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Sie verließ mit der Plastiktüte ihre Wohnung und schloss die Tür hinter sich ab.
Draußen war es ein wenig bewölkt und windig. Der Himmel trug eine graue Farbe, und die Sonnenstrahlen brachen kaum durch die Trübheit des Tages hindurch.
Sie holte Toivo, der vor Aufregung laut zu bellen begann, von seinem Schlafplatz ab, nahm ihn an die Leine und machte sich auf den Weg zu ihrem Lieblingsplatz. Das war eine Bank gegenüber eines Supermarktes, von wo aus sie immer die Leute beobachtete, die den Laden betraten und verließen. Es war keine besonders tolle Freizeitbeschäftigung, aber für etwas anderes hatte sie kein Geld. Außerdem war sie so an der frischen Luft, konnte mit Toivo zusammen sein und fühlte sich nicht ganz so einsam.
Unterwegs hielt sie an einem Kiosk an. Die Titelseite der Zeitung zog ihre Aufmerksamkeit auf sich.
ERNEUT SUCHEN DUTZENDE MYSTERIÖSE TODESFÄLLE UNSERE STADT HEIM – OPFER BRECHEN EINFACH ZUSAMMEN. TODESURSACHEN NOCH UNKLAR.
POLIZEI STEHT VOR EINEM RÄTSEL UND RÄT DEN EINWOHNERN, VORSICHTIG ZU SEIN UND VERDÄCHTIGES SOFORT ZU MELDEN.
Ciel bekam mit, wie ein Passant die Zeitung aufklappte und kopfschüttelnd zu dem Kioskbesitzer sagte: »Schlimm sowas. Nicht mal hier ist man noch sicher. Es geht das Gerücht um, dass jedes Mal ein Mädchen in Schwarz am Tatort gesehen worden sein soll. Dabei kann sie unmöglich etwas damit zu tun haben. Immerhin sind die Opfer von ganz allein tot umgefallen.«
»Sehr mysteriös das Ganze«, murmelte der Verkäufer, der nebenbei Schokoriegel in ein Regal einräumte. »Vielleicht eine neue Krankheit oder …«
Ciel lief schnell weiter. Von so schrecklichen Dingen wollte sie nichts hören. Es passierte schon genug Grausames auf dieser Welt.
Schließlich hatte sie ihren Lieblingsplatz auf der mit Graffiti beschmierten Bank erreicht. Sie setzte sich und nahm Toivo auf den Schoß, der ihr vor Freude mit seiner feuchten Zunge so lange übers Gesicht leckte, bis Ciel kichern musste.
Sie holte aus dem kleinen Plastikbeutel eine Dose Hundefutter heraus, riss sie am Verschluss auf und hielt sie dem Hund hin. Toivo fraß gierig, während sie noch einen Blick in die Plastiktüte warf. Drinnen befanden sich eine große Wasserflasche und eine Brottüte.
Als Ciel sie öffnete, seufzte sie enttäuscht. Etwas hartes Pizzabrot, außerdem zwei Sandwiches, die mit einem undefinierbaren Aufschnitt belegt waren – Ciel vermutete, dass es sich um Käse oder Ei handelte. Nicht sehr appetitlich oder gesund, aber das hier war immer noch besser, als zu hungern.
Sie teilte sich das Wasser mit ihrem Hund, kaute auf einem der trocknen Sandwiches herum und seufzte, als sie Toivo über den Kopf streichelte. »Ich wünschte, ich könnte wenigstens dir ein besseres Leben bieten«, murmelte sie traurig und lächelte, als der Kleine ihre Hand beschnupperte, um noch mehr zu fressen zu bekommen.
Leises Vogelgezwitscher ließ sie aufblicken. Hinter einem geparkten Auto konnte sie einen kleinen Spatzen erkennen, der um einen weiteren Spatz herumhüpfte und dabei aufgebracht zwitscherte. Doch der Vogel, der auf dem Boden lag, regte sich nicht. Vermutlich war er angefahren worden oder gegen eine Scheibe geflogen.
Ciel erhob sich und ging zu dem toten Vogel hinüber. Der aufgeregt piepsende Spatz flog davon, als sie sich bückte.
»Armer kleiner Vogel.« Schnell warf sie einen Blick über die Schulter, um sich zu vergewissern, dass sie allein war und niemand sie bei dem beobachtete, was sie gleich tun würde.
Sie wartete, bis eine Mutter mit ihrem nörgelnden Kind im Supermarkt verschwand, dann nahm sie den toten Vogel in die Hände. Die Flügel waren verdreht, der Schnabel stand offen, und die kleinen Beine zeigten starr nach oben. Ciel schloss die Augen, konzentrierte sich und spürte, wie ihre Hände warm wurden, als würde sie einen Becher heißen Tee halten.
Als sie die Augen wieder öffnete, war der Vogel lebendig, hüpfte laut zwitschernd auf ihrer Hand, als wollte er sich bedanken, ehe er die Flügel ausbreitete und davonflog.
Ciel lächelte glücklich und blickte ihm nach. »Alles Gute, kleiner Vogel«, flüsterte sie und ging zurück zu ihrem Hund, der brav auf der Bank saß und auf sie wartete. Toivo sprang ihr auf den Schoß, kaum dass sie sich setzte. Sie streichelte ihn, während sie gedankenverloren sagte: »Ist es sehr komisch, Toivo, dass ich Tiere heilen und sie ins Leben zurückholen kann? Ich weiß auch nicht, warum ich das kann.«
Es war ihr größtes Geheimnis. Sie hatte nie jemandem von ihren Fähigkeiten erzählt. Wem auch?
Außerdem würde ihr niemand glauben.
»Ob das auch bei Menschen funktioniert?« Sie zuckte die Achseln und seufzte. »Jedes Mal fürchte ich mich dabei vor mir selbst.« Sie blickte hinüber zu einem Auto, auf dessen glänzendem Lack sich ihr Gesicht spiegelte. »Wer oder was bin ich?«
Toivo wedelte mit dem Schwanz und bellte, ehe er ihr erneut mit der feuchten Zunge über die Wange fuhr, als würde er ihren Kummer spüren und wollte sie trösten.
Ciel lachte. »Mein lieber, süßer Toivo, du darfst mich niemals verlassen, versprich mir das, ja?«
Sie saß noch lange auf der Bank, beobachtete die vielen Leute, die den Supermarkt besuchten – junge und alte, Familien, Jugendliche, Kinder. Menschen, die normal waren und einfach ihr Leben lebten. Wie gerne sie mit ihnen tauschen wollte!
Irgendwann schlief Ciel vor lauter Erschöpfung ein. Als sie nach einiger Zeit wieder aufwachte, war der Himmel in ein orangefarbenes Licht getaucht. Die Sonne ging bereits unter. Vögel zwitscherten in den Bäumen und sangen ihre Abendlieder.
Sie gähnte, rieb sich die Augen und blickte Toivo entschuldigend an, der vor ihr auf dem Boden saß und mit seinen großen Hundeaugen zu ihr hochblickte.
»Wie spät ist es? Ich muss wohl eingeschlafen sein.«
Nachdem sie in letzter Zeit von morgens bis abends schwer arbeitete, wunderte es sie nicht, wenn sie am Tag so viele Stunden schlafend verbrachte.
Sie setzte sich auf und streckte sich. Ihre Glieder waren bleischwer, ihr Körper ganz steif, ihr tat der Nacken weh und ihr Magen knurrte schon wieder. Ihr Blick fiel auf den Supermarkt. Auf dem Parkplatz war es bereits menschenleer und sie sah, wie die Mitarbeiter Schilder hineintrugen und sich auf den Feierabend vorbereiteten, also musste es bereits achtzehn Uhr sein, denn da schloss der Laden.
»Oje, in einer Stunde muss ich zur Arbeit. Ich darf bloß nicht zu spät kommen, sonst bekomme ich Ärger vom Chef. Gehen wir besser, Toivo!« Sie erhob sich und schnappte sich die Leine. Toivo bellte und wedelte erfreut mit dem Schwanz, als sie einen letzten Blick zum Supermarkt warf.
In diesem Moment stürmte ein Verkäufer aufgebracht aus dem Laden und blickte sich mit geballten Fäusten hektisch um. »Halt sie fest! Sie hat uns bestohlen!«, schrie er quer über den menschenleeren Parkplatz.
Ciel brauchte einen Moment, um zu realisieren, dass sie gemeint war. Nur einen Augenaufschlag später sah sie, wie eine ganz in Schwarz gekleidete Person direkt auf sie zustürmte. Sie konnte vom Körperbau her nicht männlich sein, das bemerkte Ciel sofort. Die weibliche Person, die höchstens so groß war wie sie selbst, trug einen Beutel im Arm, in dem sich wohl das Gestohlene befand. Außerdem hatte sie sich die Kapuze ihrer schwarzen Jacke tief ins Gesicht gezogen, um unerkannt zu bleiben.
Ciel handelte, ohne nachzudenken. Sie rannte los, um die Diebin festzuhalten. Auch wenn sie vielleicht arm war, so wie Ciel, gab es ihr noch lange nicht das Recht, Supermärkte auszurauben. Es gab andere Wege, um seine Armut in den Griff zu bekommen.
Sie stürmten nun beide direkt aufeinander zu. »Halt!«, schrie Ciel, machte einen Satz nach vorn und packte die Diebin am Arm – doch die war stärker, als sie ausschaute. Sie riss sich von Ciel los und warf sie dabei zu Boden.
Als Ciel aufsah, bemerkte sie, wie Toivo auf die dunkel gekleidete Person zusprang und sich in ihrem Hosenbein festbiss, wodurch die Diebin ins Stolpern geriet.
»Gut gemacht, Toivo!«, rief Ciel und rappelte sich auf. Sofort sprang sie auf die Fremde zu und warf sich auf sie, um sie an einer weiteren Flucht zu hindern. Sie schrien beide gleichzeitig auf, als sie auf das Pflaster des Parkplatzes fielen. Ciel war sofort wieder auf den Beinen, setzte sich rittlings auf den Bauch der Diebin, um sie am Boden zu halten, doch die wehrte sich gar nicht. Nicht einmal als Ciel ihr den Beutel aus den Händen riss.
Das war seltsam. Diebe würden ihre kostbare Beute doch niemals so leicht wieder hergeben, vor allem dann nicht, wenn ein Mädchen es mit ihnen aufnahm, das schwach und zerbrechlich war und nicht mal fünfzig Kilo wog.
»Man bestiehlt niemanden!«, schimpfte Ciel und riss dem Mädchen die Kapuze vom Kopf.
Doch was sie sah, ließ ihr Herz erstarren und das Blut in ihren Adern gefrieren. Ihre Lunge zog sich zusammen, und ihr wurde übel. Ungläubig weiteten sich ihre Augen. Selbst die Zeit schien stehenzubleiben, denn Ciel blickte in ihr eigenes Gesicht.
»Aber … was … wer …«, stammelte sie. Sie hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Es war unmöglich! Das konnte einfach nicht wahr sein!
Aber dieses Mädchen, die Diebin in Schwarz, sah genauso aus wie sie selbst. Das gleiche hüftlange blonde Haar und das gleiche schmale Gesicht. Die abgemagerte Statur, die blasse Haut. Einzig ihre Augen unterschieden sich. Während Ciel smaragdgrüne Augen hatte, waren die des anderen Mädchens kristallblau.
Es war, als sähe Ciel ihr eigenes Spiegelbild. Sie hätten glatt Zwillinge sein können!
Ciel schüttelte fassungslos den Kopf. »N-nein, das kann nicht …« Tränen brannten in ihren Augen, aufgewühlt von den plötzlich in ihrem Herzen einschlagenden Gefühlen.
Ihr Double schien über Ciels Anblick genauso entsetzt zu sein, denn sie schaute sie mit dem gleichen Blick an. Genauso ängstlich, verwirrt und erschrocken. Ihre Augen waren weit aufgerissen, das Gesicht leichenblass.
Ciel saß noch immer rittlings auf ihr und hielt sie mit ihrem Gewicht am Boden, was jedoch völlig unnötig war, denn ihre Doppelgängerin schien zu Stein erstarrt. Ciel war so durcheinander, dass sie vergessen hatte, weshalb sie das eigentlich tat, geschweige denn was hier vor sich ging. Selbst Toivo, der noch immer vergeblich am Hosenbein des Mädchens zog, nahm sie kaum wahr. Ihre Welt begann sich zu drehen. Das Schwindelgefühl überwältige sie mit solcher Macht, dass sie sich beide Hände an den Kopf presste und einen erstickten Schrei ausstieß.
Einen Moment lang sahen sich die beiden Mädchen wieder an, ohne ein Wort zu sagen. Plötzlich glitzerten auch in den Augen der Unbekannten Tränen. Ihr blasser Mund öffnete sich, doch sie blieb stumm.
»Wer bist du?«, hauchte Ciel.
Wieso siehst du genauso aus wie ich?
Wieder öffnete das Mädchen den Mund. Eine einzelne Träne rann ihr über die Wange – dann gab es einen fürchterlichen, ohrenbetäubenden Knall am Himmel, der sich schlagartig und binnen Sekunden pechschwarz färbte.
Ciel schrie auf, kniff die Augen zusammen und hielt sich die Ohren zu, während ein eiskalter Wind über sie hinweg heulte und sie erschaudern ließ. Ihre Haare peitschten ihr ins Gesicht, während die Temperaturen rasant sanken. Weit in den Minusbereich, denn Eiskristalle bildeten sich urplötzlich auf dem Beton und auf Ciels Kleidung. Sie keuchte panisch, zitterte vor Kälte und blies eine Atemwolke aus.
Schwarze Wolken türmten sich auf und verschluckten jeden Lichtstrahl. Mit einem Mal war alles stockdunkel.
Zu Ciels Erleichterung gingen in diesem Moment die Straßenlaternen an und sie sah den Verkäufer auf sie zurennen.
»Was ist hier los?« Der junge Mann mit schwarzen zurückgegelten Haaren, braunen Augen und großer Nase, blieb schwer atmend vor ihnen stehen. Erschrocken blickte er sich um, sah ängstlich zu der sich auftürmenden Finsternis, die sich überall um sie herum noch immer wie Nebel ausbreitete. Als ein weiterer lauter Knall am Himmel dröhnte, zuckte er zusammen. Erschrocken richtete er den Blick nach oben und murmelte unverständliche Worte vor sich hin.
Das muss ein böser Traum sein. Nur ein böser Traum!, redete sich Ciel panisch ein, während sie sich mit zusammengekniffenen Augen die Ohren zuhielt.
»Was zum …?«, murmelte der Verkäufer nervös, aber als sein Blick wieder auf Ciel und dann auf das Gesicht des fremden Mädchens fiel, verzerrte sich seine Miene zu einer wütenden Grimasse. »Ihr beiden steckt also unter einer Decke?«
»Was? Nein, ich …«, stammelte Ciel.
Doch in diesem Moment zog sich ihre Doppelgängerin die Kapuze wieder tief ins Gesicht, schob sich unter Ciel hervor und rannte davon – ohne Beute und ohne sich noch einmal umzudrehen.
Mit ihrem Verschwinden lösten sich der schwarze Nebel und auch die dunklen Wolken am Himmel auf, verschwanden so schnell, wie sie erschienen waren. Als hätte man mit der Hand über den Himmel gewischt und die Finsternis einfach weggezaubert. Auch die eisige Kälte wich – und wie bei einem sich öffnenden Vorhang kam der abendrot gefärbte Himmel wieder zum Vorschein.
Ciel hatte keine Erklärung dafür, was da gerade geschehen war. Ihr Blick fiel auf den Beutel, den sie noch in der Hand hielt. Neugierig öffnete sie ihn, um zu sehen, was die Diebin gestohlen hatte. Zu ihrer Überraschung befanden sich weder Alkohol, noch teure Zigaretten oder Geld darin, sondern ganz normale Lebensmittel. Ein halbes Brot, zwei Äpfel und eine Wasserflasche.
Sie hob den Kopf und schaute in die Richtung, in die ihre Doppelgängerin verschwunden war. Selbst wenn ihr die Angst über die Wahrheit womöglich das Herz einfror, sie musste das Mädchen zur Rede stellen!
»Warte!«, schrie sie, als sie sich aufgerappelt hatte, doch das Mädchen war auf der gegenüberliegenden Seite des Parkplatzes bereits im Wald verschwunden. Ciel wollte ihr nach, aber der Verkäufer packte sie grob am Oberarm und hielt sie fest.
»Ich glaube, wir müssen uns mal unterhalten«, knurrte er.
»Nein, bitte, ich habe nichts getan!« Verzweifelt wehrte sich Ciel gegen den starken Griff. »Hier, ich habe den Beutel mit den gestohlenen Sachen und …«
»Spar dir das für die Bullen auf!«, brüllte der Verkäufer, der sie weiter mit einer Hand festhielt, während er mit der anderen sein Handy aus der Hosentasche zog.
Jetzt geriet Ciel richtig in Panik. Was sollte sie der Polizei sagen? Sie hatte ja selbst keine Ahnung, was hier passiert war, wer das Mädchen war und warum es genauso aussah wie sie.
»Lassen Sie das Mädchen los!«
Der Verkäufer wirbelte herum und zog Ciel mit sich. Hinter ihnen stand ein Junge, der ungefähr in Ciels Alter sein musste. Er war so leise aufgetaucht, dass keiner der beiden es gemerkt hatte. Er trug ein weißes T-Shirt, darüber eine weiße Jacke, und dunkelblaue Jeans. Außerdem hatte er leuchtend blondes Haar und grüne Augen, die wie Smaragde funkelten.
Ciel spürte, wie sie rot wurde, während sie ihn anstarrte. Er war so unglaublich schön, auf eine Art wie die Männer in Modezeitschriften schön waren. Sie schluckte. Kam es ihr nur so vor oder war es ziemlich warm geworden?
»Was willst du?«, fuhr der Verkäufer ihn mit einer Mischung aus Wut und Überraschung an. »Ich wurde gerade ausgeraubt. Die Täterin ist zwar auf der Flucht, aber hier habe ich ihre Komplizin.« Er verstärkte seinen Griff um ihren Arm, sodass sie vor Schmerzen aufstöhnte.
»Ich bin nicht …«
»Schweig!«, brüllte der Verkäufer sie an. »Ich weiß doch, was ich gesehen habe.«
»Keine Sorge. Ich kümmere mich darum«, versprach der Junge ruhig und griff nach Ciels Hand.
Sie erschauderte, als seine Berührung eine heiße Welle durch ihren gesamten Körper sandte. Für einen kurzen Moment wurde ihr sogar leicht schwindelig, als die Wärme sich in jedem Winkel ihres Körpers ausbreitete. Ein Teil von ihr empfand seine Berührung als befremdlich und wollte am liebsten sofort fliehen. Doch dann war da noch ein anderer, noch mächtigerer Teil von ihr, der nicht wollte, dass er sie jemals wieder losließ. Aus irgendeinem Grund hatte seine Berührung etwas Beschützendes, denn all ihre Ängste waren mit einem Mal komplett verflogen. Und diese Wärme, die er verströmte … So etwas hatte sie noch nie gespürt. Oder bildete sie sich das alles nur ein?
»Was fällt dir ein, du frecher Bengel? Wer zum Teufel bist du überhaupt?«, verlangte der Verkäufer zu wissen, doch der Junge sah ihn bloß schweigend und mit einem kühlen Blick an.
Der Verkäufer hielt noch immer Ciels Arm fest und wedelte mit dem Handy in der Hand herum. Eine Warnung, dass er jederzeit die Polizei rufen konnte.
»Steckst du etwa auch mit den beiden Mädchen unter einer Decke, hä? Ihr werdet jetzt so lange hierbleiben, bis ich …«
Doch was immer er noch sagte, bekam Ciel nicht mehr mit. Sie spürte ein schmerzhaftes Pochen in den Schläfen, und ihr Gesicht verzerrte sich. Ihr war schlecht, und vor ihren Augen drehte sich alles. Ihr Herz schlug ihr plötzlich so schmerzhaft gegen die Brust, dass sie nach Luft schnappen musste. Hätte man sie nicht festgehalten, wäre sie zu Boden gesunken. Verzweiflung und Wut schlugen mit aller Macht die Klauen in ihr Herz.
»Ich sagte, ich habe nichts getan!«, schrie sie, gegen die Tränen ankämpfend, und das Echo ihrer eigenen Stimme hallte ihr in den Ohren wider.
Für einen kurzen Moment sah sie an dem Verkäufer vorbei zum Supermarkt. Im nächsten leuchtete ein greller Blitz, ein Lichtfunken, vor ihren Augen auf und es gab einen ohrenbetäubenden Knall. Lautes Bersten ertönte– und hinter ihnen stand der Supermarkt lichterloh in Flammen! Loderndes, knisterndes Feuer verzehrte das große Gebäude. Dichter, schwarzer Rauch stieg empor und verdunkelte den Himmel binnen Sekunden ein weiteres Mal an diesem Tag. Glasscherben regneten auf den Asphalt des Parkplatzes nieder. Brennende Trümmerteile des Supermarkets wurden durch die heftige Explosion in die Lüfte geschleudert, stürzten wie Kometen zurück auf die Erde und hinterließen Löcher im Beton. Alles geschah beinahe gleichzeitig.
»Was zum …« Der Verkäufer starrte mit leichenblassem Gesicht und weit aufgerissenen Augen auf das Feuer und ließ Ciel augenblicklich los.
Sie hätte diesen Moment zur Flucht nutzen können, doch auch sie begriff nicht, was hier vor sich ging. Sie war wie erstarrt, konnte sich nicht rühren und zitterte vor Angst am ganzen Körper. In ihrem Kopf pochte es unerträglich. Was war hier los? Etwa ein Bombenanschlag?
Da wirbelte der Verkäufer herum und starrte sie und den blonden Jungen so hasserfüllt an, dass ihm Tränen in die Augen schossen. »Ihr! Wie habt ihr … ihr habt … Feuer …« Doch mehr brachte er nicht hervor, ehe er mit geballten Fäusten auf den Jungen losging, ihn am Kragen packte und zu Boden drücken wollte. Doch dann …
Urplötzlich erstarrte der Verkäufer, und seine Augen wurden so groß, dass sie fast aus den Höhlen traten. Er gab ein würgendes Geräusch von sich, als bekäme er keine Luft. Weißer, mit dunkelrotem Blut gemischter Schaum sickerte ihm aus dem Mund, bevor er mit einem dumpfen Aufprall zu Boden fiel und dort regungslos liegen blieb.
Ciel wollte schreien, doch der Junge hielt ihr gerade noch rechtzeitig den Mund zu.
»Still! Ich bin das nicht gewesen!«, flüsterte er.
Er drehte Ciel so weit herum, dass sie zu einem nicht mehr als hundert Meter weit entfernten Baum blicken konnte, hinter dem ihre Doppelgängerin stand. Sie schien die beiden aufmerksam zu beobachten. Doch als ihr die Tränen über die Wangen flossen, wirbelte sie herum und rannte davon.
»Sie ist es tatsächlich. Das zweite Gegenstück«, glaubte Ciel den Jungen leise murmeln zu hören. Sie wirbelte mit Tränen in den Augen zu ihm herum, brachte jedoch keinen Ton heraus.
»Komm mit!«, sagte er, schenkte ihr ein flüchtiges Lächeln und schnappte sich Toivos Leine.
In der einen Hand die Leine, an der anderen Ciel, schleifte er Hund und Frauchen hinter sich her. Zumindest bis sich Ciel, von Panik erfasst, zur Wehr setzte.
»Nein, lass mich los!«, schrie sie. »Wer bist du überhaupt? Und was ist gerade geschehen? Der Verkäufer … er ist …« Der Rauch kratzte ihr in der Kehle und ließ sie husten. Sie hörte das laute Knistern, mit dem das Gebäude von den Flammen verzehrt wurde, spürte die sengende Hitze und sah das Flimmern in der Luft. In der Ferne waren Sirenen zu hören.
Der Junge seufzte. »Hör zu, es tut mir leid, aber du musst mir vertrauen. Lauf einfach weiter, okay?«
»Dir vertrauen? Du spinnst wohl«, fluchte Ciel. Sie sah zu dem Baum, hinter dem ihr merkwürdiger Zwilling gestanden hatte. Das Mädchen war fort. Als hätte es sie nie gegeben. Als wäre das alles nur ein böser Traum.
Ciel hatte sich in ihrem ganzen Leben noch nie so verzweifelt, so schrecklich verwirrt und hilflos gefühlt. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander. Was ging hier bloß vor? Wer war dieser Junge? Und wer hatte den Supermarkt in Brand gesteckt? Warum sah das Mädchen genauso aus wie sie? Und der Verkäufer war …
Wie aus dem Nichts spürte Ciel solch eine Hitze in sich aufsteigen, als hätte sie eine Chilischote verschluckt. Ihr wurde so heiß, dass ihr davon schwindelig wurde und sie von einem Bein aufs andere schwankte. Sie konnte den Blick nicht von der Stelle abwenden, wo ihr Double gestanden hatte. Selbst der Junge, der noch immer ihre Hand festhielt, keuchte auf, als würde er es auch fühlen.
Ciel unterdrückte einen Aufschrei, als sich die Hitze in ihr immer mehr verstärkte. Für einen kurzen Moment bekam sie sogar keine Luft mehr. Sie hatte das Gefühl, innerlich in Flammen zu stehen, so wie der Supermarkt hinter ihnen.
Als sie sich benommen zu dem Jungen umdrehen und um Hilfe schreien wollte, spürte sie einen harten Schlag am Hinterkopf, der sie zu Boden gehen ließ. Dann verlor sie das Bewusstsein.
Als Ciel die Augen öffnete und zu sich kam, hatte sie furchtbare Kopfschmerzen, und ihr war wahnsinnig schlecht.
Sie stöhnte, rieb sich den Kopf und richtete sich schwer atmend auf. Alles tat ihr weh und noch immer drehte sich alles vor ihren Augen. Bloß zu blinzeln, sandte Wellen des Schmerzes durch ihren gesamten Körper. Sie hatte das Gefühl, ihr Kopf würde gleich in tausend Teile zerspringen.
»Wo bin ich?«, murmelte sie benommen. Sie saß auf einem Feldbett, das voller Decken und Kissen war. Sie kannte weder das Bett noch den Geruch, den es verströmte. Vorsichtig tastete sie nach der Decke, unter der sie lag.
»In Sicherheit«, antwortete eine Stimme.
Der Junge mit den blonden Haaren und smaragdgrünen Augen setzte sich neben sie auf den Bettrand. »Ich musste dich k.o. schlagen, sonst hättest du nie Ruhe gegeben. Tut mir leid. Weißt du, es tut dir nicht gut, wenn du so«, er brauchte einen Moment, bis er die richtigen Worte fand, »emotional aufgewühlt bist.«
»Du?!« Ciel wollte aufspringen, doch der Junge hielt sie am Handgelenk fest und versuchte, sie zu beruhigen.
»Lass es mich erklären«, begann er.
Als die Erinnerungen an alles, was geschehen war, auf sie einstürmten, keuchte sie auf und begann am ganzen Körper zu zittern.
»Was soll das? Wo hast du mich hingebracht? Und was …« Sie kämpfte gegen die Tränen an.
»Sei unbesorgt! Du bist in Sicherheit, Ciel« antwortete der Junge mit einem so sanften Lächeln, das Ciels Tränen unverhofft versiegen und ihr Herz schneller schlagen ließ.
Obwohl sie ihn noch nie gesehen hatte, so glaubte sie ihm, in Sicherheit zu sein. Doch wie konnten seine Worte nur solche Macht haben, und das Gefühl von Geborgenheit in ihr auslösen?
Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber sie war zu erschöpft. Ihre blassen Lippen bebten nur stumm. Sie knetete ihre zittrigen Hände, versuchte ruhig zu atmen und sich zu beruhigen. Flüchtig blickte sie umher, um herauszufinden, wo sie sich überhaupt befand.
Sie war offensichtlich in einer schäbigen, alten Hütte. Von der Decke baumelte eine Armeelaterne, und das flackernde Licht ließ tanzende Schatten auf den Wänden erscheinen. Außer dem Bett, in dem sie lag, und einigen Taschen und Holzkisten gab es nicht viel.
Als sie für einen kurzen Moment die Augen schloss, glaubte sie, Meeresrauschen von draußen zu hören. Sie musste sich irgendwo am Wasser befinden. Der Geruch von Salz hing in der Luft.
»Hier, du musst am Verhungern sein«, sagte der Junge plötzlich mit unglaublich netter Stimme und riss Ciel aus den Gedanken.