller und steckte es in den Mund. Max schnupperte: »Ist das vegan oder kann man das auch essen?«
Arnold brummte mit vollem Mund und machte ein paar schnelle Handbewegungen, und Danny übersetzte: »Er meint, bis vor ein paar Stunden hättest du mit dem Teil auf dem Teller sogar noch reden können.«
Auer ließ sich in einen der Stühle fallen: »Na dann, Mahlzeit. Ihr habt ja gehört, was euer Boss gesagt hat. Hier meine Frage: Wo wart ihr mit dem Brunner, ihr wisst schon, dem Bankmenschen, zum Zocken?«
»Warum?«
Auer beugte sich vor: »Pass auf, ich frage, du antwortest. So geht das Spiel. Du weißt ja, dass ich bis vor Kurzem noch bei der Bullerei in München war. Ich will mal so sagen: Wie zwei Heilige seht ihr nicht aus. Deswegen möchte ich euer Freund sein, damit ihr wieder auf den Weg der Tugend kommt. Als Stars beim Film und so, okay?«
Danny und Arnold nickten.
»Sehr gut. Passt auf: Es gibt da eine neue Risikosportart, die heißt ›Athletisches Schweigen‹. Das machen wir jetzt. Ich rede, keiner unterbricht mich, und wenn ich fertig bin, will ich eine übersichtliche Antwort. Wenn’s geht, in ganzen Sätzen. So weit klar?«
Danny kratzte sich am Ohr: »So weit ja. Fang an.«
»Der Chili hat mir so ziemlich alles über den Brunner erzählt. Auch, dass er auswärts zockt. Und ihr beide habt ihn gefahren und aufgepasst, dass er keine über die Rübe kriegt, wenn er ausnahmsweise mal gewonnen hat. Von der Sissi und dem Brunner weiß ich auch. War die jemals bei seinen Touren dabei?«
Danny schüttelte den Kopf.
»Also nicht. Gut. Hatte der Brunner Stammplätze, wo er gerne gezockt hat? Wo wart ihr zuletzt mit dem Brunner? Wann war das?«
Danny starrte den Auer Max ausdruckslos an und schnitt dann merkwürdige Grimassen mit geschlossenem Mund.
Max beugte sich vor: »Hallo? Mein Hübscher, ist das jetzt eine Pantomimennummer, die du da abziehst?«
»Ja. Weil ich dachte, wer zuerst redet, verliert. Das ist doch so eine Art Spiel, oder?«
Auer zog Luft zwischen seinen Zähnen ein, schloss die Augen und lehnte sich im Stuhl zurück. »Oh Mann!«
»Jetzt sei nicht gleich eingeschnappt. Nein, er hatte keine Lieblingsorte. Nein, die Sissi war nie dabei. Sie hat aber gewusst, dass er spielt, und das hat ihr nicht gepasst. Ich hab gehört, dass sie den Chef ein paarmal deswegen zusammengefaltet hat. Sie hat so geschrien, dass man das durch die Bürotür bis hierher gehört hat. Der Chili hat aber gemeint, der Brunner ist erwachsen, stubenrein und kann in ganzen Sätzen reden. Der wird schon wissen, was er tut. Und ja, wir waren immer gut unterwegs mit dem Brunner. Ärger gab’s aber nie, weil er fast immer verloren hat. Der Ablauf des Abends war meistens so: Er ist mit einem Bündel Cash und in bester Laune losgedüst und kam jeweils besoffen, pleite und voller Selbstmitleid wieder heim. Zuletzt waren wir mit ihm zweimal in Salzburg.«
»Wann zuletzt? Und wo denn da in Salzburg?«
»Iss was.«
Auer merkte, wie ihm die Zornesröte ins Gesicht stieg. »Willst du mich verarschen oder was? Ich will nichts essen, ich rede mit dir.«
Danny fuchtelte mit den Armen: »Nein, Mann, die Kneipe heißt ›Iss was‹. Die ist in der Bayerhammerstraße. Das ist in der Nähe vom Bahnhof. Unten im Keller wird gezockt. Der Schirmer Heinzi organisiert die Spiele. Einmal in der Woche treffen sich da maximal fünf Mann. Lauter Profis aus der Szene. Der Heinzi macht die Bank. Seine Frau den Service und lässt die Möpse raushängen. Die Spieler bringen ihre eigenen Aufpasser mit. Und die Jugo-Schränke vom Heinzi hängen vor der Kellertür und oben im Imbiss rum. Willst du da hin? Spielen? Dann viel Spaß. Die haben den Brunner abgezogen wie in einem Hollywoodstreifen.«
Max stand auf und ging, ohne anzuklopfen, in Chilis Büro. Der hatte die Beine wieder auf dem Schreibtisch und blätterte in einem »Playboy«: »Was ist? Ich hab gar nicht gehört, dass du angeklopft hast? Stör mich jetzt nicht beim Fernstudium.«
Auer lehnte sich an die Wand neben der Tür: »Mach ich auch nicht. Organisier mir einen Termin beim Schirmer Heinzi in Salzburg. Morgen, kann auch tagsüber sein. Abends wär mir aber lieber. Ruf mich an, wenn du was hast.«
Chili warf den »Playboy« auf die Schreibtischplatte und funkelte den Auer an: »Sonst noch was? Willst du spielen?«
»Reden. Erzähl ihm nicht, dass ich bei der Bullerei war. Und mach mir nicht weis, du kennst den Heinzi nicht. Wahrscheinlich hast du den Brunner an ihn verschachert. Für wie viel? 25 Prozent von der Sore?«
»Tu doch nicht so katholisch, Max. Ihr von der Firma Such & Greif hebt doch auch die Flossen auf, wenn was geht. Natürlich hab ich was dran verdient. Der Brunner mag in seiner Bank ein guter Mann sein, aber im richtigen Leben ist er ein Depp. Und er mochte das kriminelle Ambiente: schummriger Kellerraum, eine Schirmlampe über dem grünbezogenen Tisch, alle rauchen und trinken. Und die Frau vom Heinzi, die war mal ›Miss Eierschwammerl‹ in Niederösterreich oder so was. Die hat eine Oberweite, alles echt und stramm. Mein lieber Scholli. Und Brustwarzen wie die Schmiernippel von einem LKW. Das hat was. Was soll ich dem Heinzi sagen?«
»Ich bin dein Freund aus alten Tagen und will mit ihm reden. Kein Stress, keine Tricks. In seinem Laden in Salzburg, wann immer er morgen Zeit hat. Kein Wort zum Brunner, okay?«
Chili holte sich einen Joint aus der Hemdtasche, zündete ihn umständlich an und nahm einen tiefen Zug. Er presste den Rauch in die Lunge, verzog das Gesicht und hielt dem Auer den Glimmstängel hin. Der schüttelte den Kopf und ging aus dem Büro. Als er am Tisch von Arnold und Danny vorbeikam, fragte der: »He, wer von uns beiden hat das athletische Dings grade eben gewonnen?«
Auer sagte: »Na du, Mann«, und Danny grinste Arnold an: »Siehst du, hab ich dir doch grade gesagt. So was gewinne ich immer!«
Kalbsvögel? Echt jetzt?
Es war schon später Nachmittag, eher früher Abend, möchte ich mal sagen. Der Max lümmelt in seinem Benz, lenkt ihn mit einer Hand, reibt sich mit der anderen am Kinn. Aus den vielen Lautsprechern dröhnen die Stones. Der Onkel Otti, der Herr hab ihn selig, der würde sich wohl im Grab umdrehen, wenn er das hören müsste, ja, was glaubst du.
Max blinzelte nach oben durch das offene Rechteck des Schiebedachs. Die Sonne stand zwischen den Wolken und sah aus wie das gerötete Auge eines versoffenen Penners.
Das Klingeln des Telefons riss den Auer Max aus seinen Tagträumen. Er drückte auf den Knopf mit dem Telefonhörersymbol: »Ja?«
»Ja, Bub, wo bist du denn? Hast du den Kuchen?«
»Nein, Friedl, aber ich hab ihn reserviert und hole ihn jetzt ab.« Die Lüge kam ihm leicht über die Lippen. »Glaubst du denn, ich hätte dich vergessen? Meine Lieblingstante?«
»Deine einzige Tante, du Gauner. Schau, dass du in einer Stunde oder so hier bist. Wir bekommen Besuch, und ich mache uns ein tolles Essen. Magst du Kalbsvögel?«
»Die würde ich für dich sogar selber fangen. Wer kommt denn?«
»Ich hab doch vor einem Jahr oder so eine Kreuzfahrt gemacht. Witwen machen so was gerne. Da hab ich ein paar Tage nach dem Auslaufen aus Genua einen sehr, sehr netten Mann kennengelernt. Der ist auch Witwer.«
»Ah ja, wie praktisch. Hatte er seine Frau auch dabei? Als Urne, meine ich?«
Die Friedl schnaufte ärgerlich, was sich durch die Freisprechanlage anhörte, wie wenn ein Blauwal auf offener See eine Luftfontäne ausstößt: »Bub! Hast du denn gar keinen Sinn für Pietät? Wir haben zusammen ein bissel getrauert, aber dann haben wir eine gute Zeit gehabt während der nächsten paar Wochen. Und der Manfred, so heißt der, hat mich richtig zum Lachen gebracht.«
»Na toll. Über was lachen denn Witwen und Witwer, wenn sie unter sich sind?«
»Werde nicht sarkastisch. Der Manfred hat mir viel von seiner Lise erzählt. Von ihren Marotten und Vorlieben. Sie hat zum Beispiel einen Gartenfimmel gehabt. Alles musste bei ihr immer genau nach Linien ausgerichtet sein. Jede Blume, jeder Strauch. Der Manfred hat gesagt, wenn’s nach ihr gegangen wäre, dann hätte sie sich bei ihrer eigenen Beerdigung wohl am liebsten nur stehend und bis zum Bauch eingraben lassen, damit sie die Grabpflege selber machen kann. Ist das nicht lustig?«
Max verzog den Mund: »Ja, doch, sehr sogar. In einer Stunde bin ich da. Irgendwelche Benimmregeln am Tisch, muss ich was wissen?«
»Der Manfred ist ein sehr eleganter und gebildeter Mann, also bitte keine blöden Sprüche. Er kann sich in diversen Sprachen ausdrücken. Abends hat er mich immer bis zur Kabinentür gebracht, mir die Hand geküsst und ›Au reservoir, ma jolie Blonde‹ geflüstert.«
»Das heißt aber ›Au revoir‹, und blond bist du auch nicht, Friedl.«
»Friedhofsblond bin ich, aber der Manfred ist ein Gentleman, der drückt sich da anders aus, du Lümmel.«
Die Ampel schaltete auf Rot, und vor ihm huschte noch ein kleiner Fiat über die Brückenberg-Kreuzung und hätte beinahe einen Radler auf die Hörner genommen, dem seinerseits die Ampelanlage ebenfalls vollkommen egal war.
»Stört dich deine alte Tante, Bub? Brauchst nur zu sagen, dann lege ich auf. Seit der Otti weg ist, hört mir eh keiner mehr zu. Außer dem Manfred.«
»Nein, Friedl, ich freu mich ja bloß für dich. So sehr, dass mir die Worte fehlen.«
»Ehrlich? Das hast du aber schön gesagt. Du wirst den Manfred mögen. Er ist auch ein Dichter. Er hat mir zum Abschied ein Lied geschrieben, das trag ich immer in mir. Pass auf, ich singe das jetzt mal für dich.« Sie räusperte sich so laut, dass der Max dachte, der alte Mercedes hätte einen Kolbenfresser, dann trällerte sie los: »Au revoir, meine Liebe, au revoir. Vergiss nie, wer ich war, vergiss nie meinen Namen. Ich geh und es wird nie mehr sein, wie es war. Au revoir. Au-au-au revoir. Na, was sagst du jetzt? Ist das romantisch zum Verrücktwerden, oder ja?«
»Für mich klingt das nach einer Schnulze von Helene Fischer oder Hansi Hinterseer. Weißt du, ich hab erst vor ein paar Tagen ein Lied von dem gehört, der … Hallo? … Hallo, Friedl, bist du noch da?«
Aber die Friedl hat natürlich längst den Hörer aufgeknallt, das kannst du dir ja denken. Der Max hat vor sich hin gegrinst, die Stones wieder schön laut gemacht und dann ist er bei Gelb losgefahren. Nach links, den Brückenberg runter, dann rechts und nach einem Kilometer rein in die Prinzregentenstraße. Vor dem Gummibärchenladen, ein paar Meter hinter der Ampel, hat er den Benz ins Halteverbot gestellt, seine alte »Polizei-im-Einsatz-Marke« aufs Armaturenbrett gelegt und ist gemächlich zum Bergmeister geschlendert.
Auch wenn auf dem Gipfel
schon Eis liegt …
Schon klar, dass der Max neben dem sizilianischen Zitronenkuchen noch schnell einen Strauß Blumen gekauft hat. Nicht dass du jetzt denkst, er hätte ein schlechtes Gewissen, aber der Auer ist ein Mann, der weiß, wie man Frauen wieder zum Lächeln bringt. Ein netter kleiner und übersichtlicher Nelken-Grünzeug-Strauß für 6,99 Euro.
So rennt er also die Treppen zur Wohnung hoch. Links den Kuchen, rechts die Blumen. Nicht, dass der Aufzug kaputt wäre oder so, aber der Auer hat mal gelesen, dass eine jede Treppenstufe, die man steigt, das Leben um eine Sekunde verlängert. Ich selber glaub da ja nicht so hartnäckig dran, aber der Max schon.
Und wie er so ins Wohnzimmer schwebt und den Duft der Bratensoße in sich hineinsaugt, hört er die Friedl lachen wie ein kleines Mädchen, frei und unbeschwert. Eine tiefe Männerstimme sagt: »Ja, und dann hat der Ober zu mir gesagt: ›Jetzt sehe ich das Haar in der Suppe auch. Aber dies ist die Tagessuppe für 2,50 Euro, für das Geld können Sie schlecht ein ganzes Toupet erwarten, oder?‹«
Die Friedl lachte immer noch, Max platzte ins Wohnzimmer und sah Folgendes: seine Tante, mit roten Backen, gewagter Hochfrisur und geschminkt wie das Nürnberger Christkind. Und am Tisch: ein alter Knabe, so Ende 60 plus oder 70, leichtes Übergewicht, volles graues Haar, blasses Gesicht mit vielen Lachfalten. Die beiden Alten strahlten sich an und bemerkten den Max nicht. Der räusperte sich, und zwei Köpfe drehten sich ruckartig zur Tür.
Max streckte seinen Nelkenstrauß vor und hob den Kuchen in der Verpackung hoch: »Einmal Zitronenkuchen und einmal wunderschöne Blumen für meine wunderschöne Tante.«
»Stell den Kuchen auf die Anrichte. Was sind das für Blumen? Hast du die auf dem Friedhof geklaut? Die zittern ja jetzt noch!«
Max schaute den alten Burschen am Tisch an, der stand auf und hielt ihm die Hand hin: »Du bist der Max. Ich bin der Manfred, Manfred Gorka. Freut mich, die Friedl hat mir schon sehr viel von dir erzählt.«
»Ja, der Manfred ist ein bissel früher gekommen, aber das macht ja nichts, oder? Und schau mal, Bub, was er mir für einen Strauß mitgebracht hat. Das nenne ich Blumen.« Sie zeigte mit der rechten Hand auf ein Gesteck von Rosen in allen Farben, mit Farnen und kleinen, gewundenen Ästen und Blättern in verschiedenen Grüntönen.
»Jetzt guck nicht so dumm aus der Wäsche, ich hab’s nicht so gemeint, natürlich gefällt mir dein Strauß auch. Setz dich zum Manfred, ich hol schnell eine Vase.«
Max setzte sich kopfschüttelnd an den festlich gedeckten Tisch und strich über das Leinen: »Da hat sie aber das alte Familiensilber und das Porzellan rausgeholt, die Tante. Respekt. Das hab ich zum letzten Mal beim Leichenschmaus für den Otti gesehen. Wir beide sind ja schon beim Du, Manfred. Also, ihr habt euch während einer Kreuzfahrt kennengelernt, wie ich hörte.«
Manfred nickte und goss Max etwas von dem Rotwein ein. »Da, probier, das ist ein alter Spanier, der passt gut zum Braten.«
Max nippte: »Gut, ja. Danke. Es ist schon etwas überraschend, dass du so, wie soll ich sagen, plötzlich auftauchst, Manfred.«
»Ja, ich hatte zufällig hier in der Gegend zu tun. Außerdem war ich lange weg. Ausland, weißt schon. Ich bin erst seit vorgestern wieder in Deutschland. Und als ich in München gelandet bin, hab ich gedacht, ruf doch mal die Friedl an.« Manfred trank einen Schluck Rotwein und seufzte: »Na ja, ich hätte mich zwischendurch mal melden können, aber da, wo ich war, da war es ziemlich schlecht mit Telefonieren und so. Wildnis, Wüste, lauter solche Sachen.«
»Der Manfred war für die UNO in Nordafrika, bei den Tierrettern. Stell dir vor, Bub, die haben da die wilden Elefanten gefangen und woanders hingebracht. Wegen den Wilderern, gell, Manfred?«
Die Friedl, immer noch aufgekratzt wie eine 16-Jährige, kam mit den Nelken in einer Kristallvase ins Wohnzimmer gerauscht und stellte sie auf den Tisch. Neben Manfreds Rosengesteck sahen die fünf Nelken sehr beschämt aus.
»Nordafrika, das ist für mich Algerien, Tunesien, Ägypten und so, oder?« Max nahm sich die Weinflasche und schenkte der Friedl nach. »Ich meine, ich kenne das Landesinnere ja nur aus dem Fernsehen, aber da gibt es doch keine Elefanten, hab ich immer gedacht.«
Die Friedl schaute ihn strafend an, aber der Manfred lachte: »Jetzt nicht mehr. Deswegen bin ich ja hier. Wir sind fertig da unten mit den ganzen Umsiedlungsaktionen, und ich hab jetzt lange Zeit frei.«
»Verstehe. Besonders braun bist du aber da in Nordafrika nicht geworden, Manfred.«
»Wenn du dich so richtig in deine Arbeit reinkniest, dann hast du selbst in Nordafrika keine Zeit zum Braunwerden. Wir haben da ja praktisch im Akkord die Viecher gefangen, und abends, wenn wir Feierabend gemacht haben, da saßen wir fix und fertig am Lagerfeuer. Da wirst du dann auch nicht mehr braun. Apropos Lagerfeuer: Ich hab einen Hunger wie ein Löwe.«
Friedl sprang händeklatschend auf: »Ja mei, du bist ja auch schon so lange unterwegs, Manfred, ich hole jetzt die Suppe. Es gibt eine Pfannkuchensuppe, die ist eine Spezialität von mir. Keine backt die Pfannkuchen so wie ich, da gibt es nämlich ein Geheimnis.«
Plappernd und lachend tänzelte sie aus dem Wohnzimmer in die Küche rüber. Manfred schaute Max an, tippte sich an die Nase und meinte: »Du hast so eine spezielle Art zu fragen, das kommt mir von irgendwoher bekannt vor. Fällt mir gleich wieder ein.«
Aber der Max hatte da noch was: »Kann schon sein, ich war ja auch lange genug bei der Po…«
Jetzt hättest du sehen sollen, wie die Friedl mit einem Affenzahn mitsamt der Suppenschüssel und tiefrotem Gesicht ins Zimmer gerauscht kam und dem Max ins Wort gefallen ist und rasend schnell losgeplappert hat: »Post. Er war bei der Post, der Bub. Im Briefsortierzentrum in Kolbermoor. Da hat er aber aufhören müssen, weil er eine … eine Allergie bekommen hat. Eine Briefmarkenallergie, genau genommen. Wegen dem Kleber, der da hinten drauf ist. Und er hat’s mit dem Kreislauf. Schon immer. Wenn die Briefe alle so schnell an einem vorbeiflitzen, auf dem Band da, und man muss die dann irgendwie rumsortieren, da leidet auch der Kreislauf. Ja, und jetzt wohnt er hier bei mir und hilft seinem alten Tantchen ein bisschen beim Leben, gell, Bub?«
Sie stellte die Schüssel ab und klopfte dem Max auf den Hinterkopf: »Jetzt hör schon mit deiner blöden Fragerei auf.«
Friedl lächelte den Manfred an: »So war er schon als kleiner Bub. Immer neugierig, immer am Fragen.« Und zum Max: »Den Manfred lassen wir jetzt in aller Ruhe essen, dann überlegen wir mal, wo er hier schlafen kann, gell?«
Manfred hob abwehrend die Hände: »Nein, nein, mach dir keine Umstände, Friedl, ich such mir eine Pension. Gleich nach dem Essen zieh ich los.«
Max sagte: »Wo ist denn dein Gepäck?«
Friedl zischte: »Fängst du schon wieder an? Wo bleibt denn deine Erziehung, Bub? Verdammt noch mal, jetzt! Man könnte meinen, du bist per Anhalter durch die gute Kinderstube gehuscht.«
Manfred schüttelte den Kopf: »Lass sein, Friedl, ist ja gut.« Und zu Max: »Ich habe nur die kleine Tasche dabei, die im Flur steht. Der Rest ist noch unterwegs und wird mir nachgeschickt. Vielleicht suche ich mir hier in Rosenheim eine Wohnung. Das, was ich von eurer Dachterrasse aus von der Stadt gesehen habe, gefällt mir schon mal sehr gut. Lasst uns jetzt essen, ich sterbe vor Hunger.«
»Genau, gib mir mal deinen Teller rüber, mein lieber Manfred!« Friedl zwang sich ein Lächeln ab und schaute den Max dabei strafend an.
Der zuckte mit den Schultern und hielt auch seinen Teller über den Tisch. Die dicken goldbraunen Pfannkuchenstreifen glitten auf die schneeweißen, mit Ornamenten verzierten Porzellanteller, und die klare Brühe verbreitete einen verführerisch guten Duft.
Schweigend löffelten die Friedl und der Max vor sich hin, jeder hatte schon ein bisschen gegessen, als sie bemerkten, dass der Manfred seinen Teller anstarrte.
Die Hände hielt er übereinandergefaltet, nicht wie beim Gebet, sondern … na ja, anders halt.
Friedl räusperte sich: »Betest du?«
Manfred schreckte hoch und lächelte: »Was? Nein. Ich war ja auch einige Zeit in Japan unterwegs. Und dort entschuldigen sich die Menschen bei ihrem Essen, bevor sie es verspeisen. Das da ist eine wunderbare Hühnersuppe, das rieche ich.«
»Aha, und Hühner sind religiös, oder?« Max deutete mit seinem Löffel auf den Teller.
»Könnte sein, ja. Wenn ich so nachdenke, warum nicht? Für so ein Huhn ist der liebe Gott vielleicht … ein uralter, weiser Hahn, der Eier legen kann. Weil er ein Hühnergott ist. Und sein erstgeborener Sohn ist in der Hühnerreligion ein ganz besonderes Ei, das nicht ausgebrütet oder verzehrt werden darf. Mahlzeit.«
Der Manfred schaufelte andächtig einen mit Pfannkuchen beladenen Löffel in den Mund, bekleckerte sich das Hemd und wischte es mit der Krawatte ab. »Da braucht ihr mich gar nicht so anzuschauen. Kann ja durchaus sein, dass es so ist. Schafe verehren bestimmt was anderes als ein Huhn. Und so weiter und so fort.«
Jetzt denkst du sicher, ja, spinnt denn der? Denn genau das dachte sich der Max. Um das Gespräch aber wieder auf einen einigermaßen sicheren Boden zu steuern, nickte er und sagte: »Erzähl doch mal was von der Kreuzfahrt. Die Friedl ist da erstaunlich wortkarg.«
Manfred hob sein Glas, prostete ihr zu und meinte: »Das war irgendwie wie ein Blitz. Wir saßen im gleichen Tenderboot bei dem Ausflug zu den blauen Grotten. Die ersten Tage auf dem Schiff war ich fast nur in meiner Kabine, weil ich niemanden sehen wollte. Zum Frühstück ging ich immer ganz früh, hab mir was für den Tag mitgenommen, und abends oder, besser gesagt, nachts bin ich zum Mitternachtsbuffet, da waren immer nur ganz wenige von den Passagieren.«
»Aber so ein Kreuzfahrtschiff ist doch viel in Häfen, oder?«
Die Friedl klopfte dem Max mit ihrem Löffel auf den Handrücken: »Unterbrich ihn nicht, Bub. Jetzt kommt der schöne Teil.«
Manfred schluckte seine Pfannkuchenstreifen runter: »Die beiden Landgänge, die wir hatten, da hab ich immer gewartet, bis alle von Bord waren, dann bin ich auch runter vom Schiff. Und ich war immer einer der ersten Passagiere, die zurückkamen. So, und dann war dieser Tag, da wurde getendert. Mit den großen Rettungsbooten bringen sie da die Passagiere zum Ausflug in die blaue Grotte, weil kein Hafen in der Nähe ist. Ich bin als Letzter in das letzte Boot gestiegen und hab mich auf den letzten freien Platz gesetzt. Und neben mir: die Friedl. Kennst du das, wenn dich plötzlich was anspringt wie ein Raubtier, und du vergisst zu atmen?«
Max schaute ungläubig hoch: »Sie hat dich angesprungen? Im Boot? Vor allen Leuten? Wow.«
Friedl zischte, und Manfred hob die Hand: »Ich meinte das jetzt philosophisch. Der Funke, die Kraft, die Liebe, die von ihr ausgingen. Wir haben uns unterhalten und es war so, als ob wir uns schon ewig lange kennen würden. Seelenverwandt, verstehst?«
Der Max schüttelte den Kopf: »Nein. Echt nicht.«
»Auch gut. So ein Glück hat auch nicht ein jeder. Auf jeden Fall war es ein wundervoller Nachmittag. Abends haben wir auf Deck gegessen und der Sonne nachgeschaut, wie sie im Meer verschwunden ist. Dann sind wir in meine Kabine gegangen. Dort habe ich der Friedl auf meinem alten Rekorder eine Kassette von Grieg vorgespielt. Auf meinem Privatbalkon, bei Kerzenschein und mit einer Flasche Brunello.«
Friedl kicherte wie ein kleines Mädchen: »Dann hat er mich geküsst, ich bin gegen den Rekorder gestoßen und hab ihn vom Tisch gefegt. Die Kassette fing an zu eiern und wir hatten Bandsalat. Ich habe mit einer Nagelfeile das Band wieder zurückgedreht, und dann hatten wir eine tolle Nacht. Eine von vielen tollen Nächten.«
Sie langte über den Tisch, nahm Manfreds Hand und drückte sie. Max verschluckte sich an einem Pfannkuchenstück, löffelte schnell seinen Teller leer und sagt hustend: »Ich brauch mal einen Happen frische Luft. Wenn ihr mich sucht, ich bin auf der Terrasse.«