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Sein Kumpel lachte.
»Nein, aber wahrscheinlich ihr, weil eure Hirne so klein wie Erbsen sind.« Oscuro grinste beide an, doch genauso schnell, wie sein Grinsen erschienen war, war es auch wieder verschwunden. »Man schlägt keine Frauen, ihr Dreckschweine! Typen, die so etwas tun, sollte man den Arsch versohlen, bis sie Blut spucken und sich auf Knien entschuldigen.« Sein Gesicht verzerrte sich vor Zorn. »Außerdem ist zwei gegen einen unfair. Sucht euch jemanden in eurer Größe für euren Scheiß.«
Der dünnere Kerl knirschte mit den Zähnen und knurrte: »Ach ja? Ich glaube nicht, dass dich das hier etwas angeht.« Dann wühlte er in seiner Hosentasche herum, bis er ein Taschenmesser fand. Er holte es heraus und klappte es auf.
»Du kommst dir wohl besonders cool vor, was?« Diesmal knackste der dickere Kerl mit den Knöcheln. Er holte eine Zigarette aus der Brusttasche seiner Jacke und zündete sie an. Seelenruhig nahm er einen tiefen Zug. »Und jetzt verzieh dich endlich! Wir wollen mit der Kleinen nur ein Wörtchen reden. Mir ist vorhin nur die Hand ausgerutscht. Kommt nicht wieder vor, also komm ja nicht auf die Idee, die Bullen zu rufen. Verschwinde jetzt!« Seine glasigen Augen fixierten Ciel, die sich hinter Oscuro aufrappelte und weit weg von diesem Ort und der angespannten Atmosphäre wünschte.
»Ihr beide solltet dringend zu einem Schönheitschirurgen, eure Hässlichkeit ätzt einem ja die Augen weg.« Oscuro grinste. »Aber ich kann das auch gerne übernehmen. Ich kann dafür sorgen, dass ihr sogar noch hässlicher ausseht, als ihr es ohnehin schon tut.«
Der dickere Mann mit Glatze beugte sich wieder zu Oscuro und blies ihm eine dichte Rauchwolke ins Gesicht. »Ja, sprich ruhig weiter. Für jedes Wort bekommst du einen extra Schlag.«
»Klingt lustig. Ihr seid die hässlichsten Typen mit Sinn für Humor, die ich jemals vermöbelt habe.« Dann fiel sein Blick auf den dünnen Kerl. »Hey, die Brandblasen stehen dir! Ich hoffe, es tut richtig schön weh.« Er lachte und schien sich gar nicht mehr einzukriegen.
»Leg dich lieber nicht mit uns an, Kleiner. Mein Kumpel hier, der war der beste Boxkämpfer unseres Jahrgangs.« Der dünnere Kerl klopfte seinem Kollegen mit Begeisterung auf die Schulter. »Er prügelt dich krankenhausreif.«
»Ich glaube, ich muss jetzt so tun, als hätte ich furchtbare Angst vor euch Vollidioten.« Oscuro verschränkte die Arme.
Der Glatzkopf knirschte mit den Zähnen. »Sobald wir mit dir fertig sind, wirst du dich auf Knien bei uns für deine frechen Worte entschuldigen«, knurrte er.
»Wie bitte? Ich soll mich entschuldigen, dafür, dass ich die Wahrheit sage?« Oscuro lachte auf.
Ciel schüttelte den Kopf. Entsetzt fiel ihr Blick auf das Messer. Die Typen waren bewaffnet, stark alkoholisiert, standen einem streitlustigen Jungen gegenüber, der wohl gerne Schlägereien anzettelte und sich dem Ernst der Lage nicht bewusst war. Wenn sie nicht schleunigst etwas unternahm, würde noch etwas Schlimmes geschehen.
»Ähm … wir wollten gerade gehen!«, sagte Ciel hastig und lauter als gewollt. Das Zittern in der Stimme verriet ihre Nervosität, als sie nach Oscuros Hand griff.
Er drehte sich fragend zu ihr um.
»Ihr geht nirgendwohin!«
Der Glatzkopf stieß ein lautes Knurren aus, dann riss er seinem Kollegen das Taschenmesser aus der Hand. Ciel schlug sich vor Entsetzen die Hand vor den Mund, als sie sah, wie der Mann damit auf Oscuro losstürmte. Er zielte mit dem Messer auf das Gesicht des Jungen, doch der blieb vollkommen gelassen. Dann, blitzschnell und ohne Vorwarnung, wich er seinem Angreifer aus und packte ihn am Kragen seiner Lederjacke. Im nächsten Moment wurde der Mann zurückgeschleudert und donnerte mit einem lauten Knall in die Scheibe der Kneipe. Sie zerbarst in tausend Scherben, und der dicke Mann stöhnte auf, begraben unter einem Berg von rasiermesserscharfen Glassplittern.
Ciel starrte Oscuro entsetzt an. »Was hast du getan?«
Wie hatte er einen Kerl, der doppelt so viel wog wie er, mal eben so durch eine Glasscheibe befördern können, als wäre er so leicht wie eine Feder?
Der Dünne starrte seinen Kumpel entgeistert an, dann wirbelte er herum. Doch noch bevor er fliehen oder um Hilfe rufen konnte, sprang Oscuro auf seinen Rücken. Der Kerl verlor das Gleichgewicht und stürzte mit dem Gesicht voran auf die harten Pflastersteine. Der Junge stand auf seinem Rücken und drückte ihm seinen Fuß ins Kreuz, sodass er am Boden wie festgeklebt war.
»Denkst du ernsthaft, dass ich euch einfach so davonlaufen lasse? Nach allem, was ihr dem Mädchen angetan habt?« Oscuro grinste, doch in seinen Augen funkelte Wut.
»Runter von mir«, ächzte der Kerl.
Doch da packte Oscuro ihn an seinem schwarzen Haar und donnerte sein Gesicht auf den Boden. Blut spritzte auf die Pflastersteine, auf Oscuros Hand und seine Kleidung. Als der Mann nur noch ein leises Grunzen von sich gab, ließ Oscuro von ihm ab, packte ihn am Nackenausschnitt seiner Jacke und warf ihn wie eine leblose Puppe vor Ciels Füße.
Sie starrte Oscuro entsetzt an, unfähig zu sprechen.
Er packte den Kerl am Haar und riss seinen Kopf hoch, damit er ihr in die Augen sah. Das Gesicht des Mannes war blutüberströmt, die Lippen aufgeplatzt, seine Augen rot und blau angeschwollen. Zwei Zähne fehlten ihm.
»Und jetzt entschuldige dich bei ihr!«, zischte Oscuro.
Der Mann keuchte, hustete und murmelte undeutlich eine Entschuldigung, ehe Oscuro ihm noch einen heftigen Schlag gegen den Hinterkopf verpasste, der dafür sorgte, dass der Mann bewusstlos vor Ciels Füße sank. Ängstlich starrte sie an, weil sie glaubte, er sei tot, doch da sah sie, wie er schwach atmete.
Oscuro erhob sich und starrte zu dem Kerl, den er durch die Scheibe geworfen hatte. »Jetzt bist du dran.«
Ciel starrte Oscuro entsetzt hinterher, während er über die Scherben lief und sich vor dem keuchenden dicken Mann aufbaute. Dann bückte Oscuro sich zu ihm hinunter und zog sich eine Zigarette und ein Feuerzeug aus seiner Brusttasche. Er zündete die Zigarette an, nahm einen Zug und musterte den Kerl gelangweilt. »Na, willst du es etwa noch mal wagen, eine Frau zu schlagen?«
Der Mann keuchte und hob schwach die Hand, um Oscuro zu packen, doch der stellte seinen Fuß auf das Handgelenk des Mannes, drückte es auf den Boden und verlagerte sein gesamtes Gewicht darauf, bis sein Opfer aufschrie und das ekelhafte Knacken von brechenden Knochen zu hören war.
»Hör auf!« Ciel gelang es endlich, sich aus ihrer Schockstarre zu befreien. Sie stürmte auf Oscuro zu und griff nach seiner Hand.
Er starrte sie an und lächelte ein Lächeln, das viel zu lieb für seinen hasserfüllten Blick aussah.
»Komm schon, Ciel, die haben es verdient! Du hättest tot sein können! Ich erteile ihnen bloß eine Lektion.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ich will hier weg. Bitte!«
Oscuro stöhnte genervt auf und nahm noch einen tiefen Zug von der Zigarette. Dann schnippte er dem winselnden, halb bewusstlosen Kerl zu seinen Füßen die Asche ins Gesicht, ehe er ihm auch noch die glühende Zigarette ins Gesicht warf. »Meinetwegen. Es wurde eh gerade langweilig.«
Plötzlich waren in der Ferne Sirenengeheul und aufgeregte Stimmen zu hören. Selbst der Barmann, der aus seiner Schockstarre erwachte und die ganze Zeit nur zugesehen hatte, kam hinter dem Tresen hervor, die Fäuste geballt. »Ihr könnt euch so oft und gerne prügeln, wie ihr wollt, aber ihr macht meinen Laden nicht kaputt! Die Glasscheibe bezahlt ihr!«
Ciel geriet in Panik. Was würde geschehen, wenn die Polizei kam?
Doch ehe sie begriff, wie ihr geschah, zog Oscuro sie hinter sich her. Sie stolperte und konnte sich nicht gegen ihn wehren. Sein Griff war zu fest. »Oscuro, warte«, versuchte sie zu protestieren, doch er reagierte nicht, und ließ sie auch nicht los. Er hielt sie wie in einem Schraubstock gefangen, und zwang sie, ihm zu folgen.
Toivo bellte und rannte ihnen nach.
»War das wirklich nötig? Ich meine, willst du ihnen nicht helfen?«, flüsterte Ciel. Sie starrte auf seine blasse Hand, die ihre umfasste. Sie fühlte sich ganz warm an, als würde eine Flamme in seinem Innern brennen. Eigentlich war es genauso wie bei Lucien, doch Oscuros Wärme war … anders, kälter, weniger intensiv.
»Nicht wirklich«, antwortete er gut gelaunt. »Hey, jetzt sieh mich nicht so an! Irgendjemand wird sich schon erbarmen und ihnen helfen. Aber glaub mir, die werden nie wieder ein Mädchen verletzen!«
Nach einer Weile verlangsamte er seine Schritte und führte Ciel durch eine weitere kleine Gasse, dann liefen sie wortlos durch den Park, bis sie schließlich dem Strand näher kamen.
Ciel konnte noch immer nicht begreifen, was da geschehen war, also war zu schweigen das Beste, was sie tun konnte. Doch gleichzeitig lagen ihr so viele Fragen auf der Zunge. Sie hörte in der Ferne Meeresrauschen, und ihr wehte eine salzige Brise durch die Haare. Möwen flogen am Himmel und kreischten. Ciel kannte diese Stelle nicht. Sie war hier noch nie gewesen, obwohl sie oft am Strand spazieren gegangen war.
»Ich habe nach dir gesucht«, gestand Oscuro nach langem Schweigen und sah sie an. »Nachdem wir uns begegnet waren, bist du mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Ich musste dich unbedingt wiedersehen. Ich habe überall nach dir gesucht, habe Leute nach dir ausgefragt, doch niemand konnte mir sagen, wo du wohnst. Und dann habe ich dich und Toivo herumirren sehen. Du sahst so wahnsinnig traurig und verzweifelt aus. Da bin ich dir heimlich gefolgt und sah, wie diese Typen auf dich losgegangen sind. Diese verdammten Dreckschweine. Ich hätte sie töten sollen für das, was sie dir angetan haben.« Er drückte ihre Hand, und Ciel spürte deutlich, wie Zorn seinen Körper durchflutete.
»Bitte sag so etwas nicht!« Sie schüttelte entsetzt den Kopf. »Ich wäre da schon irgendwie heil rausgekommen.«
Oscuro warf den Kopf in den Nacken und lachte. Er lachte eine ganze Weile. Ein nervöses, schepperndes Lachen.
»Was ist? Glaubst du mir nicht?
Oscuro sah sie grinsend an, doch seine eisblauen Augen funkelten nicht so intensiv wie sonst. Er sah tatsächlich etwas nervös aus. »Klar, habe ich gesehen.«
Sie blinzelte. Entweder nahm er sie nicht ernst oder er fürchtete sich vor ihr, weil er gesehen hatte, was sie getan hatte. Sie blickte auf ihre Hand. Wie war sie nur dazu fähig, andere zu verletzen, wenn sie wütend war?
Er hatte sich wieder von ihr abgewandt und sagte plötzlich etwas, das Ciel zusammenzucken ließ. »Menschen sterben früher oder später doch sowieso, Ciel. Leider erwischt es fast immer nur die guten Menschen, während die bösen sich einen ablachen und länger am Leben bleiben, als sie sollten. Menschen sind Abschaum!«
Ciel riss sich von ihm los und stellte sich ihm in den Weg.
Er blinzelte sie überrascht an.
»Warum sagst du das?«
»Ich verstehe, dass du das nicht so siehst. Du bist ein so reines Geschöpf. Viel zu gut für diese grausame Welt!«, sagte er leise und strich ihr über die blutende Lippe.
Sie zuckte zusammen.
»Du hast dich von anderen immer nur herumkommandieren und -schubsen lassen. Nie hast du dich gewehrt, hast allen Schmerz über dich ergehen lassen und bist trotzdem nicht daran zerbrochen. Ich wünschte, ich hätte deine Stärke!«
Ciel starrte ihn ungläubig an. Das sagte ausgerechnet er, der die beiden Kerle gerade verprügelt hatte?
»Und jetzt bist du ganz allein.«
»Mein Chef«, flüsterte Ciel heiser. »Du weißt davon?«
»Lucien hat es mir erzählt.« Oscuro zuckte die Achseln. Als wollte er sie von dem Thema ablenken, sagte er: »Glaub mir, diese verdammten Dreckschweine hätten erst aufgehört, dich zu schlagen, wenn du ohnmächtig dagelegen hättest. Wenn ich nur ein wenig früher gekommen wäre, hätte ich dir noch mehr Leid ersparen können.«
Ciel berührte ihre geschundene Wange, die bläulich angelaufen war. »Hör auf, dir Sorgen zu machen. Mir geht es gut.«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, dir geht es nicht gut.«
Ciel seufzte und schaute nach unten. Ja, sie fühlte sich wirklich mies, war immer noch schrecklich verwirrt und hatte Angst. Nach allem, was ihr in letzter Zeit Furchtbares geschehen war, auch kein Wunder. Aber Oscuro konnte unmöglich in ihre Seele schauen. Er konnte unmöglich von all diesen Dingen wissen.
»Hey, aber vielleicht kann ich dir helfen, dass du dich wenigstens ein bisschen besser fühlst.« Er lächelte sie an. »Komm mit!« Erneut griff er nach ihrer Hand.
Sie starrte auf seine blassen Finger und zuckte zusammen, als sie kleine Blutspritzer an ihnen kleben sah. »Oscuro, bitte tu das nie wieder«, flüsterte sie.
Er lachte, klang aber sehr ernst, als er meinte: »Ob ich das wieder tue, liegt an diesen Dreckschweinen und daran, ob sie es wagen, dich noch einmal zu verletzen.«
»Das werden sie nie wieder tun. Sie sind vermutlich in einem Krankenhaus und dort …«
»Nein, ich meine nicht nur diese Typen. Ich meine die Menschen. Alle Menschen auf dieser Welt, die Schwächere verletzen, obwohl sie selbst in Wirklichkeit nichts weiter als erbärmliche Kreaturen sind. Mörder, Vergewaltiger, Monster …« Unvermittelt grinste er wieder. »Aber lass uns nicht mehr darüber sprechen. Es wird Zeit, dass ich mein Bestes gebe, um dich wieder aufzupäppeln.«
Er führte sie einen abgeschiedenen sandigen Weg hinauf. Hohe Grashalme wiegten sich rauschend im Wind. Möwen zogen am Himmel kreischend ihre Runden. Schließlich kamen sie an einer Stelle am Strand an, an der Ciel noch nie gewesen war. Sie standen auf einer Düne. Vor ihnen erstreckte sich das weite Meer. Ciel atmete die salzige Luft ein, berührte mit den Händen die piksenden Grashalme und blickte sich um. Da bemerkte sie einen Picknickkorb, der einsam mitten auf der Düne stand. Genau dort führte Oscuro sie hin.
»Ich wollte nach dir suchen und dich einladen. Doch ich war mir nicht sicher, ob wir uns wirklich noch mal begegnen würden. Ich weiß doch, wie sehr du leidest, und dir kaum etwas zu essen leisten kannst.« Oscuro lächelte sie traurig an.
Sie fragte sich, woher er das wusste. Schließlich kannten sie sich kaum. Bei Lucien war es auch so gewesen. Auch er wusste eine Menge über sie, obwohl sie sich nur einmal zuvor begegnet waren.
Oscuro fuhr einfach fort, ohne auf ihren nachdenklichen Gesichtsausdruck einzugehen: »Du bist nur Haut und Knochen. Also beschloss ich, dich zu einem kleinen Picknick einzuladen, wenn ich dich finden würde. Und keine Sorge, hierher kommt niemand. Dieser Ort ist abgeschieden.«
Als sie vor dem Picknickkorb standen, hob er den Deckel und zog eine Decke hervor, die er im Sand auf den Grashalmen ausbreitete. Dann bedeutete er Ciel, sich zu setzen. Sie ließ sich auf der Decke nieder, und Toivo sprang ihr auf den Schoß. Fasziniert sah sie zu, wie er mehrere Sachen aus dem Korb herausholte und auf der Decke verteilte. Zwei große Wasserflaschen, Äpfel und Birnen, ein paar Scheiben Vollkornbrot, Schafskäse, mehrere Hähnchen-Wraps, Tomaten und Mandarinen, Laugenstangen, Wurst, Käse und ein Baguette.
»Bedien dich!« Oscuro lächelte sie freudig an.
Ciel starrte auf die vielen leckeren Sachen. Sie spürte, wie ihr das Wasser im Mund zusammenlief und ihr Magen mit einem lauten Knurren antwortete. Sie errötete und schlang sich die Arme um den Bauch. »Warum machst du das? A-also, i-ich meine, ich fühle mich geehrt, von dir zu einem solch wundervollen Picknick eingeladen zu werden.« Sie fuhr sich nervös durch die Haare. »Niemand hat mich zuvor zu etwas eingeladen. I-ich w-weiß nicht, ob ich das annehmen kann.«
»Komm schon, sei nicht so schüchtern. Mund auf!«
Oscuro hielt ihr den Hähnchen-Wrap vor den Mund. Sie wollte den Kopf wegdrehen, denn sie spürte, wie ihr vor Rührung die Tränen kamen. Doch sie war zu hungrig, um Oscuros nette Geste abzulehnen. Sie öffnete den Mund, und biss ein Stück ab.
Er lächelte zufrieden, als sie den Wrap nahm und erneut abbiss.
»Oscuro, ich … ich weiß nicht, was ich sagen soll. Das ist köstlich und ich bin dir wirklich sehr dankbar. Ich verspreche dir, mich zu revanchieren, sobald ich Geld habe, aber …«
Er legte ihr seine Hand auf die Schulter. »Schon gut. Hier, iss so viel du willst.« Er nahm eine Gabel mit einem Stück Schafskäse und führte auch die an ihren Mund.
Ciel wischte sich die Tränen fort, bevor sie von dem leckersten Käse probierte, den sie jemals gegessen hatte.
»Oh, für deinen Hund habe ich auch etwas.« Oscuro griff in den Korb und holte zwei Näpfe und eine Dose mit Hundefutter heraus. Er öffnete die Dose und schüttete das Futter in einen Napf hinein. In den anderen füllte er Wasser.
»Vielen Dank, Oscuro«, hauchte Ciel gerührt, als sie ihrem Hund beim Fressen zuschaute.
Er griff besorgt nach ihrer Hand. »Tun deine Verletzungen noch sehr weh?«
Sie berührte mit der anderen Hand ihre schmerzende Wange und zuckte zusammen. »Ist halb so schlimm«, entgegnete sie schnell. »Es tut nur noch ein klein wenig weh.«
»Kühl sie, sonst wird sie noch dicker.«
Oscuro nahm ein Tuch aus dem Korb, feuchtete es mit dem Wasser aus der Flasche an und fuhr damit vorsichtig über die verletzte Stelle auf Ciels Wange. Sie zuckte kurz zusammen, als er ihr das Blut von der Lippe wischte, doch die Kälte des Wassers tat gut.
»Es tut mir so leid, was geschehen ist. Ich wünschte, ich könnte dir den Schmerz nehmen.« Er seufzte leise.
»Du hast schon viel zu viel für mich getan.« Sie lächelte.
»Hey, vielleicht können wir uns ja öfter sehen? Wenn du willst …« Oscuro lächelte sie schüchtern an, als befürchtete er, sie würde Nein sagen.
Doch Ciel nickte begeistert. »Ja. Ich würde mich sehr freuen.«
Seine eisblauen Augen leuchteten erfreut auf. »Sag, was wird jetzt aus dir?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht.« Ich muss Heaven finden, dachte sie, doch sie sprach es nicht aus. Dann schaute sie ihn neugierig an, denn nun beschäftigte sie eine ganz andere Frage. »Du kennst Lucien, richtig?«
Als Oscuro nickte und sagte: »Früher waren wir sogar mal Freunde«, zog sie die Augenbrauen hoch.
»Ähm, wie geht es ihm? Ich weiß kaum etwas über ihn, aber er viel über mich. Das ist fast unheimlich. Und du weißt auch eine Menge über mich. Woher?«
Eine sanfte Brise wehte durch Oscuros schwarze Haare. Er wich ihrem Blick aus, schaute zum Meer hinaus und dachte einen Moment lang schweigend nach. So lange, dass Ciel sich innerlich verfluchte, diese Fragen gestellt zu haben. Es war offensichtlich, dass Oscuro keine große Lust zu haben schien, über Lucien zu sprechen.
Doch schließlich sagte er: »Lucien und ich, wir sind zusammen zur Schule gegangen. Wir sind damals oft an dem Laden vorbeigegangen, in dem du gearbeitet hast. Haben gesehen, wie sehr du dich gequält hast. Da wollten wir dir helfen.«
Ciel warf ihm einen fragenden Blick zu. Sie hatte das eigenartige Gefühl, dass er sie anlog.
»Sieh uns beide einfach als deine Schutzengel an, okay?« Er lächelte und seine eisblauen Augen leuchteten wie der weite Ozean. »Schutzengel, die ein armes Mädchen im Auge behalten und dafür sorgen, dass ihr Leid wenigstens ein klein wenig abnimmt.«
»Danke! Aber ihr hättet euch ruhig trauen können, mich anzusprechen. Ich habe keine Freunde und …«
»Wir wollten uns nicht zu sehr in dein Leben einmischen«, unterbrach Oscuro sie. »Menschen können so in große Schwierigkeiten geraten. Manchmal denkt man, etwas Gutes zu tun, doch oft erreicht man damit das genaue Gegenteil.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das wäre nicht passiert. Nicht bei mir. Ich wäre froh gewesen, wenn ihr euch mir früher vorgestellt hättet. Wir hätten uns treffen können. Ihr hättet meine Welt ein klein wenig heller gemacht, und ich hätte mich nie wieder traurig gefühlt.«
»Wir mussten den richtigen Zeitpunkt abwarten«, sagte Oscuro und blickte zum Himmel empor.
Den richtigen Zeitpunkt abwarten?
Ciel dachte daran, wie sie Lucien das erste Mal begegnet war. Er war in ihr Leben getreten, als sie ihrer Doppelgängerin zum ersten Mal begegnet war. In ihrem Kopf begann es zu arbeiten. Und wenn das kein Zufall gewesen war? Wenn es irgendeine Verbindung zwischen Heaven, Lucien, Oscuro und ihr gab? Ja, so musste es sein. Anders konnte Ciel sich die schrecklichen Ereignisse, die so plötzlich und unerwartet auf sie eingestürmt waren, nicht erklären. Sie traute sich fast nicht zu fragen, doch sie musste es einfach wissen. »Lucien hat mir merkwürdige Dinge erzählt, die ich nicht glauben kann und ehrlich gesagt auch nicht glauben möchte. Er sagte mir, dass das Mädchen, dem ich begegnet bin, meine Zwillingsschwester ist. Aber sie soll gefährlich sein. Ihr Name ist Heaven. Wenn du so viel über mich weißt, na ja, weißt du dann vielleicht auch etwas über sie?« Sie schaute ihn fragend von der Seite an.
Er wandte sich ihr zu. »Ich weiß, dass du eine Zwillingsschwester namens Heaven hast«, sagte er zu ihrer Verwunderung. »Lucien und ich fürchten uns vor ihr. Sie trägt so viel«, er schien nach den richtigen Worten zu suchen, »Finsternis in sich. Das macht sie so gefährlich – mehr als nur gefährlich.«
»Aber warum sollte sie …« Ciel brach den Satz ab. Das war doch verrückt. Was für eine Finsternis meinte Oscuro? Etwa, dass Heaven genauso litt wie Ciel, denn genau das hatte Lucien gesagt.
»Lucien hat mir auch etwas von einer Königin erzählt«, fuhr sie fort, während sie versuchte, sich an das Gespräch zu erinnern. Sie war so in Panik gewesen, dass sie Lucien nicht richtig zugehört hatte, aber ein paar Dinge hatte sie sich gemerkt.
»Ich weiß nix von einer Königin«, antwortete Oscuro kurz angebunden und wirkte plötzlich sichtlich genervt.
»Aber Lucien …«
»Hör nicht auf diesen Typen. Er ist ein elender Lügner.«
Er funkelte sie an. Es war offensichtlich, dass er keine Lust mehr hatte, weiter auf ihre Fragen einzugehen.
»Er wollte dir nur Angst einjagen. Ist deine Frage damit beantwortet? Ja? Dann sei bitte still und sprich kein Wort mehr über ihn.«
Ciel seufzte. Sie bemerkte, dass Oscuros Körper vor Zorn angespannt war, als er erneut auf das weite Meer hinausschaute. Sie ließ den Kopf hängen und ein peinliches Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Sie nahm sich ein Stück Baguette, und begann nervös daran herumzuknabbern.
Ihr fiel auf, dass Oscuro das Essen bisher nicht angerührt hatte. Hatte er das alles etwa nur für sie besorgt? Es schien ihm unheimlich viel zu bedeuten, dass es ihr gut ging. Deshalb verstand sie auch nicht, weshalb er nicht mehr über das reden wollte, was sie so beschäftigte.
Sie seufzte. »Ach, Heaven …« Sie fragte sich, wie es ihr wohl ging und ob sie wusste, dass sie und Ciel wahrscheinlich Geschwister waren?
»Wenn du ihr unbedingt begegnen willst, sollte ich dabei sein«, meinte Oscuro plötzlich und lächelte sie an. »Nur für den Fall der Fälle.«
Wie er das sagte, klang es, als würde er sich große Sorgen machen. Aber nicht nur um Ciel, sondern auch um ihre Zwillingsschwester.
Als sie ihn danach fragte, meinte er: »Die Finsternis in ihr sorgt dafür, dass Menschen sterben und ihnen Unglück passiert. Heaven ist ein kleiner Unglücksrabe. Das wird auch an ihrer Seele nicht spurlos vorbeigehen und sie belasten.«
»Wieso sollte sie Unglück bringen? Das ist verrückt.«
»Ja, du hast recht.« Auf seinem Gesicht zeichnete sich ein merkwürdiges Lächeln ab, das Ciel nicht zu deuten wusste.
»Klar kann es bloß Zufall sein, dass sie, egal wohin sie auch geht, Unglück bringt und Menschen sterben. Aber wenn du mich fragst, es gibt keine Zufälle im Leben.«
Das bestätigte, was sie gedacht hatte. Doch bevor sie etwas dazu sagen konnte, entdeckte sie etwas am Strand. Weit unten in der Nähe des Ufers, von oben kaum zu erkennen, sah sie plötzlich die Überreste von etwas Schwarzem, Verkohltem.
»Aber das ist doch …«, flüsterte sie. Konnte das da unten etwa Luciens Hütte gewesen sein, die sie niedergebrannt hatte?
»Da unten wohnte er. Lucien«, durchbrach Oscuro die Stille, als würde er ihre Gedanken lesen können.
Sie blickte ihn erschrocken an.
»Aber er ist tot. Ist am ganzen Leibe verbrannt. Nun ist nur noch Asche von ihm übrig. Ich habe keine Ahnung, wer das gewesen sein könnte.«
»Aber Lucien lebt!« Ciel spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich und ihr leicht schwindelig wurde. Lucien konnte nicht tot sein! Er lebte! Oder war sie nun etwa komplett verrückt geworden und hatte sich nur eingebildet, dass er bei ihr gewesen war?