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Er reichte ihr einen Teller, auf dem mit Wurst und Käse belegtes frisches Brot, Obst und Gemüse lagen. Ciel starrte das Essen an, so lange bis ihr der Magen knurrte.
Der blonde Junge lachte leise. »Jetzt iss schon!«
Ciel sah ihn skeptisch an. »Wo ist …?«
»Toivo? Hier!«, unterbrach er sie und zeigte zu dem kleinen Welpen, der es sich auf einer Decke gemütlich gemacht hatte und schlief.
Vor ihm lag ein großer angekauter Knochen, ein leerer Fressnapf und ein weiteres Schälchen mit Wasser standen ebenfalls in seiner Nähe.
»Woher …«, begann Ciel, doch wieder wurde sie unterbrochen.
»Woher ich wusste, dass du vermutlich hungrig bist?«
»Nein, ich will wissen, woher du meinen Namen kennst und Toivos.« Sie starrte auf ihre Hände, ballte sie zu Fäusten und öffnete sie wieder. »Und was ist geschehen? Dieser Supermarkt … er stand plötzlich in Flammen. Du hast es doch auch gesehen, du warst dabei! Und dann dieses Mädchen, das genauso aussieht wie ich … und plötzlich ist auch noch der Verkäufer zusammengebrochen und …« Ihr versagte die Stimme und hinderte sie am Weitersprechen. Sämtliche Erinnerungen an diese schrecklichen Ereignisse explodierten förmlich vor ihren Augen. Sie schloss die Lider kurz, doch allein diese kleine Bewegung sandte nur erneut stechende Schmerzen durch ihren Kopf und ihren Körper. Sie schlug sich die Hände vors Gesicht, als Tränen in ihr hochstiegen.
»Hey, hör mir zu.« Der Junge nahm sanft ihre Hände herunter und legte sie in ihren Schoß, damit sie ihn ansah. »Ich werde dir alles erzählen. Du musst dich aber beruhigen.«
Ciels Lippen bebten. Sie öffnete den Mund, doch der Kloß in ihrer Kehle stoppte ihre Worte.
»Aber zuerst wirst du etwas essen. Toivo hatte ebenfalls großen Hunger.« Der Junge lächelte und hielt ihr den Teller unter die Nase. »Du ernährst dich nur von hartem Brot und abgelaufenen Dingen. Es wird Zeit für ein paar Vitamine mehr. Iss einen Apfel. Tomaten, Karotten und Gurken habe ich auch besorgt. Extra für dich. Ich wusste nicht, wann wir uns zum ersten Mal begegnen, aber ich habe jeden Tag gehofft, dass dieser Moment endlich kommen würde.« Seine Augen leuchteten hell.
Ciel starrte auf den Teller, streckte die Hand aus und wollte sich gerade eines der belegten Brote nehmen, doch plötzlich zögerte sie. »Du hast das Essen doch nicht etwa vergiftet?«
Der Junge lachte. »Du bist viel zu wertvoll, um dich zu töten.«
Ciel fand seine Worte komisch, und auch, dass er über sie Bescheid wusste, aber ihr Magen knurrte, und sie hatte seit Tagen nichts Anständiges gegessen, also griff sie zu und machte sich über ein Schinkenbrot her.
Der Junge lächelte, während er ihr beim Essen zuschaute, doch dann wurde seine Miene plötzlich traurig, und das Funkeln in seinen Augen erlosch. »Ciel, hör mal …«
»Woher kennst du denn nun meinen Namen?«, unterbrach sie ihn, nachdem sie hastig zu Ende gekaut hatte. »Und woher weißt du so viele Dinge über mich? Sind wir uns schon mal irgendwo begegnet? Bist du ein Kunde von meinem Chef?«
Warum nur spürte sie so eine starke Verbundenheit zu diesem Jungen, obwohl sie ihn noch nie zuvor gesehen hatte? Trotzdem kam es ihr so vor, als hätte sie einen Kindheitsfreund nach Jahren wiedergetroffen, ohne jedoch seinen Namen zu kennen. Dennoch spürte sie, dass da etwas zwischen ihnen war.
»Ich bin das nicht gewesen mit dem Feuer, okay?«, sagte der Junge traurig, ohne auf ihre Fragen einzugehen. »Ich bin zwar anders als die Menschen, die du kennst, aber es gibt Leute, wie d–« Er stockte und schüttelte den Kopf, als hätte er etwas sagen wollen, das er nicht sagen durfte. »Ich meine, Leute, die dir sehr ähnlich sind und solche ungeheuren Kräfte haben, die du dir nicht mal im Traum vorstellen kannst. Auch du hast besondere Kräfte, aber wenn du deine Gefühle nicht unter Kontrolle hast, passiert so etwas wie heute. Du hast mit einem einzigen Blick dafür gesorgt, dass der Supermarkt in Brand stand. Aber der Verkäufer ist nicht deinetwegen gestorben. Du tötest keine Menschen, im Gegenteil.«
Ciel wollte gerade den nächsten Bissen nehmen, als sie erstarrte und den Mund schloss. Fassungslos starrte sie ihn an. Doch der Junge sprach einfach weiter, ohne auf ihre Verblüffung zu reagieren.
»Nein, du bist eigentlich von friedlicher Natur. Das gerade war ein Unfall. Und das mit dem Verkäufer, war sie. Sie hat das getan! Sie kann auch nichts dafür, aber wo immer sie hingeht, zieht sie eine Spur von Leichen hinter sich her. Aber du bist ihr Gegenstück! Du bist anders. Du kannst heilen und sogar tote Tiere wieder ins Leben zurückholen. Doch wenn du verzweifelt oder wütend bist, wird der Funken in dir, dein Licht, unkontrollierbar hell erstrahlen und … ja, dann geschehen halt solche furchtbaren Brände. Also, hör zu, ihr …«
»Ich verstehe dich nicht. Ich verstehe kein einziges Wort. Du redest wirres Zeug, du Spinner!« Ciel blickte ihn ängstlich an und legte das Brot, das sie sich gerade genommen hatte, zurück auf den Teller. Ihr war der Appetit vergangen. Wieder zitterte sie am ganzen Körper, und doch regten seine Worte etwas tief in ihr. Ihre Haut kribbelte, und ihr Herz schlug schneller.
»Ich glaube, ich sollte jetzt besser gehen.« Sie wollte aufstehen und davonlaufen. Raus aus der Hütte und fort von dem unheimlichen Typen, dessen seltsames Gerede ein ungutes Kribbeln in ihrem Inneren auslöste. Doch er hielt sie wieder am Handgelenk fest.
»Nein, bitte hör mir zu. Dein Zwilling ist gefährlich! Du darfst ihr nicht zu nahekommen. Du wirst sterben …«
»So ein Blödsinn! Lass mich sofort los!« Ciel riss sich los, schnappte sich den schlafenden Toivo und rannte mit ihm zur Tür.
»Ciel, warte! Ich muss dir noch etwas sehr Wichtiges sagen!«, schrie der Junge und folgte ihr hinaus aus der Hütte und in die kalte Nacht.
Er hatte sie schnell eingeholt, ehe Ciel in der Lage war, sich zu orientieren und herauszufinden, wo sie sich überhaupt befand. Sie kannte diese Gegend nicht. Stattdessen stand sie mit einem unbekannten Jungen, der sie wieder am Arm festhielt, an einem Strand vor einer schäbigen, heruntergekommenen Hütte. Überall im Sand lagen leere Flaschen und anderes undefinierbares Zeug herum. Tote Möwen wurden von dem Wasser umspült, das gegen das Ufer schlug.
Niemand, nur ein Verrückter, würde auf die Idee kommen, in so einer dreckigen Gegend und in einer so heruntergekommenen Hütte zu wohnen, wie es dieser Junge tat. Es sei denn, dieser Jemand wollte unerkannt und in Ruhe sein Leben leben, abgeschieden von der Zivilisation. Dieser Typ war eindeutig verrückt. Er machte Ciel inzwischen Angst und zwar auf eine Art und Weise, wie sie es nicht in Worte fassen konnte.
»Lass es mich erklären!«, flehte er mit solch einer Verzweiflung in der Stimme, dass sie glaubte, er würde gleich anfangen zu weinen. Er packte sie nun mit beiden Händen an den Schultern und wirbelte sie herum, sodass sie sich ansahen.
»Du bist in großer Gefahr, begreifst du das denn nicht? Du und sie …«
»Nein! Was ist dein Problem? Ich kenne dich nicht einmal! Und jetzt lass mich los.«
Dann tat Ciel etwas, das sie noch nie getan hatte. Sie holte mit der flachen Hand aus und verpasste ihm eine schallende Ohrfeige.
Der Junge keuchte auf, ließ sie augenblicklich los und taumelte benommen zurück. Ciel ließ die Hand sinken, in der anderen Armbeuge hielt sie noch immer Toivo fest. Als sie den Jungen anblickte, erschrak sie. Die Stelle, auf die sie ihn geschlagen hatte, war mit blutroten, angeschwollen Brandblasen übersäht. Es roch nach verbranntem Fleisch, und Ciel musste von dem Gestank würgen.
»War ich das? Habe ich dir das angetan?«, stammelte sie und starrte auf ihre zitternde Hand. Tränen brannten in ihren Augen. »Ich … wie habe ich das …« Sie hatte ihm mit einem einzigen Schlag die Haut verbrannt.
Doch dem unbekannten Jungen waren keine Schmerzen anzusehen.
»Ciel …« Der Junge trat einen Schritt auf sie zu.
Doch sie wollte kein Wort mehr von ihm hören. Sie wirbelte herum und rannte davon, während Tränen ihr die Sicht nahmen.
»Warte!«, schrie er und wollte ihr nach, doch eine gehässige Stimme hinter ihm hinderte ihn daran.
»Na, Lucien, du hoffnungsloser Fall. Was versuchst du da zu tun?« Ein fieses Lachen ertönte.
Lucien sah Ciel nach, die um eine Ecke bog und verschwand, dann wirbelte er herum. »Oscuro, was tust du hier?«
»Zusehen, wie deine Hoffnung, in den Besitz des Engelszwillings des Lichts zu kommen, immer mehr schwindet.«
Oscuro trat aus dem Schatten der Hütte hervor. »Ich bin gerade zufällig an deiner baufälligen Bruchbude vorbeigekommen und habe Ciel herausstürmen sehen. Etwa ein missglücktes Date?« Er strich sich das dunkle Haar zurück und feixte. »Sie scheint dich nicht sonderlich zu mögen, im Gegenteil. Dein Gesicht sieht furchtbar aus.« Er tippte sich mit dem Zeigefinger an die eigene Wange, um auf Luciens verbrannte Gesichtshälfte hinzuweisen.
Lucien tastete nach der schmerzhaften Stelle. Er musste sie schnell heilen lassen, die Wunde brannte höllisch.
»Sie hat überreagiert«, murmelte er und biss sich auf die Lippe.
»So bekommst du sie niemals.« In Oscuros Augen funkelten Hohn und Spott. »Ich werde das jetzt übernehmen.«
»Wenn du es wagst, sie anzufassen …«, knurrte Lucien und hob drohend die Fäuste. »Ich weiß genau, dass deine Pläne, was die Engelszwillinge betrifft, sehr anders sind als meine. Du Verräter! Unsere Mission ist ein und dieselbe, schon vergessen?« Lucien wollte ihm am liebsten die Faust ins Gesicht rammen, doch er hielt sich zurück und fasste sich mit einem tiefen, bebenden Atemzug. »Ich habe jetzt keine Zeit für dein Gequatsche.« Er drehte sich um, um Ciel zu folgen. Er wusste zwar nicht, wo sie jetzt war, aber er würde sie finden. Doch Oscuros eisige Stimme ließ ihn erstarren.
»Worüber hast du mit ihr gesprochen?«
»Ich habe ihr nur versucht klarzumachen, dass es nicht ihre Schuld war«, murmelte Lucien und wünschte sich, ihr das alles niemals erzählt zu haben. Oscuro hatte recht – Ciel verabscheute ihn nun wahrscheinlich.
Oscuro grinste. »Ah, ich verstehe, du versuchst den Engelszwilling des Lichts um den Finger zu wickeln. Und zwar, indem du ihr Dinge erzählst, die sie nicht hören will und niemals begreifen kann. Sie hat keinerlei Erinnerungen an das, was sie ist, du Vollidiot. Es ist ein sinnloses Unterfangen, das du da versuchst! Du weißt genau, dass sie sich womöglich niemals in ihre wahre Gestalt wird verwandeln können, wenn sie sich an etwas erinnert. Das würde alles kaputt machen, verdammt!« Seine Augen wurden schmal. »Sag mir, wie gedenkst du, an den Zwilling der Finsternis heranzukommen? Sie wird genauso wenig was mit dir zu tun haben wollen, wie der Engel des Lichts. Du wirst keine der beiden bekommen.« Zynisch lächelnd machte er einen Schritt auf Lucien zu, doch der wich nicht zurück. »Sobald ich beide Zwillinge habe, werden ihre Erinnerungen erwachen. Sie werden sich wieder daran erinnern, was sie sind. Ihre mächtigen Flügel werden hervorschießen, und sie werden ihrer Bestimmung folgen, dem Töten von niederträchtigen, bösen Menschen. Selbst die Königin wird nichts gegen mich ausrichten können. Sie kann mich mal mit ihrer dämlichen Mission.«
»Wenn du meinst, damit durchzukommen, dann bist du nichts weiter als ein naiver Dummkopf!«, feuerte Lucien zurück.
»Du solltest auf meiner Seite stehen, Lucien«, zischte Oscuro. »Wieso willst du nicht einsehen, dass mein Weg der einzig richtige ist? Es ist weder Ciels noch Heavens Bestimmung, die Menschen zu reinigen, sondern sie zu vernichten.«
Doch Lucien interessierte sich nicht länger für ihn. Das hier war vergeudete Zeit. Er rannte los. Er musste Ciel auf seine Seite ziehen – ehe etwas geschah, das sie und auch er noch schwer bereuen würden.
Kapitel 2
Blutiger Schicksalsschlag
Es war lange nach Mitternacht, als Ciel erschöpft, ausgelaugt und ganz in Gedanken versunken im kleinen Laden des 24-Pizza-Lieferservices Mamma Mia aufkreuzte.
Auf dem Weg dorthin hatte sie sich mehrmals verlaufen, war besorgt und grübelnd herumgeirrt und immer wieder die grausamen Dinge durchgegangen, die geschehen waren und die sie sich noch immer nicht erklären konnte.
Sie hatte noch schnell Toivo an seinem Platz in der Gasse angebunden, bevor sie nun ihrem Chef gegenübertreten musste. Dass sie die ganze Zeit nicht aufgetaucht war, ihre Arbeit nicht erledigt hatte und ihr nun womöglich schlimme Konsequenzen drohten, interessierte sie im Moment jedoch kaum. Ihre Gedanken kreisten immer noch um all die mysteriösen Dinge, die ihr passiert waren. Sie hatte Angst, fühlte sich hilflos und wusste nicht, was sie tun oder glauben sollte. Es gab niemanden, der ihr aus diesem schwarzen Loch heraushelfen konnte. Sie musste mit all ihren verwirrenden Gefühlen und jenen merkwürdigen Ereignissen selbst klarkommen. Und nichts von alledem ergab einen Sinn, so sehr sie auch versuchte, die Puzzleteile zusammenzufügen.
Der Laden war nicht sonderlich sauber. Die Tische klebten und die roten Sitzbezüge der Stühle hatten Risse, aus denen die Füllung quoll. Es roch unangenehm nach Schweiß und Zwiebeln. Auch der Boden war seit einer gefühlten Ewigkeit nicht gewischt worden. Das Licht der Glühlampen flackerte schwach, eine funktionierte gar nicht.
Außer ihr selbst und dem ständig grimmig dreinblickenden Inhaber war niemand mehr hier. Ihr Chef Henry stand hinter dem Tresen und bereitete gerade mehrere Pizzateige zu. Er schnaubte, Strähnen seines schwarzen Haares klebten ihm an der schweißnassen Stirn, während er wortlos die Teige knetete. Über seinen Schwabbelbauch spannte sich eine Schürze, die mit Mehl und Schmutzflecken übersät war. Er war so in seine Arbeit versunken, dass er nicht gehört hatte, wie Ciel den Laden betreten hatte. Erst als sie am Tresen stand, blickte er zu ihr auf.
Seine Augen verengten sich, sein Gesicht färbte sich schneller rot als eine Ampel, und der hässliche Schnauzbart erzitterte, als er tief Luft holte, um Ciel eine Standpauke zu halten.
»Wo zum Teufel bist du gewesen? Ich habe den Laden ohne dich geschmissen, du dumme Gans! So wie du aussiehst, warst du wohl die ganze Zeit Party machen, was? Du schmeißt mein hart verdientes Geld einfach so zum Fenster raus und versäufst alles! Ich bezahle dich nicht fürs Nichtstun! Ich verlange eine Entschuldigung«, keifte er und besprühte Ciel mit ordentlich viel Spucke.
Durch sein ohrenbetäubendes Gebrüll hatten die Lampen an der Decke gewackelt, doch seine Worte waren wie Nebel an Ciel vorbeigezogen. Sie hatte ihm nicht zu gehört, denn in ihrem Kopf herrschte noch immer Chaos. Was vor wenigen Stunden geschehen war, kam ihr wie ein schrecklicher Albtraum vor. Doch es war real gewesen. So real, dass sie es nicht verarbeiten konnte.
Sie biss sich auf die Lippe, aber die schrecklichen Bilder wollten einfach nicht aus ihrem Kopf verschwinden: Das Mädchen, das genauso ausgesehen hatte wie sie, das ohrenbetäubende Knallen und der Himmel, der sich wie bei einem apokalyptischen Sturm schlagartig stockdunkel verfärbt hatte, ein in Flammen aufgehender Supermarkt, die Hitze und der dichte Rauch. Der Verkäufer, der plötzlich vor ihren Augen zusammengebrochen und gestorben war. Nicht zu vergessen ein mysteriöser, gut aussehender Junge, dessen Namen sie nicht kannte, der aber wusste, wer sie war. Und er schien noch so viel mehr über sie zu wissen. So viel, dass es unheimlich war.
»Du wirst jetzt den ganzen Laden auf Vordermann bringen, hast du verstanden? Mein Gesicht soll sich auf dem Boden spiegeln«, brüllte Henry sie an und feuerte ihr ein schmieriges Geschirrtuch ins Gesicht.
Ciel hob verwirrt den Kopf und stammelte eine leise Entschuldigung.
»Du wirst alles saubermachen, und dann will ich, dass du morgen pünktlich um sechs Uhr hier im Laden bist, kapiert? Du wirst alles nachholen, was du heute verpasst hast!« Mit diesen Worten warf er ihr noch einen nassen Lappen zu und verschwand aus dem Laden, um Feierabend zu machen.
Was dann passierte, zog wieder nur wie Nebel an Ciel vorbei. Sie erinnerte sich nicht mehr an ihre große Putzaktion. Der darauf folgende Schmerz in ihren Armen und Händen war nichts im Vergleich zu dem Schmerz, der in ihrer Seele brannte. Immer wieder landete sie mit den Gedanken bei diesem furchtbaren Tag.
Auch als sie mit vor Erschöpfung und Anstrengung zitternden Armen und Beinen sowie rissigen Händen im Morgengrauen auf ihrer Matratze lag und an die Decke starrte, dauerte es sehr lange, bis sie endlich Ruhe fand und in einen kurzen traumlosen Schlaf glitt.
Ein schrilles Klingeln weckte Ciel, nach viel zu kurzer Zeit. Es dauerte einen Moment, bis es ihr gelang, die Augen zu öffnen. Sie blinzelte, tastete nach dem Wecker und stellte ihn aus.
Ihr Körper war noch immer bleischwer, als sie sich aufrichtete und den pochenden Kopf hielt. Ihr kam es so vor, als hätte sie nur wenige Minuten geschlafen und sofort waren die schrecklichen Ereignisse des gestrigen Tages wieder in ihrem Kopf. Sie stieß einen gequälten Laut aus, schloss wieder die Augen und grub die Finger in die dünne Decke, um das Zittern ihrer Hände unter Kontrolle zu bringen.
Sie spürte, wie sich ein Kloß in ihrem Hals bildete. Noch immer konnte sie es nicht glauben, aber die Supermarkt-Diebin hatte haargenau so ausgesehen wie sie! Ciel dachte auch an den Jungen, der ihr solch unheimliches Zeug erzählt hatte. Sie hatte ihn geschlagen! Dabei hatte sie das gar nicht gewollt, aber ihre Gefühle waren mit ihr durchgegangen. Nur wieso hatte sie ihm die Gesichtshälfte verbrannt? Mit einer einzigen Berührung! Auch jetzt sah sie glasklar die rot angeschwollenen Brandblasen vor sich, die das schöne Gesicht des Jungen gezeichnet hatten.
Würgend schlug sie sich die Hand vor den Mund, angewidert von den Erinnerungen des gestrigen Tages – und von sich selbst. Sie versuchte sich zu beruhigen, atmete tief ein und wieder aus. Nur langsam wurde ihr Puls ruhiger.
Sie drehte den Kopf, öffnete die Augen, schaute auf die Uhr – und riss die Augen auf. Sie war sofort hellwach und sprang hoch, als sie sah, dass sie bereits eine halbe Stunde später dran war, als Henry ihr aufgetragen hatte. Ohne in den Spiegel zu sehen oder sich mit Seife und kaltem Wasser zu waschen, geschweige denn die Kleidung zu wechseln, stürmte sie aus dem Zimmer. Selbst ihre Schuhe hatte sie sich vor dem Schlafengehen nicht ausgezogen. Aber das war egal. Alles war egal – denn sie wusste, wenn sie ihrem Chef nun unter die Augen trat, würde er durchdrehen, sie anbrüllen und ihr für den Rest der Woche nicht einen Cent geben.
Genau so kam es auch, als sie schwitzend, keuchend und atemlos wenige Minuten später im Laden erschien. Sie und der Chef waren in den frühen Morgenstunden auch diesmal allein, und so gab es niemanden, der Zeuge ihrer Standpauke wurde. Er schrie sie an, so laut, dass sie sich die Ohren zuhielt und weit weg von diesem Ort wünschte. Nachdem er sie zehn Minuten lang angebrüllt, mit Spucke besprüht, ihr drei Mal einen schmierigen Lappen ins Gesicht geworfen und ihr immer wieder die gleichen Sätze gesagt hatte – »Du undankbares Ding! Du darfst kostenlos in meiner Wohnung wohnen und bekommst Essen und Trinken. Niemand sonst wird dich so gütig behandeln wie ich. Wenn du diesen Job verlierst, schläfst du endgültig auf der Straße und kannst dich gleich ertränken!« – schickte er sie los, um beim Obst- und Gemüseladen Lebensmittel zu besorgen. Die meisten Vorräte waren nämlich längst aufgebraucht.
»Wenn du in fünfzehn Minuten nicht mit den Einkäufen zurück bist, bekommst den ganzen Tag nichts zu essen!«, brüllte er ihr noch hinterher, bevor Ciel rasch den Laden verließ und die Straße entlanghastete. Sie hatte noch nicht einmal Toivo begrüßt und ihn auf den Arm genommen, wie sie es sonst jeden Morgen tat. Ihn zu knuddeln ließ sie immer für einen Moment all die Sorgen vergessen, ehe sie in einen furchtbaren Tag startete. Eigentlich war jeder Tag in ihrem Leben furchtbar, doch das machte ihr nichts aus. Sie lächelte, dachte an ihren Hund und die schönen Dinge im Leben, und ihre Sorgen verflogen. Sie wunderte sich manchmal selbst über ihre ruhige und besonnene Art. Darüber, wie locker sie alles über sich ergehen ließ, obwohl ihr Leben wirklich hart war.
Sie wollte keinen Ärger, deshalb beeilte sie sich, um schnell die Lebensmittel einzukaufen, die ihr Chef ihr aufgetragen hatte zu besorgen. Sie ging schnellen Schrittes die Straße entlang. Zu dieser Zeit waren nur wenige Menschen unterwegs, und viele Geschäfte hatten noch geschlossen.
Sie lief durch eine schmale, menschenleere Gasse und wollte gerade nach links abbiegen, als sie mit etwas Großem und Schwarzem zusammenprallte. Sie erschrak, taumelte zurück, doch ehe sie stolpern und hinfallen konnte, packte eine kräftige Hand ihr Handgelenk und hielt sie fest.
»Vorsicht, junge Dame!«
Ciel fuhr zusammen. »Entschuldigung, ich …«, stammelte sie und blickte auf.
Ein gut aussehender Junge, nicht älter als sie, stand vor ihr und lächelte sie freundlich an. Er hatte strahlend blaue Augen und unordentliche, leicht zerzauste pechschwarze Haare, war groß und muskulös und trug ein schwarzes enges T-Shirt, unter dem sich deutlich seine Bauchmuskeln abzeichneten.
Ciel starrte ihn an und ertappte sich selbst dabei, wie sie rot wurde. Sie konnte den Blick einfach nicht von seinen eisblauen Augen abwenden, die die ihren gefangen hielten. So ein intensives, leuchtendes Eisblau hatte sie noch nie gesehen. Selbst in ihren kühnsten Träumen hätte sie solch eine intensive Augenfarbe nie für möglich gehalten. Als wären seine Augen aus dem Ozean gemacht.
»Warum so eilig?«, fragte er, während er sie mit hochgezogenen Augenbrauen musterte.
»Ich … ich muss einkaufen.« Verwirrt schüttelte sie den Kopf. Wieso redete sie mit einem Unbekannten über Dinge, die ihn nichts angingen? Außerdem lief ihr wirklich die Zeit davon.
»Bitte entschuldige.« Damit ging sie schnell an ihm vorbei. Doch seine Stimme, die plötzlich so kalt wie Eis war und ihr einen Schauer über den Rücken jagte, ließ sie erstarren.
»Lässt du dich wieder von deinem furchtbaren Chef herumkommandieren? Du hast Angst vor ihm, stimmt’s? Oder lässt du all das Leid über dich ergehen, weil das Licht in dir so hell leuchtet, dass es jede noch so bösartige Finsternis vertreibt? Wäre dein Licht nicht so stark, hättest du längst aufgegeben.«
Ciel wirbelte herum. »Was hast du da gerade gesagt?«
Der Junge lächelte ein merkwürdiges Lächeln, als würde er sie bemitleiden und für sehr dumm halten, dann stellte er sich ihr in den Weg.
»Verzeih, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Oscuro.«
Er streckte ihr förmlich die Hand entgegen.
Ciel starrte sie an, und ehe sie imstande war zu begreifen, was sie tat, ergriff sie sie. Seine Hand fühlte sich angenehm warm an. Sie konnte nicht anders und schloss die Augen, als sie spürte, wie wohltuende Wärme durch ihren Körper strömte und all ihre negativen Gefühle und Gedanken mit einem Mal verschwanden. Für einen flüchtigen Moment vergaß sie sogar, dass sie doch die Lebensmittel für ihren Chef besorgen musste. Auch die Erinnerung daran, dass der sie angebrüllt und beschimpft hatte, war mit einem Mal total unwichtig geworden.
Wie konnte eine einzige Berührung dieses schwarzhaarigen Jungen das in ihr auslösen?
Sie öffnete die Augen, schaute ihn an und wollte etwas sagen, doch so weit kam sie nicht, denn Oscuro stieß ein leises Lachen aus und sagte: »Du vertraust aber schnell Leuten, die du gar nicht kennst. Scheint wohl ein Hobby von dir zu sein, nicht wahr? Wenn dem nicht so wäre, hättest du dich gewehrt und geweigert, mit ihm mitzugehen«, fügte er mit einem kryptischen Lächeln auf den Lippen hinzu.
Ciel zuckte zusammen und zog ihre Hand zurück. Sie spürte, wie die Wärme wich und ihr stattdessen eisige Kälte bis ins Mark kroch. Woher wusste er von dem blonden Jungen, der ihr gestern begegnet war?
»Nein, er hat mich entführt«, protestierte sie. »Ich meine, woher weißt du das? Hast du uns beobachtet?«
»Ich kenne Lucien gut.« Oscuros eisblaue Augen glühten vor Zorn, zumindest kam es Ciel so vor. Doch als er sie kurz schloss und wieder öffnete, strahlten sie wieder gleichmütig hell und klar wie ein wolkenloser Himmel.
Ciel blinzelte verblüfft. Lucien? War das der Name des merkwürdigen Jungen, der sie k.o. geschlagen hatte? Aber war es wirklich eine Entführung gewesen? Oder hatte dieser Lucien sie nur beschützt und in Sicherheit gebracht, wie er behauptete? Sie war verwirrt.