- -
- 100%
- +
Daß der Leser so oft wie möglich der Literatur selbst begegnen soll, wird überdies weder für einen schulgerechten Abriß der literaturgeschichtlichen Entwicklung noch für einen Überblick über die einschlägige Forschung genug Raum lassen. Am Ende wird der Leser mithin manche der von der Wissenschaft besonders intensiv diskutierten Fragen, manchen prominenten Autor und etliche der inzwischen als klassisch geltenden Werke zu vermissen haben. Es steht freilich zu hoffen, daß er in eben dem Maße, in dem er sich an den ausgewählten Texten auf exemplarische Weise mit Grundlagen, Grundfragen und Grundformen der modernen Literatur bekanntmachen kann, auch mit den literarhistorischen Fragen, den Autoren und Werken besser zurechtkommen wird, die hier nicht eigens verhandelt werden.
Gottfried Benn: „1886“So wollen wir uns denn auch für die erste Annäherung an die Moderne von einem literarischen Text an die Hand nehmen lassen. Um die Wende von 1944 zu 1945 schreibt Gottfried Benn (1886–1956)1 ein Gedicht auf sein Geburtsjahr 1886, in dem vom Ende des Entwicklungsbogens aus, der oben skizziert worden ist, der Blick auf die Zeit gerichtet wird, in der alles begann. Es ist ein Blick, der aus dem Staunen darüber lebt, wie sehr sich die Welt in diesen sechs Jahrzehnten verändert hat, im Guten wie im Bösen. Und die Jahre 1944 und 1945 sind böse Jahre, vielleicht die bösesten, die die Moderne bis dahin gesehen hat. Die Vernichtungsmaschinerie des Dritten Reichs und seines Weltkriegs läuft auf Hochtouren, die ganze Welt scheint in Trümmer zu sinken. Von hier aus stellen sich die Verhältnisse des Jahres 1886 als „gute alte Zeit“ dar, und seine Literatur als Ausdruck eines Bewußtseins von geradezu atemberaubender Harmlosigkeit. Unter der Oberfläche ist das Neue freilich schon da, jenes Neue, das eine ganz andere Literatur erfordern wird als die bis dahin gepflegte, und es drängt mit Macht ans Licht.
1.2 An der Schwelle zur Moderne – Gottfried Benn: „1886“
Man muß nicht sonderlich viel von Lyrik verstehen, um auf den ersten Blick bereits zu erkennen, daß dieses Gedicht auf das ausgehende 19. Jahrhundert kein Gedicht des 19. Jahrhunderts, daß es ein modernes Gedicht ist. Kein Zweifel – ein Lyriker des 19. Jahrhunderts hätte so noch nicht sprechen können. Wie aber kommen wir zu diesem Urteil? Welche Züge des Gedichts überzeugen uns so rasch davon, daß es der Moderne angehört? Gehen wir zunächst dieser Frage nach, bevor wir uns dem Bild zuwenden, das Benns Gedicht von den Verhältnissen des Jahres 1886 zeichnet. Der geschichtliche Wandel, den wir mit seiner Hilfe in den Blick zu bekommen suchen, wird ja nicht nur in dem greifbar, was es von einem modernen Standpunkt aus über diese Verhältnisse sagt; er bezeugt sich nicht weniger durch die Art und Weise, wie es von ihnen spricht.
1.2.1 Vom Lied zum Montagegedicht
Freie Rhythmen vs. Vers und ReimEin erster Anhaltspunkt für seine Einstufung als modern ist zweifellos seine äußere Form, sind die Freien Rhythmen,2 in denen es gestaltet ist, eine Möglichkeit lyrischen Sprechens, die im 20. Jahrhundert zu den bevorzugten Formen der Lyrik gehört. Bei Freien Rhythmen ist die Sprache des Gedichts keiner metrischen Regulierung unterworfen, ist sie weder an eine bestimmte Versform noch an ein bestimmtes Strophen- und Reimschema gebunden, die über den gesamten Text hinweg durchzuhalten wären, so daß ein solches Gedicht nicht viel anders klingt als eine poetische Prosa. Demgemäß ist es hier zunächst nicht mehr als die Zeilenbrechung, was dem Leser anzeigt, daß er ein Gedicht vor sich hat.
Nun hat es Freie Rhythmen auch im 19. Jahrhundert schon gegeben, etwa bei Heinrich Heine (1797–1856) und Friedrich Nietzsche (1844–1900), doch findet man sie hier sehr viel seltener als im 20. Jahrhundert, und sie haben im allgemeinen auch einen anderen Charakter als bei einem modernen Autor wie Benn. Das Gros der Lyrik des 19. Jahrhunderts bewegt sich in liedhaften Formen, zumal in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, und wenn ein Autor dennoch einmal zu Freien Rhythmen greift, so sucht er das, was ihnen äußerlich an Poetizität abgeht, meist durch Pathos zu kompensieren; so haben es jedenfalls Heine und Nietzsche gehalten. Benns Gedicht hingegen macht aus seiner Nähe zur Prosa keinen Hehl, ja es kommt in einer Sprache daher, deren unpathetisch nüchterner, fast schon emotionsloser Ton, deren Lakonismus solche Nähe geradezu demonstrativ hervorkehrt.
Die Geschichte der Freien Rhythmen beginnt im 18. Jahrhundert, bei Friedrich Gottlieb Klopstock (1724–1803) und dem jungen Goethe (1749–1832), doch bleibt ihre Pflege zunächst Episode. Denn das Ende des Jahrhunderts bringt eine Phase besonders intensiver Auseinandersetzung mit metrischen Fragen, und das Ergebnis ist, daß Vers und Reim erneut und mehr denn je als unentbehrlich für alle wahre Dichtung gelten. Für die Dichter der Weimarer Klassik, die Literaturtheoretiker der Jenaer Frühromantik und die Ästhetiker des Idealismus sind sie der ausgezeichnete Ausdruck einer autonomen, nur ihren eigenen Interessen und Gesetzen folgenden Dichtung, und an der Autonomie der Kunst ist nun alles gelegen. Friedrich Schiller (1759–1805) etwa ist der Auffassung, daß allein der Vers jene Distanz der dichterischen Rede gegenüber der Alltagssprache herstellen könne, derer sie bedürfe, um ihre besonderen kommunikativen Möglichkeiten entfalten zu können. Und die Brüder August Wilhelm (1767–1845) und Friedrich Schlegel (1772–1829) feiern den Reim gar als einen besonders prägnanten Ausdruck dessen, wovon die Dichtung ihrer Auffassung nach vor allem Zeugnis abzulegen hat, als Ausdruck der geheimnisvollen Verbundenheit aller Dinge in ein- und demselben Seinsgrund.
Das Lied im 19. JahrhundertDie Autoren des 19. Jahrhunderts sind dem im allgemeinen gläubig gefolgt; sie suchten die Autonomie der Kunst zur Geltung zu bringen, indem sie Verse schmiedeten und reimten, was das Zeug hielt. Den äußeren Rahmen gaben dabei vielfach liedhafte Strophen ab, wie sie dank der Auseinandersetzung Johann Gottfried Herders (1744–1803) und des jungen Goethe mit dem Volkslied in das Repertoire der lyrischen Formen eingegangen waren und wie sie von der Hoch- und Spätromantik mit ihrem Faible für die Volksliteratur besonders nachdrücklich propagiert worden waren.
Der Mai ist gekommen,Die Bäume schlagen aus,Da bleibe, wer Lust hat,Mit Sorgen zu Haus.3So eine typische Liedstrophe des 19. Jahrhunderts, hier eine aus der Feder von Emanuel Geibel (1815–1884).
Daß das Lied 4 im 19. Jahrhundert so große Erfolge feiern konnte, lag vor allem daran, daß es als das ideale Medium der individuell-persönlichen, subjektiv-erlebnishaften Sicht der Dinge begriffen wurde, der Raum zu geben das wichtigste Ziel des Ringens um eine autonome Kunst war. Wenn Metrum und Vers, Reim und Strophe durch die regelmäßige Wiederholung bestimmter akustischer Charaktere die Sprache zum Klingen bringen, so lassen sie damit eine Art Wortmusik entstehen, und solche Wortmusik galt wie die Musik überhaupt als besonders geeignet, um Gefühlen und Stimmungen Ausdruck zu verleihen, um das zum Vorschein zu bringen, was den innersten Kern der Person ausmacht, was sich namenlos am Grund der Seele regt und eigentlich nicht in Worte zu fassen ist. Besonders gut sollte dies aber eben mit Hilfe liedhafter Strophen gelingen, da sie die „Natürlichkeit“, die Einfachheit und Schlichtheit des Volkslieds mit sich bringen, so daß in ihnen weder das moderne Bildungswissen noch der moderne Kunstverstand dem Stimmungsleben und dem Ausströmen des Gefühls mit ausgeklügelten Kunststücken in die Quere kommen können.
Und noch besser sollte der Erfolg sein, wenn der Autor in der quasi-natürlichen Form des Lieds auch einen natürlichen Inhalt gestaltete, wenn er nämlich das lyrische Ich in der „freien Natur“ zeigte, als einem Raum, in dem es sich so weit wie möglich von dem zu lösen vermag, was die Gesellschaft seinem Selbstsein in den Weg legt, in dem es ganz bei sich selbst ankommen kann. So hatte es der meistbewunderte Klassiker der deutschen Lyrik, hatte es Goethe in seinen Liedern vorgemacht, so hat es die klassische Ästhetik von Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) bis Friedrich Theodor Vischer (1807–1887) beschrieben, und so haben es die Lyriker des 19. Jahrhunderts weithin gehalten. Das Motto war: „Ich singe, wie der Vogel singt“, ein Vers von Goethe, den dieser freilich mit Bedacht dem unglücklichsten aller Liedsänger, dem Harfner – einer Figur seines Romans „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ – in den Mund gelegt hatte. Wie der Gesang des Vogels sollte das Gedicht spontan und intuitiv, um nicht zu sagen: instinktiv der bewegten Seele des Dichters entströmen und sich nicht weniger unmittelbar dem Leser mitteilen.
In diesem Glauben hat das 19. Jahrhundert eine ständig wachsende Flut von liedhaften Gedichten hervorgebracht, und viele von ihnen sind mit den Jahren nicht weniger populär geworden als die alten Volkslieder. Die „Gedichte“ des Liedmeisters Geibel aus dem Jahr 1840 erschienen 1903 in der 130. Auflage, und die „Lieder des Mirza Schaffy“ (1851) von Friedrich Bodenstedt (1819–1892) brachten es gar auf über 200 Auflagen. Viele von ihnen sind bald auch vertont worden, sind also zu wirklichen Liedern geworden, und manche haben wie Geibels „Der Mai ist gekommen“ in dieser Gestalt in der Tat den Status eines Volkslieds erlangt. Und nicht nur gestandene Dichter, auch eine große Zahl von Laien hat sich in liedhafter Lyrik geübt, suchte mit selbstgemachten Gedichten dem geselligen Leben Glanzlichter aufzustecken. Jede höhere Tochter, die auf sich hielt, hütete in ihrem Salon eine lyrische Voliere, in der gesungen wurde, wie der Vogel singt.5
Kritik an der liedhaften LyrikUnd so blieb es, als schon längst Eisenbahnen die Maienlandschaften durchmaßen und Fabrikschlote den Busen der Natur einräucherten. Der Dichter saß, wie Wilhelm Busch (1832–1908) in einer Szene der Bildergeschichte vom verhinderten Dichter Balduin Bählamm (1883) festgehalten hat, im Coupé der Eisenbahn und sang, wie der Vogel singt. Auf die Idee, zu fauchen und zu pfeifen wie die Lokomotive oder Gedichte zu bauen wie eine Bahnhofshalle aus Stahl und Glas, kam zunächst noch niemand. Das änderte sich erst in den neunziger Jahren. Da trat etwa der Naturalist Arno Holz (1863–1929), ein Autor, der sich in den achtziger Jahren noch zur Gemeinde Geibels bekannt und gemeint hatte, mit liedhafter Lyrik in die neue Zeit starten zu können – der Untertitel seiner frühen Gedichtsammlung „Buch der Zeit“ (1886) lautet „Lieder eines Modernen“ – mit einer poetologischen Kampfschrift in den Ring, in der er eine „Revolution der Lyrik“ (1899) ausrief und die Liedstrophe platterdings als „Leierkasten“ verwarf, um es in seinem zweibändigen lyrischen Zyklus „Phantasus“ (1898–1899) erneut mit Freien Rhythmen zu versuchen, ja mit einer noch weniger gebundenen Form, die er „natürlichen Rhythmus“ nannte. Die Kritik an der liedhaften Lyrik wurde allgemein, und es war nicht zuletzt solche Kritik, was eine moderne Lyrik auf den Weg brachte.6
Benns Gedicht auf das Jahr 1886 kommt offensichtlich aus einer Welt, die mit dem Lyrikverständnis des 19. Jahrhunderts gebrochen hat. Hier werden keine Verse gedrechselt, wird nicht vor sich hin gereimt und nicht gesungen, wie der Vogel singt. Zwar hat sich Benn wie manch anderer moderne Lyriker durchaus darauf verstanden, die Sirenenklänge einer Wortmusik in Szene zu setzen, wie Vers und Reim überhaupt in der Lyrik der Moderne einen Stellenwert behalten, der nicht zu unterschätzen ist. Aber sie bezeichnen hier nur noch eine Möglichkeit unter anderen. Neben ihnen stehen Formen, deren sachlich nüchterner Sprachgestus, deren „Lakonismus“ dem Gefühls- und Stimmungston der liedhaften Lyrik diametral entgegengesetzt ist, und sie bilden den Hintergrund, vor dem sich Vers und Reim zu bewähren haben. Wenn an Benns Gedicht überhaupt noch ein subjektiv-erlebnishaftes, individuell-persönliches Moment mit beteiligt sein sollte, dann drängt es sich jedenfalls nicht in den Vordergrund, gibt es sich nicht auf den ersten Blick schon zu erkennen.
Rückzug des lyrischen IchsSo fällt bei der Lektüre von Benns „1886“ denn auch besonders auf, daß in ihm kein einziges Mal „ich“ gesagt wird, und dies obwohl hier ein Autor von seinem Geburtsjahr spricht, von dem Jahr, in dem sein Ich das Licht der Welt erblickte. Die Frage: wo komme ich her? und die stillschweigend mit ihr verbundene zweite Frage: wo bin ich hingeraten? werden nicht von persönlichen Erlebnissen und subjektiven Empfindungen und Stimmungen aus aufgerollt; diese bleiben unausgesprochen und kommen im Text allenfalls indirekt zum Ausdruck. Statt dessen werden allerlei Begebnisse der großen und kleinen Geschichte zusammengetragen, Objektiv-Faktisches aus Wissenschaft und Technik, Wirtschaft und Verkehrswesen, politischem und kulturellem Leben, einschließlich der zeitgenössischen Literatur. Es geht um Entwicklungen und Begebenheiten, die nichts mit der Person dessen zu tun haben, der da geboren worden ist, jedenfalls nicht mehr als mit der jedes anderen, der seinerzeit das Licht der Welt erblickte.
Einzig gegen Ende des Gedichts findet sich ein indirekter Hinweis auf die Person dessen, der da spricht: 1886 ist das „Geburtsjahr gewisser Expressionisten“; das schließt den als Expressionisten bekanntgewordenen Benn mit ein. Aber dessen individuelles Ich tritt auch hier nicht aus der Phalanx derer hervor, die die Erfahrungen seiner Generation teilen, die alle gleichermaßen unter Verhältnissen herangewachsen sind, die den einen zum Vertreter einer inzwischen verbotenen, in der „inneren Emigration“ verschwundenen expressionistischen Literatur hat werden lassen, den anderen, Wilhelm Furtwängler, zum Staatsdirigenten des Dritten Reichs, einen dritten, den expressionistischen Maler Oskar Kokoschka, zum Emigranten und einen vierten, den Generalfeldmarschall von W., zu einem großen Kriegsherrn, den freilich bereits der Heldentod ereilt hat.
Und das alles wird in einer Sprache ausgebreitet, die keineswegs auf intuitive, spontane Weise dem Seelenleben des Autors entströmt, die weithin überhaupt nicht dessen individuelles Idiom repräsentiert und die insofern auch nicht unmittelbar von dessen innerer Befindlichkeit Zeugnis ablegen kann. Vielmehr bedient sich Benn der unpersönlichen Sprache, in der seinerzeit in den Zeitungen von alledem berichtet worden ist, in der es sich in die öffentlichen Diskurse hinein objektiviert hat. Daß er in der Tat auf die Zeitungssprache zurückgreift, wird in den Zeilen besonders deutlich, wo er die „Rubrik: der Leser hat das Wort“ ins Spiel bringt. Die Sprache des Gedichts ist weithin vorgeprägte Sprache, Sprache aus zweiter Hand. Das Ich des Autors bringt sich vor allem in der Auswahl und Zusammenstellung der Zeugnisse zur Geltung, in der Art und Weise, wie er – um eine Wendung von Benn selbst aufzunehmen – „zivilisatorische Realitäten“ „auf Spalier zieht“, wie er das zusammengetragene Material „montiert“ (GBE 405).
Das lyrische Ich im 19. JahrhundertSolchen Montagegedichten,7 die ohne das Wort „ich“ auskommen, begegnen wir erst in der Moderne; sie sind im 19. Jahrhundert noch völlig undenkbar. Das Gedicht des 19. Jahrhunderts versucht überall und immer, in allen Belangen ich zu sagen.
Ich weiß nicht, was soll es bedeuten,Daß ich so traurig bin;Ein Märchen aus alten Zeiten,Das kommt mir nicht aus dem Sinn.8Denk ich an Deutschland in der Nacht,Dann bin ich um den Schlaf gebracht,Ich kann nicht mehr die Augen schließen,Und meine heißen Tränen fließen.9Das 19. Jahrhundert hat, wie sich bei Heine besonders deutlich zeigt, kein Wort so oft und mit so gläubiger Inbrunst ausgesprochen wie das Wort „ich“; ich sagen zu dürfen, ist seine größte Lust, ich sagen zu müssen, seine größte Last. Darin vor allem dürften die Erfolge gründen, die im 19. Jahrhundert einer Lyrik zuteil werden, die sich als liedhafte Lyrik zum Medium einer subjektiv-erlebnishaften Ich-Aussprache gestaltet hat. Daß das Ich hier so große Bedeutung erlangt, ist Ausdruck der Individualisierung, wie sie untrennbar mit dem Prozeß der Modernisierung verbunden ist, jener Aufwertung alles Individuellen, Persönlichen, Subjektiven, die vor allem von der Aufklärung des 18. Jahrhunderts vorangetrieben worden ist und der gerade auch die Literatur Raum zu geben sucht, seitdem sie sich als eine autonome Kunst versteht.
Die Lust und Last des Ich-Sagens erlebt im letzten Drittel des Jahrhunderts bei dem Philosophen, der zum wichtigsten Mentor der frühen Moderne werden sollte, bei Friedrich Nietzsche, einen Höhepunkt, der sich kaum mehr überbieten läßt. Was diesen Denker umtreibt, läßt sich seinen Texten bereits auf den ersten Blick ansehen; offensichtlich kommt es ihm darauf an, möglichst viele Sätze zu bilden, in denen an möglichst vielen Stellen ich gesagt wird. Nietzsches letzte Schrift „Ecce homo“ (1888) dürfte von allen Werken der Weltliteratur dasjenige sein, dessen Text die größte Ich-Dichte aufweist. In allen Belangen soll dem Ich Geltung verschafft werden, nicht nur in der Kunst, die als autonome Kunst dazu prädestiniert ist, sondern gerade auch in den Bereichen, in denen ihm in der Regel eine untergeordnete Rolle zugewiesen wird, und hier wiederum besonders in den Fragen der Erkenntnis und der Moral. Eben darin dürfte einer der Gründe für das ungeheure Echo zu sehen sein, das Nietzsches Schriften an der Schwelle zur Moderne hatten; wer Nietzsche las, der durfte mit ihm endlich einmal hemmungslos ich sagen.
Individualisierung und Problematisierung des IchsAm Ende des 19. Jahrhunderts konnte das nur als ein Befreiungsschlag erlebt werden, denn es war inzwischen immer schwieriger geworden, unbekümmert ich zu sagen. Nicht als hätte man früher im 19. Jahrhundert nicht auch schon seine Probleme damit gehabt. Das Ich ist sich in eben dem Moment zum Problem geworden, in dem das authentische Selbstsein zum Maß aller Dinge wurde, also bereits tief im 18. Jahrhundert. Schon in den Schriften des Autors, der als der wichtigste Vorkämpfer und Inbegriff des modernen Individualismus gilt, schon bei Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) bringt sich ein Individuum zur Darstellung, das sich als durch und durch problematisch erlebt, das überdies mehr von Erfahrungen der „Entfremdung“ zu berichten hat als von Momenten authentischen Selbstseins. Nicht umsonst sind die Worte, die zur Losung der „Befreiung“ des Individuums geworden sind, ist das „Hast du’s nicht alles selbst vollendet, heilig glühend Herz?“ aus Goethes „Prometheus“ vom Autor mit einem Fragezeichen versehen.
Dabei ist es im 19. Jahrhundert weithin geblieben. Das Ich, das sich in dessen liedhafter Lyrik zu Wort meldet, ist in der Regel ein angefochtenes Ich, eines, das für sein Selbstsein zu kämpfen hat.10 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts nehmen die Probleme mit dem Selbstsein dann allerdings ganz andere Ausmaße an, wachsen sie in eine Dimension hinein, die die Frage aufkommen läßt, ob sie mit den Mitteln einer liedhaften Lyrik überhaupt noch adäquat zu gestalten seien.11 Daß der moderne Individualismus dem Ich ein authentisches Selbstsein verheißt, hat es nach und nach immer sensibler für die Kräfte und Mächte werden lassen, die seiner „freien Selbstbestimmung“ entgegenstehen, die es von innen steuern und von außen begrenzen. Zugleich hat die moderne Wissenschaft ein immer profunderes Wissen um diese Kräfte und Mächte ausgearbeitet, hat sie aufgedeckt, in welchem Maße es von ihnen „determiniert“ ist, auch und gerade dort, wo es sich ihrer gar nicht bewußt wird.
So haben die moderne Biologie, Medizin und Psychologie gezeigt, in welchem Maße das Ich in seinem Denken und Handeln von inneren Kräften, von Trieben und Instinkten gelenkt wird. Und so haben die moderne Philosophie, Geschichtswissenschaft und Soziologie ein Bewußtsein davon geschaffen, welche Macht die äußeren Umstände, die geschichtlich-gesellschaftlichen Verhältnisse über es haben, wie sehr sie es in seiner Entwicklung befördern oder behindern, ja schon in seiner Konstitution als Ich bestimmen. Da wurde es für das Individuum immer schwieriger, an sich selbst und an das zu glauben, was sich in seinem Bewußtseinsleben an Vorstellungen regt, und das konnte natürlich nicht ohne Folgen für eine Literatur bleiben, die sich wesentlich als Sprachrohr des Individuums verstand.
Das Ich zwischen Weltangst und HumorDas Bewußtsein von der Macht des Unbewußten bereitet sich im 19. Jahrhundert bereits allenthalben vor, aber es hat hier noch keine Konsequenzen für die Form der literarischen Rede, jedenfalls keine von grundstürzender Bedeutung. Das Ich bleibt mit seinen subjektiven Erlebnissen und Vorstellungen, Gefühlen und Stimmungen der Ausgangs- und Zielpunkt aller literarischen Aktivitäten, so daß auch die Probleme mit dem Selbstsein hier noch immer auf subjektiv-erlebnishafte Weise gestaltet werden. Das geschieht vor allem auf zwei verschiedenen Wegen, zum einen indem sich in den Texten ein Ich zu Wort meldet, dessen Lebensgefühl von Weltangst oder „Weltschmerz“ bestimmt ist, und zum andern indem eine Selbstironie und ein Humor kultiviert werden, die es dem Ich erlauben, zu seinen Nöten auf Distanz zu gehen.