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Lublinski tritt für die zweite Option ein; er meint, in der Literatur der Zeitgenossen ein Erlahmen des Pathos der Innovation und eine neue Offenheit für das kulturelle Erbe, auch für das klassische Erbe, wahrnehmen zu können. Doch damit irrte er sich. Denn in dem gleichen Jahr 1909, in dem er seinen „Ausgang der Moderne“ vorlegte, trat F. T. Marinetti in Paris mit dem „Manifest des Futurismus“ an die Öffentlichkeit, das zur Initialzündung für eine ganze Reihe von neuen Avantgarden wurde, und gründete Kurt Hiller (1888–1972) in Berlin den „Neuen Club“, in dem die ersten Expressionisten zusammenfanden. Hier wie dort wurden die Forderungen der ersten Modernen nicht einfach nur erneuert, sondern auf eine Weise zugespitzt, die ihnen eine besonders große Durchschlagskraft verschaffte, so daß das kulturelle Leben nun heftiger aufgemischt wurde als je zuvor. Damit hatte sich die Idee der Postmoderne fürs erste erledigt; der Avantgardismus ging in eine neue Runde.
Die Erste Moderne wird zur „klassischen Moderne“Damit die Vorstellung von einer Postmoderne wirklich Fuß fassen und zu einem Kristallisationspunkt des Nachdenkens über die Moderne werden konnte, mußte die Welt erst sehr viel mehr an Avantgarden erlebt und an moderner Kunst und Literatur gesehen haben und mußte sich deren Wahrnehmung in ganz anderem Maße zum Bild einer Epoche verdichtet haben als zu Zeiten Lublinskis. So dauerte es bis in die sechziger, siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts, bis sich ein Postmoderne-Diskurs etablieren konnte.34 Wie sehr sich die Vorstellung von der Moderne als einer Epoche bis dahin verfestigt hatte, ist vor allem daran zu erkennen, daß man inzwischen begonnen hatte, von der Kunst und Literatur der ersten Dezennien des Jahrhunderts als von der „klassischen Moderne“ zu sprechen.
Das Prädikat klassisch zeigt an, auf welche Weise sich der Blick auf sie verändert hatte. Hier wie überall verweist es auf ein Zugleich von Distanz und Nähe. Einerseits konnte man die Kunst der Ersten Moderne nicht mehr als Kunst der Gegenwart empfinden, schaute man auf sie als etwas in geschichtliche Ferne Gerücktes, historisch Gewordenes zurück, und dies um so mehr, als eine dezidiert moderne Kunst und Literatur in der Zeit des Dritten Reichs und des Zweiten Weltkriegs fast völlig aus der Öffentlichkeit verschwunden war, es inzwischen also wirklich so etwas wie einen „Ausgang der Moderne“ gegeben hatte. Andererseits fühlte man sich ihr aber auch wieder nahe, näher jedenfalls als der Kunst der Jahre 1933–1945; nicht umsonst hatte man sich nach dem Zweiten Weltkrieg darangemacht, „eine ähnliche Stilaufbruchsbewegung wie 1910–1920“ auf den Weg zu bringen, eine „Phase II“ der Moderne (G. Benn),35 eine Zweite Moderne, für die die Erste Moderne das klassische Vorbild war.
Und so waren Autoren wie Gerhart Hauptmann und Hugo von Hofmannsthal, Rainer Maria Rilke und Gottfried Benn, Bertolt Brecht, Franz Kafka und Robert Musil zu „Klassikern der Moderne“ geworden, zu „Autoritäten“, von deren Werken aus sich „Prinzipien“ einer modernen Literatur entwickeln ließen, ein „Ideal“ moderner Kunst, das sich als „Dogma“ handhaben ließ. Als Beispiel für solche dogmatischen Anstrengungen sei hier nur „Die Struktur der modernen Lyrik“ (1956) von Hugo Friedrich genannt, ein Werk, das für mehr als ein Jahrzehnt das Vademecum aller Jünger der Moderne war.
Wir wollen nicht überhören, daß in der Wendung „klassische Moderne“ zwei Begriffe zusammengebracht werden, die eigentlich nicht zusammenpassen. „Modern“ meint aktuell, „klassisch“ meint zeitlos. Den „Klassikern der Moderne“ soll es also gelungen sein, Werke zu schaffen, die zugleich aktuell und zeitlos wären. Das aber heißt nichts weniger, als daß in ihnen der „Konflikt der modernen Kultur“ gelöst wäre. In ihnen soll man Bildern des modernen Lebens begegnen können, die auch viele Jahrzehnte nach ihrer Entstehung noch nichts von ihrer Aktualität verloren hätten, denen die Modernisierungsdynamik mithin nichts hätte anhaben können. Sie sollen den Prozeß der Modernisierung zugleich repräsentieren und transzendieren, sollen sich in der Auseinandersetzung mit ihm, gerade mit ihm und nur mit ihm, einen Ort erobert haben, an dem sie selbst seiner Dynamik überhoben wären.
Die „Aporien des Avantgardismus“Was immer von einer solchen Sicht der „Ersten Moderne“ zu halten sein mag – jedenfalls wurde der Begriff der „klassischen Moderne“ in den sechziger, siebziger Jahren zu gängiger Münze. Das war der Schlußstein in der Entwicklung, in der sich die Vorstellung von der Moderne als einer Epoche mit einem fest umrissenen, besonderen Profil heranbildete, ein letzter Schritt, der die Idee einer Postmoderne erneut und nunmehr mit besonderem Nachdruck auf den Plan rief. Die Diskussion, die sich an ihm entzündete, war wesentlich dadurch gekennzeichnet, daß man nun nicht mehr nur gegenüber den Vorstellungen auf Abstand ging, mit denen der Begriff der Moderne als Epochenbegriff dogmatisch gefüllt worden war, sondern auch gegenüber den Mitteln, mit denen der programmatische Modernismus solche dogmatische Verfestigung wieder aufzulösen pflegte.
Und in der Tat: wen sollte es nach einem Jahrhundert moderner Kunst und Literatur noch hinter dem Ofen hervorlocken, wen provozieren oder animieren, beunruhigen oder beflügeln, wenn es zum x-ten Mal gegen den „Bann der Überlieferung“ geht und „Autoritäten“ ausgehebelt, „Konventionen“ aufgebrochen und „Formen gesprengt“ werden! Nichts klingt in den Ohren der Zeitgenossen vertrauter als dies, an nichts hat man sich so gründlich gewöhnen können. Insofern ist inzwischen nichts so wohlfeil, nichts weniger originell und riskant, als den programmatischen Modernismus der „Ersten Moderne“ noch einmal aufs Tapet zu bringen. Mit der Tradition zu brechen ist zu einem Ritual geworden, hat selbst die Gestalt einer Tradition angenommen, die eines Traditionsbruchs würdig wäre.
Botho Strauß: „Die Fehler des Kopisten“So lautet jedenfalls die Diagnose, die Botho Strauß (geb. 1944) in „Die Fehler des Kopisten“ (1997) der Kultur der Gegenwart stellt. Strauß gehört zu den Autoren, die besonders gerne genannt worden sind, wo man nach deutschen Beispielen für eine postmoderne Literatur suchte. Bei „Die Fehler des Kopisten“ handelt es sich um ein zeitdiagnostisches Journal, das irgendwo zwischen Autobiographie, Essay und Prosagedicht angesiedelt ist, eine Form, wie man sie auch von Peter Handke (geb. 1942), etwa von dessen „Journal“ „Das Gewicht der Welt“ (1977) her kennt. Für Strauß ist das Brechen mit Traditionen und Sprengen von Formen in den Händen der Zweiten Moderne zu einem „Schredder“ geworden, in dem alles, was an neuen Möglichkeiten erprobt wird, sogleich wieder verschrottet wird, so daß sich kein künstlerischer Impuls mehr entfalten und kein Projekt mehr reifen kann. Anders als in der „klassischen Moderne“ bezeichnet es in der Zweiten Moderne keine „ästhetische Revolution“ mehr, nurmehr noch „den Ersatz einer eintönigen, sich immer wieder auffrischenden Pubertät der Kunst“. Aus dem „Reich der Jugend“, das Nietzsche gefordert hatte, ist „Jugendlichkeit als Zwangskultur“ geworden.
Tanz auf den Deponien der verbrauchten, weggeworfenen Güter, Anbetung von shredder-Türmen, nichts wird schneller historisch als Jugendzeiten in der Kunst. Die Nachkriegsperiode wird einmal als die Epoche in die Geschichte eingehen, die zwar die ewige Jugend nicht, dafür aber die ewige Jugendlichkeit als Zwangskultur erfand. Undenkbar, daß in ihr, wie in der klassischen Moderne, ein Künstler seinen Weg (wie T. S. Eliot) von Waste Land zu Four Quartets, (wie Igor Strawinsky) vom Sacre zu Apollon Musagète hätte nehmen können. Das Neuklassische im Wandel eines Werks, das man gegen die wilden Anfänge gerne herabsetzt … und doch sieht man daran, wie sich ein Künstler bewegt und bewegen muß, sobald sein schöpferischer Spielraum die Kunstgeschichte wird und er seine Jugend nicht konservieren will. Es ist der natürliche Weg – wir haben es vergessen in einer Periode, die keine ästhetische Revolution kannte, wie es die Moderne war, sondern nur den Ersatz einer eintönigen, sich immer wieder auffrischenden Pubertät der Kunst. Sie behindert den Wandel durch Kunstgeschichte und erschwert es dem späten Werk, seren (heiter) und unberechenbar zu werden.
Das im Alter zunehmende Individuum wird in einer überalterten Gesellschaft eher eine Seltenheit sein. Ein perverser Konservativismus hält darauf, daß den Achtzigjährigen unverändert dasselbe bewegt wie den Fünfunddreißigjährigen.36
Von solchen Beobachtungen und Überlegungen aus entwickelt Strauß selbst wieder Sympathie für das Epigonentum, das die Bête noir der ersten Modernen war, für jene Haltung, in der die alten Römer dem Vorbild der Griechen folgten.
Wieviel mehr die Alten wußten und vermochten! (Und die Alten sind für uns die Heroen des beginnenden Zwanzigsten Jahrhunderts.) Diese empfindliche Achtung für die Überlegenheit der ‚Klassiker‘, wie sie in ‚römischen‘ Perioden immer wieder die Nachgeborenen ankam, scheint heute gänzlich verschwunden. Jeder hält sich für eigenartig und souverän genug, um von den Alten nur zu nehmen, was er für gewisse ironische Zwecke gebrauchen kann. (…) Seit Hitler, seit der Ära der „Bewältigungsproblematik“ sind katachronistische (unhistorische) Überheblichkeit oder Nonchalance beinahe das einzige Talent, mit dem der Gegenwartskünstler der Geschichte begegnet. Wie man aber aus unserer Zeit auf eine frühere herabschauen kann, das möchte mir einer begreiflich machen. Auch darin zeigt sich das Konservative einer Epoche der Jugendlichkeit, die zur Ideologie erstarrte.37
So bestreitet Strauß schließlich sogar, daß es sich bei dem Prozeß der Modernisierung wirklich um einen Prozeß, um einen „Strom“ und nicht bloß um eine Ansammlung von „Pfützen“ und „Lachen“ handeln würde. Eine Dynamik, die die Jugend nicht mehr erwachsen werden und kein Projekt mehr reifen läßt, die jeden Ansatz zu einer künstlerischen Entwicklung sogleich wieder dem Schredder der Aktualität überantwortet, ist keine, ist in Wahrheit „rasender Stillstand“ (Paul Virilio), „Kristallisation“ (Arnold Gehlen).
Angenommen gegen alle vorherrschenden Eindrücke, die moderne Welt sei eine übertrieben langanhaltende und träge Periode, eine eher statische Zeit, wo ein dichtes und doch begrenztes Spiel mit wechselnden Motiven immer weiter gespielt und nie durch ein wesentlich anderes ersetzt wird … seit hundert Jahren die gleichen Reflexionen der Befindlichkeit, noch mal Philister, Reichtum und ennui und immer noch die Gebote der Immoral nach Göttersturz, „nach Nietzsche“ ein volles Jahrhundert lang … dann tritt auf einmal das Dilatorische, das erweiterte Warten, der Aufschub in allem als das tiefere Zeitmaß hervor aus den vordergründigen Beschleunigungen.
Komödie des Epochenschwindels. Als habe sich etwas geändert. Als säßen wir nicht ein wie eh und je in unserer historischen Ausnüchterungszelle. Als würden wir nicht als hinfällige Agnostiker, Greise der Unreife und der Ratlosigkeit das Jahrtausend wechseln.
Das Geistige scheint wie die Pfütze auf den Schlammwegen, wenn die Sonne darauf fällt. Es wird sich aus den glänzenden Lachen kein Strom bilden.38
Diesem Zustand der „Kristallisation“ wird die Kunst nur entkommen können, wenn sie aus dem Bannkreis des Dogmatismus der Offenheit heraustritt und sich neuerlich Rechenschaft von der Bedeutung gibt, die Traditionen und Konventionen, Autoritäten, Dogmen und Formen für das kulturelle Leben haben, wenn sie erkennt, daß das schöpferische Leben ebensowohl auf Prozessen der Traditionsbildung wie auf der menschlichen Natur beruht, daß „life is tradition and human nature“.
Von solchen Überlegungen waren die ersten Modernen noch weit entfernt. Sie konnten ja auch noch nicht wissen, daß sich ihr programmatischer Modernismus einmal genauso zu einem „Bann der Überlieferung“ auswachsen würde wie Klassizismus, Romantizismus und Realismus, hatten noch nicht erleben müssen, wie sich Kunst und Literatur darüber in den „Konflikt der modernen Kultur“, die „Aporien des Avantgardismus“ (Hans Magnus Enzensberger) verstrickten. Für sie standen ganz andere Fragen im Vordergrund, vor allem die, ob es ihnen gelingen würde, eine Formensprache zu schaffen, die den Erwartungen an eine wahrhaft moderne Literatur genügen könnte.
3 Naturalismus und Symbolismus
Das poetologische Programm, das am Anfang des Wegs der deutschen Literatur in die Moderne steht, wird, wie wir gesehen haben, von einer neuen Generation von Autoren bereits mit großer Überzeugung verfochten, noch bevor sie Werke vorzuweisen haben, die als modern gelten könnten, die man jedenfalls aus heutiger Sicht modern nennen würde. Was sie mit solcher Entschiedenheit auf einen programmatischen Modernismus setzen ließ, war nicht nur das unabweisliche Gefühl, daß die alte Literatur, daß Realismus und Epigonendichtung abgewirtschaftet hätten und daß etwas Neues kommen müsse; es war auch der Blick über die Grenzen der deutschen Literatur hinaus, der Blick nach Frankreich, nach Paris. Denn da gab es bereits eine moderne Literatur, und es gab sie sogar schon in zwei Varianten, in Gestalt zweier Schulen, die jede auf ihre Weise einen programmatischen Modernismus praktizierten: der Schulen von Naturalismus und Symbolismus. Es waren sie, die den deutschen Autoren verbürgten, daß eine wahrhaft moderne Literatur möglich sei, und die ihnen eine Vorstellung davon vermittelten, wohin die Reise gehen würde.
Die Leitfigur des Naturalismus war Emile Zola (1840–1902). Zola war um 1880 mit einer Reihe von Programmschriften und Romanen hervorgetreten, mit denen er ebensowohl die theoretischen Grundlagen wie einige erste Beispiele für die Literatur der neuen Bewegung geschaffen hatte. Zugleich hatte er eine Reihe von jungen Autoren um sich geschart, die mit ihm für seine Ziele stritten. Diesem Kreis trat um 1885 ein zweiter an die Seite, dessen Mittelpunkt Stéphane Mallarmé (1842–1898) war. Hier setzte man vor allem auf die Ideen von Baudelaire, auf die Begriffe von moderner Kunst und die Formen von Symbolik, die dieser kultiviert hatte – die Schule des Symbolismus.
Die Aktivitäten der beiden Gruppierungen wurden in Deutschland von Anfang an aufmerksam verfolgt. Dabei begnügte man sich vielfach nicht mit der Lektüre der Schriften, die nach Deutschland gelangten; wer es genau wissen wollte, ging gleich selbst nach Paris, um die neue Kunst vor Ort zu studieren. So suchte etwa Michael Georg Conrad, den der Beruf des Journalisten 1878 nach Paris gebracht hatte, den Kontakt zu Zola und seinem Kreis. 1882 nach Deutschland zurückgekehrt, tat er dann alles, um seine Landsleute für die Ideen von Zola zu gewinnen, mit dem Ergebnis, daß sich bald schon ein erster Zirkel von deutschen Naturalisten um ihn bildete. Und so ging Stefan George 1889 nach Paris, um Mallarmé und seinen Kreis kennenzulernen. Und wie Conrad nicht nur die Konzepte des Naturalismus, sondern auch die Formen nach Deutschland mit zurückbrachte, in denen sich die neue Bewegung organisiert hatte, so brachte George ebensowohl die Ideen des Symbolismus wie das Modell des Mallarmé-Kreises mit nach Hause. Es dauerte nicht lange, bis sich um ihn jene Gruppierung formiert hatte, die als „George-Kreis“ in die Literaturgeschichte eingegangen ist. Wer nicht in Paris gewesen war, der tat wenigstens so, als unterhalte er enge Kontakte dorthin; so findet sich in „Die Kunst, ihr Wesen und ihre Gesetze“ (1891) von Arno Holz, einer vielberufenen Programmschrift des deutschen Naturalismus, ein langer, in französischer Sprache abgefaßter Offener Brief an Zola – eine Reaktion des Adressaten ist nicht bekannt.39
Paris als Zentrum der modernen KunstParis wird nun überhaupt zum wichtigsten Ziel von Künstlern und Literaten, um es ein gutes halbes Jahrhundert zu bleiben. Es löst damit Rom ab, dessen Besuch bis dahin ein Muß für jeden werdenden Künstler war. In Rom konnte man dem Erbe der Antike unmittelbar begegnen, und das galt bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, bis zu den letzten Nachzüglern im „Epigonenschweif der Antike“, als unabdingbare Voraussetzung für jede wahre Kunstübung. Goethe selbst hatte dies mit seiner „Italienischen Reise“ (1816–1829) noch einmal eindrucksvoll bezeugt und damit sein Teil dazu beigetragen, daß das Institut der „Grand Tour“, der Bildungsreise nach Italien, im 19. Jahrhundert eine letzte Blüte erlebte. Wer es sich leisten konnte, legte sich wie der „Dichterfürst“ Paul Heyse gleich eine Villa auf Capri zu. Auch Michael Georg Conrad hatte, bevor er nach Paris ging, sechs Jahre in Neapel gelebt; das Italienerlebnis trat bei ihm allerdings bald völlig hinter den Pariser Eindrücken zurück. Der unglückliche Verlauf des „Römischen Aufenthalts“ von Gerhart Hauptmann läßt besonders deutlich erkennen, daß am Ende des 19. Jahrhunderts ganz andere Erfahrungen not taten als die einer traditionellen Italienreise, Erfahrungen, wie man sie nicht in dem gesellschaftlich und ökonomisch rückständigen Italien, wie man sie nur an einem Brennpunkt des modernen Lebens machen konnte.
Ein solcher Brennpunkt war die große Stadt Paris, und sie war es mehr als jeder andere Ort in Europa. Zwar waren die moderne Demokratie, die technisch-industrielle Produktionsweise und der moderne Kapitalismus von England ausgegangen, und London war und blieb die größere Großstadt – Paris hatte 1881 2,3 Millionen, London 3,8 Millionen Einwohner – doch hatten sich die Kämpfe zwischen den Kräften des Fortschritts und den Mächten der Beharrung in Frankreich mit seinen vielen Revolutionen und seinem wiederholten Wechsel des politischen Systems auf dramatischere Weise gestaltet als in jedem anderen Land, und das heißt: in Formen, durch die Kunst und Literatur stärker in diese Kämpfe mit einbezogen und intensiver von den Problemen der Modernisierung erfaßt und durchdrungen wurden. So wurde Paris, die „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“ (Walter Benjamin), schließlich auch zum Schauplatz der Revolutionen, aus denen die moderne Kunst hervorging.
Das gilt für alle Künste, nicht nur für die Literatur, ganz besonders aber für die Bildende Kunst. Paris war der Ort, an dem 1874 mit einer spektakulären Ausstellung von Künstlern wie Edouard Manet (1832–1883), Paul Cézanne (1839–1906) und Claude Monet (1840–1926) der Siegeszug des Impressionismus begann, einer Schule der Malerei, die zur entscheidenden Station auf dem Weg der Kunst in die Moderne wurde. An ihrem Erfolg hatte übrigens auch Emile Zola, ein Schulfreund von Cézanne, seinen Anteil, hat er doch für die neue Malerei nicht weniger energisch gestritten als für die naturalistische Literatur. Und auch vieles von dem, was sich aus dem Impressionismus entwickelte, auch die Kunst des Fauvismus, Kubismus, Futurismus und Surrealismus verdankte sich wesentlich Entwicklungen in der Pariser Szene.
Einzig in der Musik war Paris nur ein Schauplatz neben anderen; hier war Wien als Standort der „Zweiten Wiener Schule“, der Schule von Arnold Schönberg (1874–1951), letztlich von größerer Bedeutung. Immerhin sah Paris mit der Uraufführung des „Sacre du Printemps“ (1913) von Igor Strawinsky (1882–1971) das Ereignis, das als der Durchbruch der Neuen Musik gilt. So mag Gertrude Stein Recht haben, wenn sie Paris zum „natürlichen Hintergrund der Kunst und Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts“ erklärt: „Paris was where the twentieth century was“.40
Faktoren der literarischen EntwicklungDer Blick auf die französischen Wurzeln von Naturalismus und Symbolismus macht uns sogleich auf einige Momente aufmerksam, die für das Verständnis der Entwicklung von besonderer Bedeutung sind und die wir uns nicht entgehen lassen wollen. 1. Die moderne Literatur ist ein Kind der modernen Großstadt, ist eine Pflanze, die nur in dem Biotop der modernen großstädtischen Lebenswelt hat aufkommen und gedeihen können. 2. Sowohl ihre ersten Anfänge als auch viele weitere Entwicklungsschritte sind mit der Bildung kleiner und kleinster Zirkel von Gleichgesinnten verknüpft, die sich als Avantgarden, als Vorhut und Motor der Entwicklung verstehen und deren Mitglieder als Gruppe auftreten und in engstem Austausch zu Werke gehen. So überschaubar diese Gruppen auch sein und so elitär und esoterisch sie sich geben mögen – sie sind 3. von Anfang an über die Grenzen der Kulturräume hinweg vernetzt und verstehen sich 4. auf die Kunst, auf die Öffentlichkeit einzuwirken und ein breites Publikum zu beeindrucken und zu beschäftigen.
Und 5. zeigt der Blick nach Paris, daß der Aufbruch in die Moderne nicht das Werk einer einzigen, mehr oder weniger homogenen literarischen Bewegung ist, daß hier gleich zwei Gruppierungen am Start sind, zwei Schulen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten und die sich in einem von Kontroversen geprägten Neben- und Gegeneinander entfalten. Der Schritt in die Moderne ist ein Schritt in den Pluralismus, in eine Diversität der Interessen und Formensprachen, die es nicht mehr erlaubt, von einem einheitlichen Epochenstil zu sprechen. Dem allem sei nun im einzelnen nachgegangen.
3.1 Literatur und Großstadt
Wir sind aus Riesenstädten, in der City, nur in ihr, schwärmen und klagen die Musen. (GBP 465)
Die moderne Kunst ist die Kunst der modernen Großstadt. Wie sich ihre ersten Anfänge der urbanen Kultur der großen Stadt Paris verdanken, so hat sie sich von Metropole zu Metropole fortgepflanzt. Im deutschen Sprachraum sind es zunächst die großstädtischen Zentren Berlin, München und Wien, in denen sie Fuß faßt, später auch nicht ganz so große Großstädte wie Dresden, Düsseldorf und Köln, Frankfurt und Zürich. Die Zeit, in der Provinzstädte, kleine Residenzen und Universitätsstädte wie Weimar, Jena und Heidelberg den Ton in Sachen Literatur angeben konnten wie noch in der Goethezeit, scheint ein für allemal vorbei.
Es gibt allerdings eine Ausnahme: das Bauhaus,41 jenes Zwischending zwischen Kunstgewerbeschule und Kunstakademie, das so ungemein bedeutsam für die Bildende Kunst, insbesondere für die Architektur und das Design der Moderne geworden ist; es ist zunächst in Weimar, später in Dessau angesiedelt. Und natürlich werden kleine Landstädte wie Céret in Südfrankreich und Murnau in Bayern immer einmal wieder zum Schauplatz der Sommerfrische von Künstlern, und damit zeitweilig zu Zentren des künstlerischen Lebens, doch ist ihre Bedeutung nur selten über die einer Dependance bestimmter großstädtischer Avantgardezirkel hinausgewachsen.
Zur Geschichte des Verhältnisses von Literatur und GroßstadtNun sind Kunst und Literatur eigentlich immer schon in den großen Städten zuhause gewesen, schon in der Antike. Hier kommt am ehesten die kritische Masse von Wissen und Können zusammen, finden sich am ehesten die Talentschmieden, die Netzwerke, die Märkte und das Publikum, deren es bedarf, um eine Kunst von Rang entstehen zu lassen. So war die größte Stadt des antiken Griechenland, Athen, zugleich der wichtigste Standort seiner Kunst und Literatur. Ähnliches gilt von Alexandria und der Literatur des Hellenismus, von Rom und der Kunst der alten Römer und von dem „neuen Rom“ Konstantinopel und der byzantinischen Kunst. Überall hier war die größte Stadt zugleich der wichtigste Schauplatz des künstlerisch-literarischen Lebens.
Das änderte sich allerdings im Übergang von der Antike zum Mittelalter. Denn im gesamten Mittelalter und bis weit in die Frühe Neuzeit hinein gab es im europäischen Kulturraum keine Stadt vom Format des antiken Rom mehr – Rom selbst war von einer Millionenstadt auf weniger als 50.000 Seelen geschrumpft – und so mußten nun die großen Fürstenhöfe, später auch die eine oder andere Universitätsstadt und mittelgroße Stadtrepublik der Kunst die Metropole als Standort und Lebensraum ersetzen. Als aber die Modernisierung die europäischen Städte wieder in die Dimension von „Riesenstädten“ hineinwachsen ließ, kehrten Kunst und Literatur mit aller Selbstverständlichkeit in sie zurück – eine Entwicklung, die nicht vor dem 18. Jahrhundert begann und die zunächst auch nur London und Paris betraf, die beiden Städte, die bis 1800 immerhin schon die Größe von 960.000 bzw. 650.000 Einwohnern erreichten.
Diese Rückkehr in die Großstadt ist freilich zunächst nur eine äußerliche, eine Rückkehr nur mit dem Körper des künstlerisch-literarischen Lebens, nicht auch mit dessen Seele. Denn mit der Seele suchten Kunst und Literatur im 18. Jahrhundert die Natur; nur da meinten sie noch des Wahren-Guten-Schönen habhaft werden zu können, wie es nach wie vor ihr oberstes Ziel war. In der großen Stadt erblickten sie einen Raum der Naturferne, ja den Ort, an dem sich der Mensch weiter von der Natur entfernt hätte als irgendwo sonst, einen Raum mehr oder weniger vollkommener Unnatur, und das hieß für sie: einen Ort, an dem sich Lüge, moralische Verkommenheit und Häßlichkeit breitmachen können. So schien sie durchaus kein guter Boden für eine Kunst des Wahren-Guten-Schönen zu sein, schien sie allenfalls als negatives Gegenbild zur „freien Natur“ zu taugen. Als typisch mag hier ein Autor des 18. Jahrhunderts wie Rousseau gelten. Zwar war es die urbane Literaturszene von Paris, in der er seine Karriere als Autor startete und von wo die Erfolgsgeschichte seiner Werke ausging, doch hat er in diesen Werken ein Bild von der großen Stadt Paris gezeichnet, in dem er sie zum Inbegriff unnatürlicher, „entfremdeter“ Verhältnisse, ja zu einem absoluten Tiefpunkt in der Geschichte der Zivilisation stilisierte.