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Oscuros Stimme war ein leises Flüstern, als er sich zu ihr beugte und seine Augen ihre wie unter Hypnose gefangen hielten.
»Das Licht ist schwach. Es sollte sich wehren. Wenn es sich nicht wehrt, wird es eines Tages erlöschen. Ich meine, du kennst das doch, oder? Dieses erdrückende Gefühl der Hoffnungslosigkeit. Du warst so verzweifelt und spürtest eine Angst, die du noch nie zuvor in dir gespürt hast. Deine Gefühle sind vollkommen außer Kontrolle geraten.« Unvermittelt zuckte der Junge die Achseln und blickte sie grinsend an. »Tja, so schnell wird da wohl kein neuer Supermarkt mehr gebaut.«
Ciel riss entsetzt die Augen auf.
Oscuro hüstelte in seine Faust hinein und fügte mit erhobenem Zeigefinger hinzu: »Was ich damit sagen will, ist Folgendes: Dein Chef ist ein ganz gemeiner Typ. Wenn du weiterhin bei ihm bleibst und die Gutmütige spielst, zerbrichst du daran und das könnte … fatale Folgen haben.«
Er strich mit dem Finger über ihren Hals bis hinunter zum Schlüsselbein. Seine Berührungen waren warm und lösten eine Gänsehaut bei ihr aus.
Dicht an ihrem Ohr flüsterte er: »Weißt du, in jedem von uns stecken Kräfte, außerordentliche Kräfte, die uns selbst nicht bewusst sind. Lucien hat das gespürt, deshalb hat er dich vor einer Katastrophe bewahrt. Du bist zu wichtig, als dass du schon wieder …«
»Was willst du damit sagen? Dass ich schwach und zerbrechlich bin? Das bin ich nicht, okay? Auch wenn mein Leben nicht sonderlich gut läuft. Und jetzt … hör auf, so komisches Zeug zu reden.« Ciel wich einen Schritt zurück.
Oscuro zog ungläubig die Augenbrauen hoch, schwieg jedoch.
Sie rieb sich die pochenden Schläfen, als sie sich erneut an den blonden Jungen erinnerte. »Dieser merkwürdige Junge von gestern, Lucien, wusste auch eine Menge über mich, so wie du.«
Oscuro stand stocksteif da, und sein Gesicht zeigte keine Regung, doch seine eisblauen Augen verengten sich.
»Hör zu, ich möchte von alldem wirklich nichts mehr wissen. Es macht mir Angst, okay?« Ciel schüttelte heftig den Kopf. »Außerdem muss ich mich beeilen und die Lebensmittel besorgen, sonst bekomme ich wieder Ärger.«
Noch bevor der unheimliche Oscuro weitere gruselige Dinge sagen konnte, schob sie sich an ihm vorbei. Während sie schnellen Schrittes weiterlief, spürte sie Oscuros Blick auf sich, der ihr die Nackenhaare zu Berge stehen ließ. Doch sie drehte sich nicht um. Auch wenn der Drang, ihm noch einmal in die intensiven Augen zu schauen, beinahe übermächtig war.
Plötzlich vernahm sie ein merkwürdiges Geräusch. Ein Reißen, als ob etwas durch Stoff brach, und etwas, das sich wie das Flattern von Flügeln anhörte. Als Ciel stehen blieb und sich dann doch umdrehte, war Oscuro verschwunden. Eine einzelne schwarze Feder wurde vom Wind davongetragen. Ciel rieb sich die Augen und schüttelte den Kopf. »Ich muss komplett verrückt sein«, murmelte sie.
Nachdenklich betrat sie kurz darauf den Laden, kaufte die vom Chef gewünschten Sachen und machte sich schnell wieder auf den Rückweg. Sie hatte mehr Zeit vergeudet, als sie zuerst angenommen hatte. Fünfzehn Minuten waren längst um.
Mit vier schweren Tüten bepackt rannte sie los, verlor unterwegs eine Paprika und eine Zwiebel, stürmte durch die Gasse und durch die Straßen zurück zum Pizza-Lieferservice. Sie wusste, dass sie viel zu spät kam, doch sie würde die Beschimpfungen ihres Chefs und die darauffolgende Bestrafung über sich ergehen lassen. Auch wenn es nicht ihre Schuld war, dass sie zu spät kam. Der Junge mit den schwarzen Haaren und den eisblauen Augen hatte ihr die Zeit gestohlen.
Schon von weitem bemerkte sie, dass die Tür geschlossen war, was sonst nie der Fall war. Jemand hatte sogar das OPEN-Schild umgedreht. Merkwürdig.
Ciel versuchte die Tür zu öffnen, doch sie war abgeschlossen. Was zum Geier …? Der Chef arbeitete praktisch Tag und Nacht, die meiste Zeit zusammen mit Ciel.
Warum also sollte er die Tür abschließen?
Als sie einen Blick durchs Fenster ins Innere werfen wollte, fiel ihr auf, dass alle Jalousien heruntergezogen waren. Sie fischte den Schlüssel aus der Tasche und öffnete die Tür. Drinnen war es dunkel und muffig. Kein Licht brannte. Ein merkwürdiger, leicht metallischer Geruch lag in der Luft, und Ciel konnte ein leises Tropfen vernehmen.
»Hallo? Chef?«, rief sie, als die Tür hinter ihr wieder ins Schloss fiel.
Keine Antwort. Es war totenstill.
Sie stellte die schweren Taschen mit den Lebensmitteln auf dem Boden ab und ging hinüber zum Tresen. »Chef, wo …«
Doch als sie hinter den Tresen schaute, stieß sie einen spitzen Schrei aus und taumelte zurück. Sie stolperte in einen Stuhl hinein, der samt ihr laut polternd zu Boden fiel. Ciel spürte, wie sich ihr Herz schmerzhaft verkrampfte und ihr die Tränen aus den Augen schossen.
»Nein, das kann nicht sein«, würgte sie hervor. Sie stand auf und tapste vorsichtig vorwärts. Ihre Beine zitterten, sodass sie kaum vernünftig gehen konnte und einzuknicken glaubte. Mit jedem Schritt verstärkte sich das Gefühl, gleich in Ohnmacht zu fallen. Als sie erneut hinsah, setzte ihre Atmung kurz aus.
Ihr Chef lag auf dem Boden hinter dem Tresen, die Arme zu beiden Seiten ausgestreckt, und starrte an die Decke. Zumindest mit dem linken Auge. Das rechte hatte ihm jemand ausgestochen. Es war nur noch eine schwarze, leere Höhle, aus der dunkelrotes, noch frisches Blut floss. Sein schwarzes Haar war verfilzt und fettig. Man sah Stellen rosiger Haut, wo man es ihm ausgerissen hatte. Den Mund hatte er zu einem Schrei aufgerissen, das Gesicht so weiß wie das eines Geistes. Seine Wangen wiesen Schnittwunden und Kratzer auf, als hätte jemand mit einem spitzen Gegenstand versucht, ihm das Gesicht bis zur Unkenntlichkeit zu entstellen. Das weiße zerrissene T-Shirt und die ebenso weiße Schürze waren blutgetränkt. Aus seiner Brust ragte ein Küchenmesser und hatte die Blutlache verursacht, die sich um ihn herum gebildet hatte.
Ciel hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen, und schlug sich würgend die Hand vor den Mund, als sich ein widerwärtiger Geschmack darin ausbreitete. Der Geruch von Schweiß und Blut im Raum machte es nicht besser. Sie wusste, dass sie zum Telefon greifen und den Notruf wählen musste. Doch sie wusste auch, sie würde keinen Ton herausbringen. Sie würde den Leuten am Ende der Leitung nicht erklären können, dass ihr gemeiner Chef, der das einzige Beständige in ihrem Leben gewesen war, von irgendjemandem ermordet worden war und nun blutüberströmt und mit einem Küchenmesser in der Brust in seiner Pizzeria lag.
Instinktiv kam ihr das Einzige in den Sinn, wozu sie jetzt fähig war: Flucht. Blind vor Tränen stürmte sie zur Tür und hinaus ins Freie. Sie rannte los, ohne klar denken zu können. Ihr Kopf fühlte sich wie Watte an.
Ihr Chef war tot. Jemand hatte ihn ermordet. Aber wie konnte das sein? Sie hatte ihn zuletzt vor nicht einmal einer halben Stunde gesehen, als er sie losgeschickt hatte, um die Besorgungen zu erledigen. Irgendjemand musste in diesem kurzen Zeitraum im Laden gewesen sein und ihn getötet haben. Das Blut war nicht geronnen, sondern noch sehr frisch gewesen. Der Mord musste erst vor wenigen Minuten geschehen sein. Wo war der Mörder? War er etwa nun auch hinter ihr her?
Ciel rannte weiter, durch die Straßen und an Geschäften und Wohnhäusern vorbei. Die Tränen nahmen ihr die Sicht, dann stolperte sie und stürzte auf das harte Pflaster des Gehweges. Leute blieben stehen, sahen sie besorgt an und tuschelten, doch niemand half ihr auf die Beine.
Ciel weinte, und ihr Herz raste, sodass sie kaum Luft bekam. Ihr Kopf war wie benebelt. Was sollte sie jetzt tun? Sie blickte auf – und ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen.
Das Mädchen in Schwarz stand nicht mehr als zehn Meter von ihr entfernt auf der anderen Straßenseite und beobachtete sie. Menschen gingen einfach an ihr vorbei, ohne ihr Beachtung zu schenken, obwohl sie mitten auf dem Gehweg stand und den Weg versperrte. Sie wirkte wie ein Geist, den zu sehen nur Ciel in der Lage war. Sie trug dieselben Klamotten wie am Vortag und hatte die Kapuze über den Kopf gezogen. Doch diesmal konnten Ciel und sie sich direkt in die Augen sehen.
Ihre Blicke trafen sich – und wieder kam es Ciel so vor, als sähe sie ihr eigenes Spiegelbild. Die kristallblauen Augen ihres Zwillings waren weit aufgerissen und funkelten vor Angst. Sie öffnete den Mund. Ciel wusste nicht, was ihr Zwilling ihr zurufen wollte, aber plötzlich kam ihr ein schrecklicher Gedanke.
»Toivo!«
Entsetzt rappelte sie sich auf und stürmte los, ließ ihren unheimlichen Zwilling hinter sich zurück. Sie rannte zurück zu ihrer Wohnung und der kleinen Gasse, in der ihr Hund seinen Schlafplatz hatte. Atemlos hielt sie an und wieder kamen ihr die Tränen, diesmal vor Erleichterung. Toivo war an seinem Platz unter dem löchrigen Mülleimer und schlief. Doch als Ciel vor ihm stand, wurde er munter, wedelte mit dem Schwanz und bellte erfreut.
»Oh, Toivo!« Schluchzend band sie ihn los und nahm ihn in die Arme. Sie drückte ihn an sich und war so froh, dass es wenigstens ihm gut ging. Sie hatte befürchtet, der Mörder ihres Chefs hätte auch Toivo etwas angetan.
»Es ist etwas Schreckliches geschehen«, flüsterte sie ihrem Hund zu. Plötzlich hörte sie in der Ferne das Heulen von Sirenen. Sie wusste nicht, warum sie plötzlich wieder die Panik packte, doch sie rannte erneut los, ohne zu wissen wohin. Wieder nahmen ihr die Tränen die Sicht, während sie Toivo an sich drückte und mit ihm durch die Straßen hetzte. Sie lief und lief, spürte, wie der stechende Schmerz ihre Beine emporschoss. Ihre Lunge brannte wie Feuer, sie konnte kaum richtig atmen. Das Dröhnen in ihrem Kopf war so schmerzhaft, dass sie glaubte, ohnmächtig davon zu werden.
Ohne gemerkt zu haben, wohin sie rannte, war sie am Supermarkt angekommen – zumindest an dem Wenigen, was davon noch übrig war.
Sie ließ sich atemlos auf ihren Platz auf der Bank fallen und starrte mit weit aufgerissenen, leeren Augen geradeaus.
Das Feuer hatte das Gebäude komplett zerstört. Mauerreste, geborstene Fenster und Rußflecken waren noch als Reste vorhanden und der Geruch von Rauch lag in der Luft. Ein Polizeiband sperrte das Gebiet weiträumig ab. Auf dem Parkplatz war es menschenleer.
Ciel schluchzte auf. »Was geht hier bloß vor?« Sie wusste nicht, wo sie nun hinsollte. Gab es überhaupt noch einen Platz, wo sie jetzt bleiben konnte? Sie war allein, hatte außer ihrem geliebten Toivo niemanden mehr.
Sie erschrak, als sie plötzlich eine warme Hand auf ihrer Schulter spürte.
»Hallo, Ciel«, sagte eine leise Stimme traurig.
Ciel riss erschrocken den Kopf hoch, während ihr die Tränen über die Wangen rannen. Neben ihr auf der Bank saß der blonde Junge mit den smaragdgrünen Augen.
»Lucien?« Ciels Lippen bebten, während sie sich die Tränen von der Wange wischte. Sie wusste nicht warum, aber seine warme Hand vermittelte ihr ein Gefühl, als könnte sie ihr all den Kummer und das Leid nehmen. Sie fühlte sich mit einem Mal nicht mehr ganz so traurig und verzweifelt, was sie merkwürdig fand, aber es kam ihr so vor, als würden sie sich schon seit Ewigkeiten kennen. Normalerweise hätte sie die Flucht ergriffen, doch sie blieb ruhig sitzen, betrachtete sein makelloses Gesicht.
Hatte sie ihm nicht die Haut verbrannt?
Sie blickte verblüfft auf ihre Hand. Wurde sie verrückt? Oder war das alles etwa nur ein Traum gewesen?
Lucien zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Du kennst meinen Namen?«
»Ein Junge namens Oscuro hat ihn mir verraten«, erwiderte Ciel leise.
»Das ist schade.« Er verzog das Gesicht in leichtem Ärger. »Ich hatte gehofft, mich dir vernünftig vorstellen zu können, wenn wir uns wiedersehen. Und zwar so, dass du keine Angst vor mir haben würdest. Leider kam mir dieser Typ nun zuvor«, fügte er trocken hinzu.
Es schien ihn tatsächlich zu verletzen, sich ihr nicht selbst vorgestellt zu haben. Und mit einem Mal war Ciel froh, dass er da war, auch wenn sie ihn kaum kannte. Sie brauchte jemanden, mit dem sie sprechen und sich den Kummer von der Seele reden konnte. Und Lucien war … nun ja, er war einfach da.
»Was ist passiert? Warum hast du geweint?«, fragte er und strich ihr mit der Hand sanft über den erhitzten Kopf.
»Ich weiß es nicht. Ich weiß es einfach nicht«, schluchzte sie und vergrub das Gesicht in den Händen.
Doch dann öffnete sie ihm ihr Herz, und die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus. »Mein Chef … ich war nur kurz weg … und als ich wieder zurückkam, lag er tot und blutüberströmt im Laden. Jemand muss ihn ermordet haben. Ich weiß nicht, wer es getan hat, aber ich fürchte mich so! Was ist, wenn der Mörder nun hinter mir her ist?« Sie ließ die Hände sinken und schaute ihn aus rot geweinten Augen an. »Henry hatte nichts, wofür es sich gelohnt hätte, sein Leben auszulöschen. Ich weiß, er war nicht nett zu mir, aber er war herzlich und offen seinen Kunden gegenüber. Alle mochten ihn. Er hatte keine Feinde. Ich war die Einzige, die er angeschrien hat.« Sie holte tief und bebend Luft und schloss dann die Augen.
»Was?«, flüsterte Lucien erschrocken. »Aber wie …«
»Ich fühle mich so schlecht, so hilflos, und ich hatte panische Angst. Ich bin einfach geflohen, habe nichts unternommen. Und dann habe ich sie wiedergesehen. Dieses Mädchen, das mir so ähnlich sieht.« Ciel versuchte das Zittern ihrer Stimme unter Kontrolle zu halten, doch sie brachte den Satz nur mühsam heraus. »Sie … sie ist schon wieder aufgetaucht. Sie ist wie ein Schatten, der mich verfolgt.«
Lucien öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch sie unterbrach ihn schluchzend: »Bitte, sag mir, dass das hier alles nur ein böser Traum ist und ich gleich aufwachen werde und …«
»Sch, sch! Alles wird gut, Ciel«, flüsterte er und zog sie in seine Arme.
Der zärtliche Klang seiner Stimme tat ihr gut. Die Wärme, die er verströmte, ließ sie ruhiger werden, als hätte er ihr irgendein Beruhigungsmittel verabreicht. Sie lauschte seinem Herzschlag und schloss die Augen.
»Du wirst sehen, alles wird gut«, wiederholte er und strich ihr immer wieder tröstend über den Kopf.
»Ich hätte ihn nicht verlassen dürfen …« Ciel schniefte leise und klammerte sich an ihn, als könnte er ihr all die Angst und die Trauer nehmen. Tatsächlich schien es so, als könnte er es. Ihre Tränen und ihre Verzweiflung ließen nach.
»Gib dir nicht die Schuld, Ciel.« Lucien streichelte ihr besänftigend den Rücken. »Wer auch immer es war, er hätte dich ebenfalls getötet, wenn du bei deinem Chef geblieben wärst.«
Ciel seufzte erschöpft. Lucien hatte recht, der Mörder ihres Chefs hätte sie ebenfalls getötet. Vermutlich hätte sie nichts von alldem verhindern können, dennoch hasste sie sich selbst dafür, dass sie Henry nicht hatte helfen können.
Selbst Toivo saß auf dem Boden zu ihren Füßen und winselte leise, als trauere auch er um Ciels Chef.
Plötzlich spürte sie, wie Lucien sie losließ und sich zurückzog. Kälte durchzog ihren Körper, und sie fror mit einem Mal. Sie hob den Kopf und blickte ihn an. Sie wollte, dass er sie wieder in den Arm nahm. Sie wollte wieder diese beruhigende Wärme spüren, die er ausstrahlte.
»Lucien?«, flüsterte sie zaghaft. Sie befürchtete, er könnte einfach weggehen und sie allein lassen. Es war, als würde er ihr Hoffnung geben, nur um sie ihr dann sofort wieder zu nehmen.
Doch dem war nicht so. Lucien hatte sich aus einem anderen Grund von ihr abgewandt. Er hatte sich umgedreht. Seine Körperhaltung war angespannt, die Hände zu Fäusten geballt.
»Sie ist hier«, flüsterte er plötzlich in einem so besorgten Tonfall, dass es Ciel einen Schauder über den Rücken trieb.
Sie brauchte gar nicht zu fragen, von wem er sprach. Als sie das Mädchen hinter sich ansah, hörte ihr Herz für einen kurzen Augenblick auf zu schlagen. Ihre Doppelgängerin stand hinter einer breiten Metallabsperrung am Rand der Straße, nicht mehr als hundert Meter von ihnen entfernt, und blickte herüber. Ihre langen blonden Haare wehten im Wind.
Ciel wollte aufstehen, auf sie zulaufen und sie zur Rede stellen. Sie wollte endlich wissen, warum sie ihr so ähnlich sah, und ob sie Antworten auf all ihre vielen Fragen hatte.
Doch Lucien packte plötzlich ihre Hand und hielt sie zurück. Eine heiße Welle schoss durch Ciels Körper, und ein Schwindelanfall packte sie.
»Schnell! Gehen wir.« Luciens Stimme klang ungeduldig und nervös.
»Was? Wieso?« Ciel keuchte vor Schmerzen auf. Seine Hand, die Berührung und der Druck taten weh, und eine merkwürdige Hitze übertrug sich von seiner Haut auf ihre. Die Hitze schwoll so stark an, dass Ciel glaubte, gleich zu verbrennen.
»Weil sie gefährlich ist. Bitte, lass uns verschwinden!« Lucien zerrte an Ciel, doch sie riss sich von ihm los.
Ihr Zwilling stand noch immer reglos und mit neugierigem Blick da und starrte sie an. Sie bewegte keinen Muskel, es war, als wäre sie zu Stein erstarrt.
Ciel machte einige Schritte auf sie zu. Sie öffnete den Mund, wollte ihr etwas zurufen, als sie plötzlich sah, wie ein Auto auf der belebten Straße hinter ihrem Double die Kontrolle verlor, ins Schleudern geriet und mit quietschenden Reifen und voller Wucht in einen zweiten Wagen krachte. Es gab einen lauten Knall. Voller Entsetzen beobachtete sie, wie einer der Fahrer durch die Frontscheibe geschleudert wurde, sich wie eine leblose Puppe mehrmals in der Luft überschlug und dann unweit ihres Zwillings auf dem Pflaster landete.
Ciel stieß einen Schrei aus, wollte losrennen, um zu helfen, doch Lucien packte sie grob und zerrte sie hastig hinter sich her. »Verschwinden wir! Na los!«, befahl er aufgebracht.
»Nein!«, schrie Ciel und wollte sich wieder losreißen.
Doch da blieb er stehen, nahm ihr Gesicht in beide Hände und sah sie so verzweifelt an, dass ihr jeglicher Protest im Hals stecken blieb.
»Wenn wir nicht verschwinden, bist du die Nächste, die stirbt!«
Sein unglücklicher Tonfall drang ihr bis ins Herz und seine Worte waren wie ein Schlag mitten ins Gesicht. Sie starrte ihn an, unfähig, etwas zu erwidern. Das konnte nicht sein Ernst sein! Sie sollte die Nächste sein? Aber warum? Lucien musste sich einen Scherz erlauben. Doch ein Blick in seine Augen genügte, um zu wissen, dass er es todernst meinte. Ciel wagte nicht zu protestieren. Es war, als ginge seine Angst auf sie über. Sie lähmte sie, nahm jeden Winkel ihres Körpers in Besitz, sodass sie keinerlei Kontrolle mehr über ihr Handeln und Denken hatte.
Schlussendlich wurde sie von Lucien fortgezerrt, der in der einen Armbeuge Toivo trug und mit der anderen Hand ihre Hand fest umschlossen hielt.
Ohne zu wissen, was sie tat, folgte sie ihm. Sie rannten beide im gleichen Tempo, ihre Füße berührten gleichzeitig den Boden. Ciel warf noch einen schnellen Blick zurück zur Straße. Die zusammengekrachten, zerbeulten Autos qualmten. Es stank nach Rauch und ausgelaufenem Benzin. Menschen stürmten zum Ort des Unfalls, um irgendwie zu helfen. Schreie ertönten. Einige Schaulustige standen abseits. Menschen telefonierten, riefen den Krankenwagen.
Das Letzte, was Ciel sah, war ihre Doppelgängerin, die mit tränenüberströmtem Gesicht herumwirbelte und davonrannte, fort von dem Unfall und von Ciel und Lucien.
Kapitel 3
Asche und Regen
Sie rannten weiter, Hand in Hand, vorbei an Geschäften und Restaurants, bogen nach rechts in eine Seitengasse ein und hasteten weiter durch einen kleinen Park, der sie in Richtung Strand führte.
Ciel konnte nicht sprechen. Sie konnte nicht klar denken. Sie konnte nicht weinen. Es war, als seien ihr all die Tränen ausgegangen, und ihr Gehirn war wie benebelt. Das Einzige, wozu sie imstande war, war zu rennen. Sie wehrte sich nicht dagegen, ließ sich einfach von Lucien durch die Gegend zerren. Wohin er sie brachte, wusste sie nicht. Es war ihr egal. Alles war ihr egal. Sie konnte die entsetzlichen Bilder nicht aus ihrem Kopf vertreiben.
»Wenn wir nicht verschwinden, bist du die Nächste, die stirbt!« Luciens Worte hallten in ihrem Kopf wider.
Was hatte er damit gemeint?
Erst als sie bei der heruntergekommenen Hütte am schmutzigen, menschenleeren Strand ankamen, Lucien die Tür öffnete und sie hineinführte, brach sie schluchzend auf einer Decke zusammen, die am Boden lag. Lucien schloss die Tür und hockte sich neben sie.
»Was ist gerade passiert? Ich begreife das nicht«, schrie sie. Ihr Herz schlug wild in ihrer Brust, sodass sie um Luft ringen musste.
»Ich werde dir alles erzählen. Aber zuerst musst du dich beruhigen!«
Sie hob den Kopf und blickte ihn mit tränenüberströmtem Gesicht an. Ihre Augen waren rot angeschwollen, die Lippen zitterten. Das blonde Haar war zerzaust und klebte ihr teilweise an der schweißnassen Stirn.
Er strich ihr über die Wange und fuhr mit dem Daumen unterhalb ihres Auges entlang, um die Tränen fortzuwischen.
Toivo kam angetrottet, ließ sich auf ihrem Schoß nieder und leckte ihr mit der Zunge über die Wange.
»Selbst dein Hund möchte, dass du dich beruhigst«, bemerkte Lucien und lächelte, doch sein Lächeln war voller Traurigkeit. Er tätschelte Toivo den Kopf.
Ciel schloss die Augen, doch die Bilder an die schlimmen Ereignisse wollten nicht aus ihrem Kopf verschwinden. Einen Moment lang herrschte absolute Stille. Sie knetete ihre zitternden, schweißnassen Hände.
»Es ist nämlich gefährlich, wenn man seine Gefühle nicht im Griff hat«, meinte Lucien nach einer Weile.
Ciel lehnte sich an die Wand und schloss erneut die Augen. Sie hatte rasende Kopfschmerzen.
»Rede endlich! Was willst du mir erzählen?« Sie wollte ihn nicht so wütend angehen, doch sie war so durcheinander und in ihr herrschte schreckliche Angst. »Antworten auf all meine Fragen?«
Zu ihrer Verwunderung nickte er.
»Aber ich muss vorsichtig sein«, erklärte er leise und griff nach ihrer Hand. »Du bist nämlich stark, Ciel. Stärker sogar, als du es selbst von dir erwarten würdest.«
Sie lachte heiser auf. »Nein, ich bin nicht stark. Wäre ich es, dann wäre das alles niemals passiert. Ich hätte meinen Chef retten können und wäre nicht wie ein Feigling davongerannt. Und ich hätte ganz sicher nicht so getan, als wäre der Unfall niemals geschehen.«
»Du hast diesen Unfall nicht verursacht. Sie ist es gewesen.« Lucien blickte ihr tief in die Augen.
»Du meinst …« In ihrer Kehle bildete sich ein Kloß. Wieder stiegen Tränen in ihr hoch, die sie verzweifelt niederzukämpfen versuchte.
»Aber das ist unmöglich! Wie hätte sie das tun können?«
»Sie ist kein«, Lucien seufzte und blickte zur Seite, »normaler Mensch.«
»Ich verstehe nicht.« Ciel hielt sich den pochenden Kopf.
Er schaute sie mit ernstem Blick an.
»Wo immer sie auch hingeht, dieses Mädchen zieht eine Spur aus Leichen hinter sich her. Sie tötet Menschen. Ungewollt. Weil sie sich nicht unter Kontrolle hat. Sie gehört der Finsternis an. Leben nehmen, andere verletzen, Leid und Kummer über alles und jeden zu bringen, gehört zu ihrer Natur. Dabei will sie das alles gar nicht tun.«
Ciel schlug sich die Hand vor den Mund. Ihre Kehle war staubtrocken.
Plötzlich huschte ein Lächeln über Luciens Lippen. »Aber du bist das genaue Gegenteil von ihr. Du besitzt die Gabe zu heilen. Du kannst sogar Tote wieder ins Leben zurückholen.«
Ciel schaute auf ihre Hände. »Woher weißt du davon? Ich habe diese Gabe, ja, aber ich kann das nur bei Tieren. Zumindest habe ich es bisher nie bei einem Menschen ausprobiert.« Dann starrte sie ihn entgeistert an. »Willst du mir damit sagen, dass ich eine Verrückte bin? Ich besitze diese Gabe nur, weil ich …«
»Weil du dem Licht angehörst«, unterbrach sie Lucien in ernstem Tonfall. »Wir mussten vor deiner Zwillingsschwester fliehen, verstehst du? Sonst hätte sie dich auch getötet. Hast du das Entsetzen in ihren Augen gesehen, als ihr euch angeschaut habt? Das sind immer die ersten Anzeichen, bevor etwas Grauenhaftes geschieht. Sie ist zurückgekommen, vermutlich aus Neugierde, und wollte dich zur Rede stellen, so, wie du es vorhattest. Ich konnte gerade noch rechtzeitig bei euch sein.« Er schwieg kurz. »Keiner weiß genau, was passiert oder wieso es passiert, wenn ihr euch gegenübersteht. Und doch kann man das Grauen, das danach folgt, wahrscheinlich nicht verhindern.« Er machte erneut eine Pause, blickte in Ciels entsetztes Gesicht.