- -
- 100%
- +
Doch Jesus lässt sich von diesem wahren und schönen Bekenntnis nicht ins Bockshorn jagen. Unreines wird nicht rein und Böses wird nicht gut, dass es die Wahrheit weiß. Das zieht bei dem Heiligen Gottes nicht. Jesus fuhr den unreinen Geist an und sagte: »Verstumme und geh heraus aus ihm!« Verhandelt wird nicht, nicht mal ein bisschen, und schon gar kein Kompromiss geschlossen. Jesus fährt dem Unhold sofort in die Parade und befiehlt ihm, auf Deutsch gesagt: Halt die Klappe und zieh Leine!
Da half dem unreinen Geist alles nichts. Er verließ den Menschen, wobei er ihn hin und her zerrte, sich in jeder Beziehung von ihm losreißen musste und entsetzlich schrie wie einer, dem die Wohnung samt Hab und Gut genommen ist und sogar die Sprechmöglichkeit. Und das war es dann. So verfährt der Träger des heiligen Geistes mit bösen Geistern. In seiner Nähe halten sie es nicht aus. Da wird nicht diskutiert. Da wird nicht gerungen. Da wogt der Kampf nicht hin und her, sondern da wird befohlen, und da werden Befehle ausgeführt. Ein Machtwort, und der unreine Geist nimmt schreiend Reißaus.
Von dem entgeisterten Menschen wird uns nichts berichtet. Nur noch von der Reaktion der anderen. Und sie erschraken alle zusammen, so dass sie miteinander disputieren. Den Erschrockenen blieben nicht die Worte im Hals stecken wie dem bösen Geist. Sie wurden gesprächig. »Was ist dies?«, fragten sie. »Eine neue Lehre in Vollmacht!«, sagten sie. »Den unreinen Geistern befiehlt er, und sie gehorchen ihm!«, stellten sie fest. So lehrte Jesus von Nazareth in der Synagoge zu Kapharnaum in Vollmacht, anders, ganz anders als ihre Schriftgelehrten. Und die Kunde von ihm ging aus sogleich überallhin in das ganze Umland Galiläas. Das blieb nicht geheim. Die Kunde von ihm sprach sich herum. Nicht nur im Land, sondern über die Landesgrenzen hinaus.
Während die Kunde von Jesus in die Lande ausging, ging auch Jesus mit seinen Jüngern aus Kapharnaums Synagoge hinaus. Erst jetzt wird erwähnt, dass sie dabei waren. Sie waren freilich nur dabei, wortlos und tatenlos, als Jesus gelehrt hatte. Danach fand ein Ortswechsel statt – vom Gemeindehaus ins Wohnhaus, aus der Öffentlichkeit ins Private, ins Haus von Simon und Andreas. Jakobus und Johannes gingen mit. Doch auch in diesem Haus stand es nicht zum Besten. Simons Schwiegermutter lag mit Fieber im Bett. Warum und wieso? Wir erhalten keine Auskunft. Ganz nebenbei erfahren wir, dass Simon verheiratet war (vgl. 1 Kor 9, 5). Seine Frau jedoch wird nicht eigens erwähnt. Nichts wird erwähnt außer der Kranken in seinem Haus. Die Jünger haben keine Scheu. Sogleich sagen sie ihm von ihr. Sie schildern ihm kurz und knapp die Lage. Das genügt.
Nachdem er herzu getreten und die Hand ergriffen hatte, richtete er sie auf. Etwas Besonderes geschieht nicht. Jesus tritt herzu, wie man an ein Krankenbett tritt, die Hand des Kranken ergreift und ihn, wenn er will, ein wenig aufrichtet. So oder so ähnlich hat es jeder bei einem Krankenbesuch bestimmt schon einmal getan. Hier geschieht es ebenso, aber auch anders. Da er herzu trat, ihre Hand ergriff und sie aufrichtete – verließ sie das Fieber. Dabei sprach er kein Wort, keinen Zauberspruch, wie es in der Antike bei der Bekämpfung des Fiebers üblich war. Wie sein Kommen in die Synagoge zuvor des unreinen Geistes Verschwinden war, so ist hier sein Kommen, sein Reichen der Hand, sein Aufrichten der Kranken des Fiebers Gehen. Dann stand die Frau selber auf und begann – als wäre sie nicht krank gewesen und als müsste sie nicht noch ein wenig ruhen – ihnen zu dienen, das heißt, sie zu bewirten. Nicht nur ihren Wohltäter, sondern sie alle im Haus. So demonstrierte sie ihnen, dass sie genesen war. Ihr Tun am Sabbat – dankbarer Dienst.
Wie Jesus diese Frau geheilt hat oder zu heilen vermochte, wird nicht erzählt. Dass er in Vollmacht lehrte, in Vollmacht handelte, ist auch hier die einzige Erklärung, die uns gegeben wird.
Am Abend aber, als die Sonne unterging, brachten sie zu ihm all die Kranken und die Besessenen. Die ganze Stadt war da versammelt vor der Tür. – Nicht nur über die Landesgrenzen hinaus, sondern auch in Kapharnaum selbst hatte sich die Kunde des Nazareners, von seiner Art, Menschen mit Vollmacht zu lehren, wie ein Lauffeuer ausgebreitet. Als der Sabbat vorüber war, am Abend, als die Sonne unterging, hob die Geschäftigkeit in der Stadt wieder an. Anders als sonst. Da brachten sie all die Kranken und die Besessenen, das heißt die mit Bosheit Geschlagenen oder mit Bösem sich Plagenden, zu ihm. Auf Tragen oder an der Hand, notdürftig gesichert oder nicht gesichert, wie auch immer. Die ganze Stadt war da auf den Beinen und versammelt vor der Tür, wo Jesus eingekehrt war.
Und er heilte viele Kranke mit verschiedenen Krankheiten und trieb viele Dämonen aus. Doch den Dämonen gestattete er nicht zu reden, denn sie kannten ihn. Jesus ließ nicht lange auf sich warten. Er kam vor die Tür und half den Menschen vor Einbruch der Dunkelheit in der Kraft des Geistes, die mit ihm war, so dass Kranke gesund und Besessene ihre Plagegeister loswurden. Wie das im Einzelnen aussah, ist der Fantasie des Lesers überlassen. Dem Evangelisten kommt es auf etwas anderes an. Darauf, dass Jesus viele Kranke heilte, nicht nur eine oder einen, und dass er mit verschiedenen Krankheiten fertig wurde, nicht nur mit einer oder einigen. Ferner, dass er viele Dämonen austrieb. Viele heißt viele, aber nicht alle. An jenem Abend heilte Jesus viele, aber nicht alle Kranken von all ihren Krankheiten und Gebrechen. Er schlug viele, aber nicht alle Dämonen samt ihren Dämonien aus dem Feld. Viele von jenen, die da erwartungsvoll Simons Haus in Kapharnaum belagerten, werden erleichtert, viele möglicherweise auch enttäuscht gewesen sein, dass Jesus, ein Mann mit diesen Fähigkeiten, nicht zu ihnen oder den Ihrigen gekommen war an diesem Abend. Noch ist nicht aller Tage Abend.
Statt dies näher zu erklären, wird noch erzählt, dass Jesus den Dämonen Redeverbot erteilte. »Ich weiß, wer du bist, der Heilige Gottes!« Mit diesen Worten hatte der böse Geist am Morgen in der Synagoge Jesus aufzuhalten versucht, gegen ihn vorzugehen. Denn wer seinen Namen kennt, den kann er nicht vernichten, ohne sich in Selbstwidersprüche zu verwickeln. Den muss er gewähren lassen, ja ihn retten und schützen (vgl. Ps 91,14–16)! Doch da hatte der schriftgelehrte böse Geist die Rechnung ohne den Heiligen Gottes gemacht. Der verschloss ihm das Maul und trieb ihn samt seinen Flausen mit einem Machtwort aus dem Menschen hinaus.
An unserer Stelle ist es nun ein wenig anders. Jesus möchte nicht, dass die Dämonen ihn bekannt machen. Denn sie kennen ihn. Sie wissen, wer er ist. Sie schreien auf, wenn er kommt, und bangen um ihr Leben. Doch ihr Wissen um ihn, das sie, sobald sie es mit ihm zu tun bekommen, herausschreien (vgl. auch Mk 3,11 f), soll ihnen im Hals stecken bleiben. Sie sollen niemand damit kommen. Weshalb? Könnte es die Menschen nur verwirren, sie nur in Angst und Schrecken versetzen, sie aber nie und nimmer befreien? Würde es Jesus selbst auf seinem Weg im Wege stehen und ihn behindern? Wird nur einer ihn bekannt machen, wie er will, und wann er will, und wem er es entdecken will, aber kein Dämon, kein unreiner, kein unheiliger Geist? Es ist wohl so gemeint.
Dann brach die Nacht herein. Jesus beendete sein Tagewerk, und alles verlief sich. Die Menschen begaben sich nach Hause. Morgen ist auch noch ein Tag. Dass Jesus nachts wie alle anderen ruhte, wird vorausgesetzt, aber nicht erzählt.
Jesu Kommen in die Umgebung
von Kapharnaum
Markus 1, 35–45
35–38 Aufbruch am Morgen
39 Der Besuch der Lehrhäuser in Galiläa
40–45 Die Heilung des Aussätzigen
35 In der Frühe, als es noch völlig Nacht (war),
erhob er sich und ging aus,
und er ging hin an einen einsamen Ort
(und) begann dort zu beten.
36 Simon aber eilte ihm nach mit seinen Begleitern.
37 Und sie fanden ihn
und sagen zu ihm:
»Alle suchen dich!«
38 Da sagt er zu ihnen:
»Lasst uns anderswohin gehen,
in die angrenzenden Marktflecken,
damit ich auch dort verkündige.
Denn dazu bin ich ausgegangen.«
39 Und er kam,
verkündigend in ihren Synagogen in ganz Galiläa
und die Dämonen austreibend.
40 Da kommt zu ihm ein Aussätziger,
bittet ihn,
[fällt auf die Knie]
und sagt zu ihm:
»Wenn du willst,
kannst du mich reinigen.«
41 Und er erbarmte sich,
streckte seine Hand aus,
berührte (ihn)
und spricht zu ihm:
»Ich will,
werde rein!«
42 Und sogleich ging weg von ihm der Aussatz,
und er wurde rein
(2 Kön 5,14).
43 Doch er (Jesus) fuhr ihn an
und trieb ihn sogleich fort
44 und sagt zu ihm:
»Pass auf,
sage niemandem etwas,
sondern geh hin,
stelle dich selbst dem Priester vor
(Lev 13, 49; vgl. 13,1ff)
und bringe für deine Reinigung dar,
was Mose angeordnet hat
(vgl. 14,1ff),
zum Zeugnis ihnen!«
45 Der aber ging fort,
begann viel zu verkündigen
und die Sache auszubreiten,
so dass er (Jesus) nicht mehr öffentlich
in eine Stadt hineingehen konnte,
sondern sich außerhalb an einsamen Orten aufhielt.
Doch ständig kamen sie zu ihm von überallher.
In der Frühe, als es noch völlig Nacht war, erhob er sich und ging aus, und er ging hin an einen einsamen Ort und begann dort zu beten. Mit einer Überraschung beginnt der neue Tag. Jesus knüpft am Morgen nicht dort an, womit er zum Abend hin nicht fertig wurde. Vor Anbruch des Tages erhob er sich und war auf den Beinen, bevor sich der Platz vor Simons Haus wieder füllte. Vor allen anderen, auch vor seinen Jüngern war er aufgestanden, aber nicht, um die Hilfsbedürftigen zu erwarten und für ihr Kommen gerüstet zu sein. Er wartete ihr Kommen nicht ab, sondern begab sich an einen anderen, einen einsamen, einen menschenleeren Ort (vgl. Mk 1, 45; 6, 31f.35) und begann dort zu beten. Ein merkwürdiger Wundertäter. An einem einsamen Ort einsam und allein im Finstern betend, zu beten beginnend – dazu war er aufgestanden und ausgegangen, dorthin unterwegs.6
Simon aber eilte ihm nach mit seinen Begleitern. Und sie fanden ihn und sagen zu ihm: »Alle suchen dich!« Als Simon aufsteht, ist Jesus fort. Wo ist er geblieben? Mit seinen Begleitern, gemeint sind wohl Andreas, Jakobus und Johannes, schwärmt Simon aus. Sie finden ihn, finden ihn in der Einsamkeit. »Alle suchen dich«, sagen sie erstaunt und nicht ohne Vorwurf. Hätte Jesus ihnen nicht Bescheid sagen, ihnen einen Zettel hinterlegen können? Auf die Suche mussten sie sich nach ihm begeben und ihm nacheilen. War das nötig? Die Bedürftigen in Kapharnaum erwarten ihn bereits, und mit Recht, hatte er vor nicht zu langer Zeit doch sehnsüchtigste Erwartungen in ihnen geweckt. Was sollen die von ihm halten? Was sollen sie selbst von ihm halten? Alle suchen ihn! Zum Glück haben sie ihn gefunden. Sie können gehen.
Da sagt er zu ihnen: »Lasst uns anderswohin gehen, in die angrenzenden Marktflecken, damit ich auch dort verkündige. Denn dazu bin ich ausgegangen.« Jesus will nicht zurückgehen, er muss weiter, weiter in die Orte der näheren Umgebung, damit er auch dort verkündige. Dieses Werk, nicht jenes, möchte er bei Tagesanbruch wieder aufnehmen und fortsetzen: die Verkündigung der Gottesherrschaft. Nicht ihr Gekommensein, sondern ihr Kommen, ihre Nähe, ihr sich Nahen, von der die Menschen in der Nachbarschaft Kapharnaums und darüber hinaus ebenfalls erfahren sollen. Und das geht vor. Dazu war er in aller Frühe ausgegangen. Um ihr Kommen hatte er da wohl – einsam und allein, als es noch Nacht war – gebetet.
Die Jünger widersprechen nicht. Keiner von ihnen eilt zurück und sagt den vor Simons Haus Wartenden, sie würden hier und jetzt vergeblich auf ihren Wundertäter warten. Sie werden es merken. Sie werden sich in Geduld fassen müssen. Nicht einsam und allein. So werden sie mit ihm warten und um das Kommen der alles mit Heil erfüllenden Herrschaft Gottes, die sich ihnen so vielversprechend genaht, bitten müssen, aber auch bitten dürfen wie er. Jesus ließ die in Kapharnaum auf ihn Wartenden also nicht links liegen, wie sie, wie die Jünger und wie wir selber meinen könnten, sondern lehrte sie auch so – in Vollmacht. Nicht rücksichtslos, wirklich nicht, aber ohne zurückzusehen, setzte er seine Absicht ins Werk. Und seine Jünger gingen wortlos mit ihm mit.
Der Mensch Gottes ist sowohl der Künder als auch die Verkündigung der kommenden, der alles, wirklich alles mit Heil erfüllenden Herrschaft Gottes. Mit seinem Kommen haben wir die Hilfe, die wir nötig haben, nicht hinter, sondern, wenn auch vorläufig, bereits vor der Tür – und zwar vor dem Einbruch der Dunkelheit, vor dem Kommen der Nacht und selbst der letzten Nacht. Wenn wir von seinen Taten hören, uns über ihn freuen, ihn erwarten, sind wir aber auch dann nicht einsam und allein, wenn wir seine Hilfe einmal vermissen, vielleicht sehr schmerzlich vermissen müssen. Es hat keinen Sinn, sich darüber aufzuregen oder das ungerecht zu finden oder sich selbst zu bemitleiden. Da macht er uns das andere klar: an einem solchen Ort oder in einer solchen Lage hat auch er gewartet, einsam, wachend, betend, lange bevor wir aufgestanden sind. Und da wartet er, dass wir ihn suchen – nicht uns selbst zuerst und zuletzt – und mit ihm Wartende oder vielleicht auch einmal für ihn Wartende der nahegekommenen Herrschaft Gottes werden und um deren Kommen bitten. Und sofern wir seine Jünger sind, auch zu anderen Menschen anderswohin mit ihm mitgehen.
Und er kam, verkündigend in ihren Synagogen in ganz Galiläa und die Dämonen austreibend. Die Ausführung seiner Absicht, das Kommen der Herrschaft Gottes – und nicht das Kommen der Hilfsbedürftigen! – auch in Kapharnaums Umgebung zu verkünden, wird uns nicht als Jesu Gehen, sondern betont als Jesu Kommen erzählt. Jesus ist der Künder als auch die Verkündigung dieses Kommens, des Wartens und Bittens darum inbegriffen. Auf dieselbe Weise ging er später auch in die Umgebungen der Umgebung Kapharnaums aus: er kam, verkündigend in ihren Synagogen in ganz Galiläa. Ihre Lehrund Bethäuser suchte er da fleißig auf im Land und trieb die Dämonen aus. Dass sich böse Geister dort mit Vorliebe ein Stelldichein gaben, ist nicht gesagt. Gesagt ist nur, dass sie in ihren gottesdienstlichen Versammlungen, gerade dort nichts zu suchen und nichts verloren haben sollten.
Aussatz, auch Lepra genannt, ist eine Erkrankung der Haut.7 Da bilden sich Flecken, Knoten, Geschwüre, insbesondere an Armen und Beinen sowie im Gesicht, die zur Zerstörung der Haut, der Nerven, selbst der Muskeln und Knochen führen können, je nachdem wie der Erreger der Lepra, ein Bakterium, sich ausbreitet. Wird die Haut verletzt, können leicht weitere Infektionen dazukommen. Die Krankheit ist ansteckend und galt früher als nahezu unheilbar. Von Aussatz befallene Menschen wurden nicht selten von den anderen abgesondert. In Israel galten sie als unrein, das heißt, als aus der Gemeinschaft Auszuschließende. Es war ihnen verboten, sich den Gesunden zu nahen, geschweige sie anzurühren, solange sie nicht genesen waren.
Die Wundergeschichten im Markusevangelium fingen bisher damit an, dass Jesus irgendwohin kam und dort etwas tat.8 So auch hier (vgl. 1, 39). Ein Novum aber ist es nun, dass man Jesus nicht auf jemand aufmerksam macht (vgl. 1, 30) oder die Bedürftigen zu ihm bringt (vgl. 1, 32), sondern dass ein Mensch von selber und selbstständig zu ihm kommt. Über den Ort, die Zeit und die Umstände seines Kommens erfahren wir nichts. Von Jesus und seinem Wirken wird er gehört haben. Auch über ihn selbst erfahren wir nichts. Genauere Angaben zur Art und Schwere seiner Erkrankung werden nicht gemacht. Da kommt einer, gezeichnet von und bezeichnet mit seiner Krankheit, ein Aussätziger, ein unreiner Mensch.
Wie ist es möglich, dass so einer zu Jesus kommen kann und kommt? Der Mann tut etwas Verbotenes. Er überschreitet ein strenges Verbot, indem er sich Jesus naht. Und der weist ihn nicht etwa zurück, sondern lässt ihn gewähren.
Was will der Mann? Er kommt mit einer Bitte. Er selbst ist ganz und gar Bitte, reine Bitte, er fällt auf die Knie und sagt zu ihm: »Wenn du willst, kannst du mich reinigen.« Merkwürdig, er sagt nicht, ich möchte gern wieder gesund sein, Jesus, wenn du kannst, hilf mir bitte. Nein, er ist sich sicher, dass sein Gegenüber ihn heilen kann, und zwar ohne die geringsten Schwierigkeiten, wie eigentlich nur Gott Menschen von ihrem Aussatz reinigen und Tote lebendig machen kann (vgl. 2 Kön 5, 7; Röm 4,17). Es hängt lediglich an seinem Wollen. Der Mann verlangt nicht, dass Jesus es wollen sollte oder wollen müsste, wie er selber will, und besteht auch nicht darauf: ›Wenn du willst, kannst du mich reinigen. Unter der Bedingung, dass du es willst, von dir aus und aus freien Stücken, kannst du es. Deinem Wollen steht nichts im Weg, was du willst, wird zur Tat. Wenn du willst, kannst du mich rein machen.‹
Und er erbarmte sich, streckte seine Hand aus, berührte ihn und spricht zu ihm: »Ich will, werde rein!« Und sogleich ging weg von ihm der Aussatz, und er wurde rein. Auch Jesus überschreitet eine Grenze. Er streckt seine Hand aus und berührt den Unberührbaren, sucht direkten Kontakt zu ihm und bekundet ihm sein Wollen: »Ich will.« Sein Erbarmen ist sein Wollen und sein Wollen sein Erbarmen. Ihm folgt das Tun und sein Befehl: »Werde rein!« Darauf wird die Wirkung seines Befehls in doppelter Hinsicht beschrieben: gleich ging der Aussatz fort von ihm, und der Mensch wurde rein. Nicht nur die Krankheit verschwand, auch der Mensch wurde etwas, er wurde, seiner Bitte gemäß, (ein) reiner Mensch.
An dieser Stelle nimmt die Geschichte eine erstaunliche Wendung. Denn Jesus fuhr ihn an und trieb ihn sogleich fort und sagt zu ihm: »Pass auf, sage niemandem etwas, sondern geh hin, stelle dich selbst dem Priester vor und bringe für deine Reinigung dar, was Mose angeordnet hat, zum Zeugnis ihnen!« Noch bevor der Geheilte irgendetwas wollen, tun oder sagen kann, fährt Jesus ihn hart an. Man kann das Wort, das hier mit anfahren wiedergegeben wird, auch mit anschnauben, seinen Unwillen äußern oder vergattern übersetzen (vgl. Mk 14, 5). Jesus will nun auch etwas von ihm, woran er sich unbedingt halten soll. Er soll niemand berichten, was ihm widerfuhr. Der Grund wird ihm nicht genannt – außer dass Jesus es will. Er soll gehen und sich stumm dem Priester vorstellen, der ihn nach den Vorschriften begutachten und danach das Reinigungszeremoniell an ihm vollziehen soll, wie es im Gesetz vorgesehen ist. Man soll seine Heilung amtlicherseits zur Kenntnis nehmen und alles Weitere veranlassen, damit er sich unter den Menschen frei bewegen und ein normales Leben führen könne, aber nicht mehr. – Mit diesen Worten trieb er ihn davon, wie wenn er mit ihm und seiner Heilung nicht in Zusammenhang gebracht werden wollte.
In antiken Zauberpapyri begegnen uns ebenfalls Geheimhaltungsgebote, etwa wo ein Zauberspruch nicht weitergegeben bzw. nicht um seine Wirkung gebracht werden sollte. Der Eingeweihte musste sogar einen Eid ablegen, von den Formeln, deren Ohrenzeuge er werden würde, nichts verlauten zu lassen. Nur bei Miteingeweihten, sofern sie als verlässlich erschienen, sollten Ausnahmen von der Regel möglich sein. In Sagen und Märchen spielt das Motiv übrigens auch eine Rolle.
Anders hier. Jesus will nicht, dass der von seiner Krankheit geheilte Mensch bekannt macht, wer er ihm geholfen habe. Er soll es für sich behalten und keinen Wirbel darum machen. Doch da hatte Jesus sich in ihm wohl getäuscht. Der tat, was er immer tat und auch am Anfang unserer Geschichte getan hatte: ein Gebot übertreten. Der Mensch, auch der reine Mensch, ist eben der Mensch. Was er tun soll, tut er nicht, oder er tut es bloß teilweise, aber was er nicht tun soll, das tut er. Es war zu keiner Zeit anders. Der Mensch ging fort, begann viel zu verkündigen und die Sache auszubreiten, so dass Jesus nicht mehr öffentlich in eine Stadt hineingehen konnte, sondern sich außerhalb an einsamen Orten aufhielt. Doch ständig kamen sie zu ihm von überallher. Der reingewordene Mensch geht, wie ihm geheißen. So weit, so gut. Doch schon seine Selbstvorstellung beim Priester und das darauf an ihm zu vollziehende Zeremoniell samt Dankopfer fallen aus. Stattdessen breitet er die Sache aus, nicht wenig, sondern viel, und bringt seinen Helfer damit in Schwierigkeiten. Der kann sich nirgends mehr öffentlich blicken lassen, ohne von Menschenscharen belagert zu werden. Selbst außerhalb der Ortschaften an einsamen Orten ist er vor ihnen nicht mehr sicher. Ständig stöbern sie ihn auf, ständig kommen sie zu ihm von überallher.
Nirgendwo steht geschrieben, dass Jesus sich darüber beklagt oder dass es ihm leidgetan hätte, jenen windigen Burschen geheilt zu haben. Er nahm es hin und machte seine Heilung nicht etwa rückgängig. Auch den Mund verschloss er ihm nicht, wie er den unreinen Geistern in Kapharnaum das Mundwerk verschlossen hatte (vgl. 1, 25f.34). Er ließ ihn gewähren und trug ohne ein Wort des Zorns oder der Bitterkeit die Konsequenzen seines Tuns. Auch der reine Mensch ist eben der Mensch. Man kann sich auf ihn nicht verlassen. Man könnte Jesus allenfalls vorhalten, dass er es hätte wissen müssen. Aber wahrscheinlich wollte er, dessen Wollen sein Erbarmen und dessen Erbarmen sein Wollen ist, nicht einmal das.
6 Dass Jesus hinging, um zu beten, berichtet Markus dreimal. Hier an unserer Stelle, nach der Speisung der Fünftausend, als er seine Jünger drängte, ohne ihn an das andere Ufer vorauszufahren (6, 45ff), und im Garten Gethsemane dreifach (14, 32ff).
7 Manchmal wurden auch andere Hautkrankheiten mit diesem Namen versehen.
8 Genauso verhält es sich auch sonst: Mk 1, 7.9 (Ankündigung seines Kommens und Jesu Kommen zur Taufe) und 1,14 (Jesu Verkündigung in Galiläa). Bei der Berufung der Jünger 1,16.19 heißt es: Jesus sah sie, als er vorüber- bzw. ein wenig vorwärts- oder vorausging.
Rückkehr nach Kapharnaum
Markus 2,1–12
1–12 Die Heilung des Gelähmten
1 Als er nach Tagen wiederum nach Kapharnaum kam,
wurde bekannt,
dass er im Hause ist.
2 Und es versammelten sich viele,
so dass kein Platz mehr zu finden ist,
auch nicht vor der Tür,
und er begann ihnen das Wort zu sagen.
3 Da kommen sie
(und) bringen einen Gelähmten zu ihm,
getragen von vier (Leuten).
4 Doch weil sie ihn nicht zu ihm bringen konnten
wegen der Volksmenge,
deckten sie das Dach ab, wo er war,
und ließen, nachdem sie (es) aufgegraben hatten,
die Trage, auf der der Gelähmte lag, herab.
5 Als Jesus ihren Glauben sah,
sagt er zu dem Gelähmten:
»Kind,
deine Sünden werden erlassen!«
6 Es waren aber einige der Schriftgelehrten dort,
sitzend und erwägend in ihren Herzen:
7 »Was redet dieser so?«
»Er lästert!«
»Wer kann Sünden erlassen
außer der eine Gott?«
8 Doch Jesus durchschaute sogleich mit seinem Geist,
dass sie so bei sich erwägen,
und sagt zu ihnen:
»Wieso denkt ihr dies in euren Herzen?
9 Was ist leichter,
zu dem Gelähmten zu sagen,
›Deine Sünden werden erlassen‹,
oder zu sagen,
›Steh auf,
nimm auf deine Trage
und wandle‹?
10 Damit ihr aber wisst,
dass der Menschensohn Vollmacht hat,
Sünden zu erlassen auf Erden«,
sagt er zu dem Gelähmten:
11 »Dir sage ich:
Steh auf,
nimm auf deine Trage
und geh in dein Haus!«
12 Da wurde er aufgerichtet,
und gleich,
nachdem er aufgenommen die Trage,