- -
- 100%
- +
Eines Tages, als das schlanke Mädchen mit dem rotblonden Haar in der Pause alleine an einem der großen Fenster des langen Flurs stand und traurig in den Regen blickte, trat eine Lehrerin an ihre Seite, sah eine Weile mit ihr gemeinsam hinaus und sagte dann mit leichtem französischem Akzent: »Hast du einen ernsten Grund dafür, traurig zu sein?«
Marlene schüttelte den Kopf.
»Dann ist Traurigsein eine Sünde.«

Auguste-Viktoria-Schule, ehemalige Schule von Marlene Dietrich in der Nürnberger Straße 63
Es klingelte, die Pause war vorüber und die Lehrerin ging fort. Marlene sah ihr nach. Madame Breguand hatte dunkle Augen und trug ihr schwarzes Haar zu einem lockeren Knoten gebunden. Ihre Worte hatten großen Eindruck auf Marlene gemacht und verwunderten sie zugleich. Madame Breguand kannte sie doch kaum, hatte sie bislang nicht als Schülerin gehabt. Warum hatte sie sie angesprochen?
Ob Madame Breguand mehr gewusst hatte, als die kleine Marlene vermuten konnte? Ob sie gewusst hat, dass Marlene bereits Halbwaise war, dass ihr Vater, der schönste Polizist von Berlin, nach langem Leiden verstorben war? Ob sie ahnte, was Marlene mitgemacht hatte, als sie den geistig umnachteten Vater in der Klinik besucht, ihm zum Abschied die gelbe Haut gestreichelt hatte? Dass man ihr eingetrichtert hatte, ein echtes Berliner Mädchen würde nicht weinen?
Madame Breguand kam jetzt in jeder Pause vorbei, um ein wenig zusammen zu plaudern. Sie war entzückt, als sie hörte, wie gut Marlene schon Französisch konnte. Interessierte sie sich für Marlene, weil sie deren Einsamkeit spürte, weil sie merkte, dass Marlene anders war? Marlene blühte auf. Zum ersten Mal ging sie gerne zur Schule, zum ersten Mal fiel es ihr leicht, das Schultor zu öffnen. War die Pause vorüber, half sie Madame Breguand, die Bücher zu tragen, sprach ein paar Sätze Französisch mit ihr. Bevor sie die Tür zum Klassenzimmer schloss, sah die Lehrerin Marlene noch einmal dankbar an. So leicht war Marlene dann zumute, sie hätte jubeln, hätte singen können. All ihr Bestreben war es nun, ihrer neuen Freundin Zeichen der Dankbarkeit zukommen zu lassen. Sie lernte immer neue Vokabeln, machte ihr heimlich Geschenke: ein blau-weiß-rotes Band, das die Mutter auf einem Ball getragen hatte, einen Strauß Maiglöckchen, leuchtenden Klatschmohn zum 14. Juli, dem französischen Nationalfeiertag. Als Marlene ihrer Lehrerin ein Parfum kaufen wollte, aber schritt die Mutter ein. Ein solch teures Geschenk würde nur für Verlegenheit sorgen. Oft wartete Madame Breguand nach dem Unterricht noch mit Marlene vor der Schule auf deren Gouvernante. Hoffentlich verspätet sie sich heute, wird sich Marlene heimlich gewünscht haben.

Nicht nur für Blaue Engel: Budapester Straße 2
Marlenes Glück war perfekt, als sie ihren Schutzengel endlich zur regulären Lehrerin bekam. Bei ihr im Unterricht zu sitzen, ihre Stimme zu hören, Geschichten und Märchen aus Frankreich zu lauschen, kein größeres Glück konnte sich Marlene denken. Auch wenn Madame Breguand sie im Unterricht nicht anders behandelte als die Mitschülerinnen, spürte Marlene doch das geheime Band der Sympathie, das jede Französischlektion zum Fest werden ließ.
So freute sich Marlene auch im Sommer 1914 auf den Beginn des neuen Schuljahres. Doch wie groß war ihr Schreck, als sich Lehrer und Schüler in der Aula versammelten. Wo war Madame Breguand? Wo war ihr Schutzengel, ihre Vertraute? Hatte sie die Schulglocke nicht gehört, stand sie vielleicht in der hintersten Reihe? Marlene stellte sich auf die Zehenspitzen, vergebens, das liebe Gesicht fehlte. Dann wurden pathetische Reden gehalten, von Reich und Ehre, vom Krieg, dem großen vaterländischen, der jetzt ausgebrochen war, vom Erzfeind Frankreich, den man bezwingen, von Paris, in das die deutschen Soldaten bald einmarschieren würden. Marlene fing an zu zittern. Plötzlich wurde ihr klar, warum ihre Lehrerin fehlte. Sie ist Französin. Deutschland kämpft gegen Frankreich. Deshalb fehlt sie. Weil sie zum Feind gehört.
Ohnmächtig sank Marlene zu Boden. Man achtete nicht weiter darauf, schob es auf die schlechte Luft in der Aula, flößte ihr Wasser ein. Marlene war eines der ersten Opfer des Krieges. Sie hatte ihre beste Freundin verloren. Sie hasste den Krieg, hasste ihn von der ersten Minute, hasste die Soldaten, die singend durch Berlin zogen, die Frauen küssten, Blumen in ihre Gewehrläufe steckten. Die Schule wurde wieder zum Gefängnis. Aber Marlene fand ihren Weg in die Freiheit: Sie hielt Madame Breguand weiter die Treue, sprach weiter Französisch, auch wenn sie dafür jedes Mal zehn Pfennig in die Klassenkasse zahlen musste. Tief im Herzen bewahrte sie ihr Geheimnis, die Liebe zu Frankreich, zur sanften, vertrauten Sprache, zu einem Menschen, den sie liebte.
Auguste-Viktoria-Schule
Nürnberger Straße 63
10787 Berlin
Tod im Morgengrauen – Clara Immerwahr
13 Haber-Villa (Dahlem)
Sie war nicht gleich tot. Der Schuss war ihr durchs Herz gegangen, noch lebend aber hatte man sie gefunden, in den Morgenstunden des 5. Mai 1915, auf dem Rasen vor dem Wintergarten ihrer Dahlemer Villa. Die Rettung kam zu spät. Clara Immerwahr starb, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben, neben ihr der Armeerevolver ihres Mannes. Eigentlich trug sie seinen Namen, sie ist ja seine Ehefrau gewesen, die Frau eines der größten Chemiker seiner Zeit, Fritz Haber, seit 1911 Direktor des neu gegründeten Kaiser-Wilhelm-Instituts für physikalische Chemie. Die Ehe ist unglücklich verlaufen, Fritz Haber, zwei Jahre älter, ebenfalls jüdischer Herkunft, hatte die Nähe einer anderen Frau gesucht, hatte am Abend zuvor bei einem Gartenfest intensiv geflirtet, als Clara ihn überraschte. Sie ist in ihr Zimmer, an ihren Schreibtisch, hat Abschiedsbriefe geschrieben. Dann nahm sie den Revolver und trat hinaus ins Freie.
Später hieß es, die begabte Wissenschaftlerin, die erste deutsche Frau, die in Chemie promovierte, sei mit dem Kriegswahn ihres Mannes nicht klargekommen, damit, dass er seine Forschungen in den Dienst der Armee gestellt hatte, in einen teuflischen Dienst. Um die Franzosen an der Westfront in ihren Gräben zu töten, hatte er das Verfahren perfektioniert, Giftgas einzusetzen, Tausende junge Franzosen waren dabei ums Leben gekommen, elend erstickt. Aufgewühlt von dieser Nachricht hatte die Pazifistin protestiert, zum großen Ärger ihres Mannes. Hautnah hatte sie mitbekommen, wie das Gift wirkt, bei Tests in unmittelbarer Nähe der Dienstvilla waren Affen grauenvoll krepiert. Auch bekam sie das Bild der entstellten Leiche ihres Freundes Otto Sackur nicht aus dem Kopf; bei geheimen Forschungen an kriegswichtigen Sprengstoffen im Labor ihres Mannes war es zu einer Explosion gekommen. Liebeskummer, Enttäuschung, das Gefühl, als Ehefrau keine eigene Karriere machen zu können, der furchtbare Giftkrieg … es wird eine Melange von Gefühlen gewesen sein, die Clara Immerwahr in den Tod getrieben hat. Ob sie heute, hundert Jahre später, ihr Glück gefunden hätte?

Haber-Villa, Rasen vor dem Wintergarten
Haber-Villa
Faradayweg 8
14195 Berlin
Das Leben der Anderen
14 Wohnhaus von Georg Dreyman (Friedrichshain)
Ein Oskar. Für einen deutschen Film. Ein seltener Moment in der Filmgeschichte. Im Jahr 2006 wurde er dem Regisseur Florian Henckel von Donnersmarck überreicht, für den besten fremdsprachigen Film des Wettbewerbs. Kaum einer, den dieses Meisterwerk nicht angerührt hätte. Es erzählt die Geschichte eines kleinen Schnüfflers, eines grauen, einsamen Menschen, des Stasi-Hauptmanns Gerd Wiesler, gespielt von Ulrich Mühe. Wiesler wird beauftragt, den als politisch unzuverlässig geltenden Theaterschriftsteller Georg Dreyman zu observieren. Hierzu verwanzt er dessen Wohnung und richtet eine Abhöranlage auf dem staubigen Speicher ein. Was Wiesler erst im Laufe der Zeit merkt: Es geht dem DDR-Kultusminister, der die Aktion initiiert, gar nicht um den Theatermann, es geht ihm um dessen Freundin, die Schauspielerin Christa-Maria Sieland. Hinter ihr ist er her, sie will der feiste Mensch ins Bett kriegen. Fein gezeichnet wird der Charakter des im Leben der Anderen schnüffelnden Wieslers, wie er neugierig wird auf eine Welt, die ihm fremd ist, die Welt der Literatur und Musik, wie er Sympathie entwickelt für das Liebespaar, wie er anfängt, an seiner Arbeit zu zweifeln und sie dennoch pflichtgemäß erledigt, bis er beginnt, als unsichtbarer Geist in die Geschichte einzugreifen, den Verfolgten zu helfen und doch die Katastrophe nicht verhindern kann, den Tod der Schauspielerin. Versöhnlich dann die Schlussszene: Nach der Wende entdeckt Dreyman, der in der Wedekindstraße 21 wohnt, dass man ihn überwacht hat. Mithilfe seiner Stasi-Akte identifiziert er Wiesler, der sich sein Geld mit dem Austragen von Wurfsendungen verdient. Dreyman beobachtet Wiesler, nimmt keinen Kontakt zu ihm auf, widmet ihm aber seinen Roman Die Sonate vom guten Menschen unter Benutzung seines Stasikürzel: »Für HGW XX/7 gewidmet, in Dankbarkeit.« Wiesler entdeckt das Buch in einer Auslage, kauft es und schaut hinein.

Wohnhaus Wedekindstraße 21
»Soll ich es als Geschenk verpacken?«, fragt ihn die Verkäuferin.
»Nein«, antwortet Wiesler, »es ist für mich.«

Wohnhaus von Georg Dreyman
Wedekindstraße 21
10243 Berlin
Friedrich Rückert – Berlins erster Gruner
15 Oberbaumbrücke (Friedrichshain-Kreuzberg, verbindet die beiden Ortsteile)
Einer der frühen Ankläger der mit der Industrialisierung einsetzenden Umweltverschmutzung ist der Dichter und Sprachgelehrte Friedrich Rückert gewesen. 1841 von Erlangen an die Berliner Universität berufen, war der geniale Weltpoet, der aus 44 Sprachen übersetzen konnte, entsetzt darüber, wie es in der preußischen Hauptstadt stank, und fand dafür deutliche Worte:
Der Spree ist’s weh;
Sie kann sich nicht entschließen,
In Berlin hineinzufließen,
Wo die Gossen sich ergießen.
Wer mag ihr verdenken?
Sie möcht' lieber, wenn sie dürft’ , umlenken.
Hindurch doch muss sie schwer beklommen;
Sie kommt beim Oberbaum herein,
Rein wie ein Schwan,
Um wie ein Schwein,
Beim Unterbaum herauszukommen.
Oberbaum und Unterbaum dienten einst der Abwehr von Schmugglern. Damit auch die Schiffer ihre Waren ordnungsgemäß verzollten, versperrte man ihnen den Weg über die Spree mit eisenbeschlagenen Baumstämmen. Der Oberbaum versperrte im Südosten beim Eintritt des Flusses die Stadt, flussabwärts sein Pendant, der Unterbaum, im Nordwesten. Die stattliche Oberbaumbrücke erinnert heute noch an die alte Zollstation. Die Unterbaumbrücke befand sich auf der Höhe der jetzigen Friedrichsbrücke nahe des Tränenpalastes.


Oberbaumbrücke
Friedrich Rückert muss man sich als unkonventionellen Menschen vorstellen. Selbst bei Hofe scherte er sich nicht um gesellschaftliche Gepflogenheiten, das bekam auch Friedrich IV. zu spüren, der seine Universität zur bedeutendsten Deutschlands machen wollte. Gerne schmückte der König seine Tafel mit seinen Gelehrten. Als auch Rückert – nolens volens – der Einladung folgte, flüsterte Alexander von Humboldt ihm zu, wo denn der Orden sei, mit dem ihn der König ausgezeichnet hatte. Rückert zuckte die Schultern und erwiderte, das Ordensband habe seiner Frau gefallen, er habe es abgeschnitten, damit es ihren neuen Hut ziere.
Friedrich Rückert ist in Berlin nie recht heimisch geworden und war froh, 1848 in sein geliebtes Frankenland zurückzukehren. Eine steinerne Büste, die einst auf dem Kreuzberg stand, ist leider verschwunden, eine Rückertstraße in Charlottenburg erinnert noch an den frühen Grünen, außerdem existieren Autographen in der Staatsbibliothek.

Friedrich-Rückert-Denkmal, nicht in der Hauptstadt, dafür in Schweinfurt
Oberbaumbrücke
10243 Berlin
Pack die Badehose ein
16 Wohnhaus der Familie Froboess in den 1950er Jahren (Gesundbrunnen)
Eigentlich hatte der Papa das Lied für die Schöneberger Sängerknaben komponiert. Eigentlich. Dann aber besuchte Gerhard Froboess in Begleitung seiner kleinen Tochter Cornelia das Studio von RIAS Berlin. Es war im Mai 1951. Der Sendeleiter, Hans Carste, schenkte der Kleinen eine Tafel Schokolade und wünschte sich dafür im freundlichen Onkelton ein Lied als Gegengabe. Spontan und unbeschwert, wie Conny nun mal war, fing sie sogleich an, drauflos zu trällern. Der Sendeleiter lachte und war begeistert. Daraus musste sich doch was machen lassen! Kurz darauf wurde das gerade mal sieben Jahre alte Mädchen in die Quizsendung Mach' mit eingeladen, Quizmaster war Hans Rosenthal. Ein Lied oder zwei? Warum nicht! Doch das Mikrofon war elend hoch, Conny musste auf einen Stuhl klettern. Dann fing sie an zu singen: O, diese Göre und Pack' die Badehose ein …
Mit dem kleinen Schwesterlein nischt wie raus nach Wannsee! Die Reaktionen waren überwältigend, die Hörer begeistert. Das traf genau den Ton, Berliner Schnauze mit Herz. Sofort meldete sich auch die Plattenfirma bei ihrem Vater. Das war ja viel besser als die Aufnahme mit dem Chor! Da musste unbedingt eine Neuaufnahme her! In einer Kirche wurde der Schlager erneut eingespielt und brach sämtliche Rekorde. So früh zum Star zu werden, ist für viele Kinder eine große Hypothek. Cornelia Froboess aber stieg der Ruhm nicht zu Kopfe. Sie absolvierte erfolgreich eine Schauspielschule und wurde zu einer gefragten Darstellerin. Wie oft sie noch die Badehose einpackt und zum Wannsee hinausradelt, aber bleibt ihr Geheimnis. Vom Haus ihrer Kindheit in der Gottschalkstraße im Ortsteil Gesundbrunnen ist eine Radtour nach Wannsee keine unsportliche Leistung gewesen.

Wohnhaus der Familie Froboess, Gottschalkstraße 27

Conny Froboess als Kinderstar
Wohnhaus der Familie Froboess in den 1950er Jahren
Gottschalkstraße 27
13359 Berlin
Die beste Brezel Berlins
17 Teufelssee im Grnewald (Grunewald)
Über die Qualität der Berliner Backwaren gibt es höchst unterschiedliche Urteile. Gäste aus dem Frankenland, dem Land der Bäcker und Brauer, gehen manchmal recht kritisch mit der Berliner Backqualität ins Gericht. Umso erstaunter war ein fränkisches Pärchen, als es an einem heißen Sommertag mitten im Grunewald am Ufer des Teufelssees lag und ein fliegender Händler Brezeln anbot. Nur weil der Hunger groß war, entschloss man sich zum Kauf – und siehe da! – man wurde auf das Angenehmste überrascht. Warm, duftend, knusprig und dezent mit Salz bestreut, was will man mehr! Von überall strömten die Sonnenbadenden herbei, nackt, halbnackt oder in Textilien, und kauften dem Mann den Korb leer. Witzigerweise ist der Teufelssee ein Himmelsteich, ein Gewässer also, dass allein vom Regen gespeist wird. Unbedingt mal hinausradeln! Die Wasserqualität ist wunderbar, ebenso wie die Qualität der angebotenen Backwaren. Bitte jedoch beachten: Die Brezel nicht aus dem Auge lassen! Und auch nicht Ihr technisches Gerät. Bekanntlich treibt ein Wildschwein am Teufelssee sein Unwesen. Es ist nicht nur hungrig, sondern darüber hinaus auch äußerst bildungshungrig: Das Youtube-Filmchen, wie die Sau einen Laptop klaut, verfolgt von dem nackten Besitzer, hat international für Furore gesorgt.

Am Teufelssee frisch erstandene Brezel samt Pizzazunge
Teufelssee im Grunewald
Im Jagen (am Ende der Teufelsseechausses)
14193 Berlin
Конец ознакомительного фрагмента.
Текст предоставлен ООО «ЛитРес».
Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию на ЛитРес.
Безопасно оплатить книгу можно банковской картой Visa, MasterCard, Maestro, со счета мобильного телефона, с платежного терминала, в салоне МТС или Связной, через PayPal, WebMoney, Яндекс.Деньги, QIWI Кошелек, бонусными картами или другим удобным Вам способом.