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(1) Sie bemüht sich um die Diagnose des Erscheinungsbildes von „Beeinträchtigungen“ (Gefährdung, Störung, Behinderung, sonstige Probleme). Mit dem Erkennen einer Form der Gefährdung ist zugleich die Erforschung der Ätiologie des Phänomens unter Einbeziehung des sozialen Umfeldes, speziell der Erziehungsfelder (Familie, Pflegefamilie, Heim, Schule) und der materiellen Umwelt sowie ökonomischer Bedingungen verbunden. Hinweise und Informationen oder nur Informationen erhält man durch Fremd- und Eigenanamnese (Kap. 5.3), durch Befragung von Eltern, Lehrern, weitere Bezugspersonen, Kind, durch vorliegende Schülerakten, manchmal auch durch den Einsatz von Testverfahren (Angst, Motivation, Wahrnehmung …). Bei der Frage nach der Ätiologie ist der diagnostizierende Sonderpädagoge auf ärztliche Untersuchungsbefunde angewiesen. Allerdings werden vom Mediziner nur Aussagen über physische Bereiche erwartet. Der Arzt kann z. B. Hinweise auf organisch bedingte Störungen geben, die zur Erklärung einer Verhaltensstörung beitragen können, oder er kann verweisen auf Sinnesbeeinträchtigungen, die von ärztlicher und pädagogischer Seite zu entsprechenden Aktivitäten führen müssen.
Es sollte nicht die Aufgabe des Arztes sein, einen Förderbedarf festzustellen, sondern den allgemeinen Gesundheitszustand des Kindes sowie mögliche organische Ursachen einer Störung, insbesondere Sinnesbeeinträchtigungen, und Möglichkeiten einer ärztlichen Behandlung zu erkennen. Die Aufgaben, Probleme und Prinzipien der Zusammenarbeit zwischen Ärzten und Pädagogen werden immer wieder diskutiert, wobei folgende Aspekte im Vordergrund der Auseinandersetzung stehen:
1. Analyse der Aufgaben einer Zusammenarbeit und Präzision der Notwendigkeiten einer Kooperation;
2. Formen von Kooperation, Hintergründe von Problemen, Ansätze für erforderliche Veränderungen;
3. Ableitung von Prinzipien wirksamer Kooperation zwischen Ärzten und Pädagogen aus den gemeinsamen Aufgaben und den vorliegenden negativen und positiven Erfahrungen.
Dabei werden vor allem vier Formen unzweckmäßigen Verhaltens zwischen Medizinern und Pädagogen unterschieden: die Konfrontation, die Okkupation, Subordinationsansinnen und bloß additive Beziehungen.
(2) Die sonder- oder heilpädagogische Diagnostik entscheidet, ob ein Kind einer individuellen Betreuung und Förderung mittels Aufnahme in eine Förderschule bedarf oder ob möglicherweise auf der Basis von Beratung des Regelschullehrers oder der Eltern, vielleicht auch mit Hilfe „Mobiler Dienste“ individueller Förderunterricht oder Therapie genügen. Ein ganz besonderes Problem stellen Kinder dar, deren Leistungen sich im Grenzbereich bewegen. Dabei sei betont, dass ein Gutachten ohne Vorschläge für praktikable Fördermaßnahmen im Aufgabenbereich der sonderpädagogischen Diagnostik nahezu wertlos ist.
(3) Liegt sonderpädagogischer Förderbedarf vor, bedarf es der Entscheidung, in welcher Schule (Regelschule oder Förderzentrum) der Schüler am besten gefördert werden kann; bzw. ob eine spezielle Förderung durch ambulante Dienste oder eine Therapie, ggf. Lerntherapie, angezeigt erscheint.
Analoge Entscheidungen wären auch vor dem Schuleintritt bezüglich einer bestimmten vorschulischen Einrichtung zu treffen.
Bei Schülern mit Mehrfachbehinderungen i. e. S. ist die Frage der Aufnahme in eine bestimmte Schule nicht selten mit großen Problemen verbunden. Es gibt Kinder, die z. B. deutliche Merkmale einer Körperbehinderung, einer sprachlichen Behinderung oder einer geistigen Behinderung zeigen. Bei solchen Kindern sollte nicht in erster Linie nach der Offensichtlichkeit einer Behinderung entschieden werden, vielmehr sollten das Wohl des Kindes, seine Entfaltungsmöglichkeiten, vor allem der individuelle Förderbedarf bei der Wahl der Fördermaßnahmen dominieren.
(4) Eng verbunden mit der Diagnose ist die Prognose. Es werden gezielte und überlegte Hinweise auf die mögliche zukünftige Entwicklung gegeben. Es geht um die Fragestellung der Hilfe, Förderung, Förderaussichten, gegebenenfalls auch der Heilungschancen einer Krankheit oder auch um die Verschlechterung eines Verhaltens oder Zustandsbildes. Auch in diesem Fall muss überlegt werden, was optimal getan werden kann (z. B. Muskelschwund, Autismus, Hyperaktivität). Bei Kindern und Jugendlichen im Hauptschulalter kann mit der Prognose auch die Frage der Eignung für ein bestimmtes Berufsfeld verbunden sein; denn gerade im sonderpädagogischen Bereich müssen Spezialbegabungen im Hinblick auf geistige, soziale, körperliche Möglichkeiten besonders früh erkannt und gefördert werden.
Die Prognose hängt wesentlich von der Kenntnis des Umfeldes eines Kindes ab. Wichtige Momente sind beispielsweise die Flexibilität oder Rigidität, ganz einfach die Umstellungsfähigkeit der Eltern bei Erziehungsfehlhaltungen, die Wirkung einer Heimaufnahme, Fördermaßnahmen, therapeutische Einflüsse, die Bedeutung einer Aufnahme in eine Förderschule überhaupt.
Über die Probleme der „Prognose“ wird im Verlauf dieses Abschnittes eingehender diskutiert.
Die weiteren Aufgaben der sonderpädagogischen Diagnostik können nach den einführenden Beschreibungen in kurzer Form aufgezählt werden. Diagnostische Aktivitäten mit Gutachtenerstellung und Förderungsvorschlägen sind nötig:
(5) bei eventueller Rücküberweisung (Rückführung) an die Regelschule;
(6) bei einer Überweisung an eine andere (sonderpädagogische) Einrichtung bzw. Förderschule;
(7) jeweils am Ende eines Schuljahres für den Schülerbogen und den Förderplan (meist Kurzgutachten über Fortschritte, Verschlechterungen, psychische und soziale Auffälligkeiten, Verhalten allgemein);
(8) wenn die Eltern eine Verlängerung der Schulbesuchszeit beantragen, d. h., die Lehrer müssen beurteilen, ob eine Verlängerung pädagogisch sinnvoll ist;
(9) bei einer Heimeinweisung;
(10) bei Gericht und Jugendamt (Diebstahl, Vergewaltigung, Gewaltanwendung …)
(11) im Zusammenhang mit der Früherkennung und Früherfassung von Behinderung bedrohter Kinder (Weiterentwicklung des Gedankens einer möglichst frühen und intensiven Förderung gefährdeter und von Behinderung bedrohter Kinder in den letzten Jahren);
(12) aktive Mithilfe – auch durch den Einsatz diagnostischer Mittel – bei der Berufsfindung (Unterstützung des Arbeitsamtes; Kontakte mit Betrieben);
(13) im Rahmen eines Einbezugs förderdiagnostischer Aufgaben im Bereich erweiterter Aufgabenfelder wie Frühförderung und Regelschule.
Sonderpädagogik ist heute weitaus mehr als Sonderschulpädagogik, sie findet nicht nur in Förderschulen statt, sondern reicht weit in die Früherziehung und Vorschulerziehung sowie in die Bereiche der Regelschule hinein, gefordert durch Kinder und Eltern in Problemsituationen im Erziehungs- und Lernprozess. Es geht dabei zunächst primär um Prävention, Integration und Inklusion (vgl. Schäfer / Rittmeyer 2015).
Als übergreifende permanente Aufgabe wird Verhaltensbeobachtung Erziehungs- und Lernprozesse begleiten (Kap. 5.2.1).
Aus der Diagnose und Analyse der vorliegenden Problematik ergibt sich die Aufgabe, die Möglichkeiten der Erziehung und Bildung des jeweiligen Kindes zu eruieren. Sonderpädagogik muss sich beschäftigen mit der Frage nach dem gegenwärtigen Stand der Entwicklung eines Kindes mit Behinderung, mit der Frage nach der optimalen Förderung, der Ermutigung, evtl. mit dem Problem, dass das Kind lernt, mit seiner Behinderung zu leben, mit dem Ausgleich einer Beeinträchtigung etwa auch auf anderem Gebiet, also mit der Frage der Kompensation (Alfred Adler).
Auch die Selbstregulierungstendenzen und die Selbstentfaltungskräfte im kindlichen Organismus sind zu beachten, d. h., ein Kind ist wandelbar im Laufe des Wachstums, es „entwickelt sich“ (Konstruktivismus) und wird nicht nur geprägt (Bundschuh 2008, 97 ff.). Im Zusammenhang mit der Diagnose gibt der Sonder- und Heilpädagoge Hilfestellung, beseitigt hemmende Einflüsse, behindernde Bedingungen und erstellt einen Förderplan (vgl. Kap. 6.6.3) und trägt damit zur Entfaltung der im Kind vorhandenen Möglichkeiten bei. Überforderungssituationen in der Grundschule werden im Zusammenhang mit helfenden und unterstützenden Maßnahmen abgebaut, Erfolgserlebnisse vermittelt, soziale Diskrimination durch den Anschluss an die Klassengemeinschaft (Integration, Inklusion) beseitigt. In unmittelbarem Zusammenhang mit den konkreten Aufgaben des diagnostizierenden Lehrers für Sonderpädagogik stehen noch einige wichtige Aspekte, wie z. B. die grundsätzliche Frage nach der Sicherheit bzw. Unsicherheit einer Diagnose, die Frage der Ätiologie und der einzuleitenden Förder- und Therapiemaßnahmen, ferner die Bedeutung einer Aufnahme in eine Förderschule für das Kind und die Familie. Die hier angeführten Aspekte sollen zumindest punktuell im Folgenden angesprochen werden.
Man kann sagen, dass eine Diagnose, die zugleich Fördermaßnahmen intendiert und impliziert, umso schwieriger wird, je stärker ein Mensch beeinträchtigt ist, etwa bei Menschen mit schwerer geistiger Behinderung oder mit schweren Verhaltensstörungen. Häufig wird die eigentliche Primärbehinderung (Grundbehinderung) von sekundären oder tertiären Behinderungen oder Störungen überlagert, die sich in der Folgezeit aufgebaut haben, wie das bei der Taubheit, Blindheit, bei körperlichen Beeinträchtigungen schlechthin der Fall ist oder im psychischen Bereich bei sozialen Störungen bis hin zur Neurose. Es kann vorkommen, dass sich im Verlauf einer psychologisch-sonderpädagogischen Untersuchung bei problematischen Kindern Widersprüche zeigen zwischen der intellektuellen Leistung, die im Intelligenztest erreicht wird, und der schulischen Leistung, zwischen den Aussagen des bisherigen Lehrers und den Ergebnissen der sonderpädagogischen Untersuchung (schlechte Leistungen in der Schule – relativ gute bei der Untersuchung). In einem solchen Fall müsste die Möglichkeit zu einer längeren Beobachtung eines Probanden, zu wiederholtem Testen mit verschiedenen Verfahren gegeben sein, vor allem auch mit möglichst „kulturfreien“ Verfahren, also mit Tests, deren Ergebnisse kaum von Lernprozessen, von Anregungen durch die Umwelt beeinflusst werden, um zu einer weitgehend gesicherten Information und Aussage über eine Förderung zu kommen.
Ungereimtheiten und Widersprüche im Verlauf einer Untersuchung sollten stets zu denken geben und nach Möglichkeit aufgeklärt werden.
Zum Aufgabenfeld des diagnostisch tätigen Lehrers für Sonderpädagogik gehören auch Fragen nach dem Zeitpunkt der Entstehung und damit eng verknüpft auch die Frage nach der Ätiologie (Ursache) einer Beeinträchtigung. Wichtig wäre es also zu klären, wann eine Störung oder Schädigung eingetreten ist:
1. pränatal (vorgeburtlich), etwa durch Röteln, infektiöse Hepatitis (Gelbsucht), toxische (giftige) Einflüsse, Sauerstoffmangelzustände, evtl. bereits durch Milieueinflüsse (mangelnde Hygiene, keine Vorsorgeuntersuchung …)
2. perinatal (während der Geburt), evtl. durch eine besondere Lage des Kindes im Mutterleib, Atemstillstand, Asphyxie (Sauerstoffmangel), besondere Umstände bei der Geburt …
3. oder postnatal (nach der Geburt), möglicherweise durch frühkindliche Gehirnschädigung, Unfälle leichter bis schwerer Art, Infektionskrankheiten, besondere Krankheiten oder vielleicht durch ungünstige Milieueinflüsse (soziokulturelle Benachteiligung, wenig Lernreize, schlechte Ernährung , Armut …).
Gerade im Zusammenhang mit einer Milieuschädigung spielt die Intensität und die Dauer eine wesentliche Rolle für den Schweregrad einer Störung oder gar Behinderung. Zu denken wäre z. B. an fortgesetzte Kindesmisshandlung, an ständige Ehekonflikte, die vor dem Kind ausgetragen werden, in die vielleicht das Kind einbezogen wird, an gravierende Fehleinstellungen der Eltern zum Kind …
Zeitpunkt und Ätiologie einer Beeinträchtigung können sicherlich nicht immer ganz exakt eruiert werden, dennoch darf das Bemühen um Klärung der genannten Aspekte nicht als zweitrangig betrachtet werden, da die Fördermaßnahmen in einem unmittelbaren Bezug zum Ursachenbereich stehen.
Die Bedeutung einer Aufnahme in eine Förderschule sollte für das Kind – und auch für die Eltern – nicht als gering angesehen werden. Die zunächst allgemeine Diagnose und das „ Urteil – förderschulbedürftig“ bringen eine Zuordnung zu einer Minderheit mit sich mit allen Konsequenzen für das spätere Leben. Man muss aber auch bedenken, dass ein Verbleiben an der Regelschule für die Lernbereitschaft und für die gesamte Entwicklung der Persönlichkeit negative Folgen mit sich bringt, wenn das Kind ständig überfordert wird, immer wieder sein Nicht-Leistenkönnen erfährt und schließlich Schulangst entwickelt. Immer wieder wird die Problematik der Entscheidung „Förderschulbedürftigkeit“ im Zusammenhang mit Schülern im Förderbedarf Lernen zur Diskussion gestellt. Das niedrige Sozialprestige gerade bei der zahlenmäßig größten Gruppe, nämlich bei den Schülern mit Förderbedarf Lernen, zeigt sich nicht nur darin, dass vermeintliche Dummheit in unserer Gesellschaft leider immer noch Spott und Schande hervorruft, sondern auch deutliche Beeinträchtigungen der Entwicklungsmöglichkeiten vor allem nach Beendigung der Schulzeit zur Folge hat, die von der Gesellschaft gesetzt werden.
So bleiben Schülern mit Förderbedarf Lernen bestimmte Berufe verschlossen, denen sie begabungsmäßig durchaus gewachsen wären, wie z. B. die Beamtenlaufbahn des einfachen Dienstes bei der Post oder eine ganze Reihe von Lehrberufen.
Greift man wiederum die Gruppe der Schüler mit Lernbehinderung – jetzt Förderbedarf / -schwerpunkt Lernen – heraus, so muss man bemerken, dass bei keinem anderen Förderschultyp so viele Probleme auftreten, es vielleicht wegen der mangelnden Offensichtlichkeit der Beeinträchtigung dieser Kinder so viele Widersprüche und Anfechtungsklagen gegen Ein- und Umschulungsentscheidungen gab, wie bei Sonderpädagogischen Förderzentren (früher „Hilfsschule“, Schule zur individuellen Lernförderung genannt), weil die „Behinderung“ zu wenig offensichtlich, zu wenig prägnant und auffällig ist, weil sie eben häufig erst dann zutage tritt, wenn schulische Anforderungen an die Kinder gestellt werden. Deshalb sehen auch die Eltern manchmal die Notwendigkeit der Maßnahmen in Form einer „besonderen“ Beschulung ihrer Kinder nicht ein.
Sie wehren sich im Zusammenhang mit dem vielerorts diffamierenden Charakter dieses Schultyps gegen eine Aufnahme ihrer Kinder in eine Schule mit dem Schwerpunkt Förderbedarf Lernen. Der Begriff Lernbehinderung wurde traditionell betrachtet auch als „euphemistisch“, „relational“, „diffamierend“, „fixierend“, „simplifizierend“ und als „pauschalierend“ gesehen.
Gerade diese Aufgaben des diagnostizierenden Sonder- und Heilpädagogen im institutionellen Bereich haben viel zur Kritik an seiner diagnostischen Tätigkeit beigetragen. Die Frage bleibt offen, wer an seine Stelle tritt, wenn er diese Aufgabe nicht auf der Basis seiner sonderpädagogischen Kompetenz, seines pädagogischen Verständnisses und seiner heilpädagogischen Einstellung realisiert, vielleicht ein Mediziner oder ein Verwaltungsfachmann? Ohne gründliche, aber auch praktikable (!) innovatorische Reflexionen über „rein pädagogische“ Möglichkeiten im Rahmen eines Schulsystems sollte weder das Sonder-, jetzt Förderschulwesen aufgelöst noch der Beruf des Sonder- oder Förderschullehrers „abgeschafft“ werden (vgl. die unbefriedigende, in Einzelfällen schlimme Situation in Italien, über die 1982 Prof. Galliani von der Universität Padua berichtete). Die im folgenden Abschnitt zu thematisierende, pädagogisch akzeptablere Förderdiagnostik im Sinne einer Prozess- und Begleitdiagnostik, die speziell auch im Rahmen von Unterricht realisiert werden kann, erweitert nicht nur Perspektiven, sondern auch Möglichkeiten.
3.4 Sonderpädagogisch-psychologische Diagnose als Förderdiagnose
In den vorangegangenen Ausführungen wurde bereits hervorgehoben, dass die Diagnose alleine im Hinblick auf das Kind wenig Relevanz besitzen würde, wenn nicht gleichzeitig gezielte, differenzierte Vorschläge zur Förderung eines in seiner Entwicklung beeinträchtigten Kindes gegeben würden. Das Moment der Förderung enthält eine so eminent wichtige Funktion, dass nicht darauf verzichtet werden kann, diesen Aspekt zu thematisieren und allen weiteren Ausführungen als Prinzip zugrunde zu legen. Es geht im Rahmen der sonderpädagogischen Diagnostik nicht in erster Linie um die Feststellung einer Störung, eines Defizits oder einer Behinderung, vielmehr ganz speziell um die „Herausstellung der für eine sonderpäd. Förderung geeigneten Ansatz- und Ausgleichsmöglichkeiten“ (Kap. 5.8), wobei man sich auch der ärztlichen Befunde bedienen sollte.
Die förderdiagnostische Untersuchung intendiert insbesondere Ansätze und Vorschläge für gezielte Maßnahmen zum Abbau und zur Kompensation von Beeinträchtigungen, zur Prävention von Störungen, zur Prophylaxe bei vorliegenden Beeinträchtigungen und Anregungen zur Entfaltung einer vorliegenden Spezialbegabung. In diesem Sinne führt die sonderpädagogische Diagnostik, die sich als Förderdiagnostik (Bundschuh 2019) versteht, immer zu einer Bildbarkeits-Diagnose. Der Sonder- und Heilpädagoge forscht gleichsam auch nach einem Begabungsbereich, der einer „Begabungsinsel“ gleichkommt und zur Emanzipation geführt werden soll. Es geht heute nicht mehr in erster Linie um eine „Feststellung“, nicht mehr um ein „Urteil“, nicht mehr um die „Einweisung“ in eine bestimmte „sonderpädagogische Einrichtung“, vielmehr geht es – zunächst allgemein ausgedrückt – um die Transformation förderdiagnostischer Erkenntnisse in die Entwicklung, in Lernprozesse, Unterrichtsprozesse (Curricula), in das Leben eines in seiner Entwicklung gefährdeten und beeinträchtigten Menschen schlechthin.
Förderungsspezifische Diagnostik soll dazu beitragen, erschwerte Lernprozesse zu erleichtern, massives Schulversagen soll so möglichst gar nicht erst entstehen bzw. gemildert oder überwunden werden:
– Zeitlich kann eine förderungsspezifische Diagnostik nicht auf die Überprüfungsperiode beschränkt bleiben. Sie muss stets dann angewendet werden, wenn Lernschwierigkeiten auftreten.
– Gegenstand der förderungsspezifischen Diagnostik sind nicht Merkmale des Kindes, sondern das gesamte Bedingungsgefüge des schulischen Erfolgs und Misserfolgs ist einzubeziehen.
– Als Methoden sind solche Verfahren vorzuziehen, deren Daten direkt Ansatzpunkte für pädagogische und therapeutische Interventionen liefern und nicht erst über verschiedene Arten von Schlussfolgerungen ein hypothetisches Konstrukt (wie es z.B. die „Intelligenz“ ist) quantifizieren.
Wir sind der Meinung, dass sich förderungsspezifische Diagnostik auch im Rahmen einer unmittelbaren Verbindung von indirekten und direkten Verfahren realisieren lässt.
„Indirekte Modelle“ sonderpädagogischer Diagnostik werden von Peter Barkey so beschrieben: Sie beziehen sich „weitgehend auf individuell zentrierte Defizitannahmen oder Feststellungen, die als individuelle Beschreibungsmomente wenig expliziten Bezug auf zu erreichende Lernziele nehmen“ (Barkey 1975, 21).
„Indirekte Modelle sonderpädagogischer Diagnostik benutzen als Vergleichsgruppe jahrgangsgleiche, nach biographischen und demographischen Kriterien homogenisierte Schülerpopulationen, die durch die Verteilung ihrer Lernleistungen gruppenspezifische Kriterien für bestimmte Auffälligkeiten repräsentieren. Unterschiedliche Lernbedingungen werden als Störvariable berücksichtigt, die sich durch entsprechendes Vorgehen bei der Auswahl der Bezugsgruppe – bei standardisierten Tests: Eichstichprobe – ausgleichen sollen. Indirekte Modelle sonderpädagogischer Diagnostik beziehen sich sehr häufig auf der Medizin entlehnte Analogien …“ (Barkey 1975, 21 f.).
Unter den indirekten Modellen sonderpädagogischer Diagnostik versteht man vor allem die Verfahren, die sich an die normorientierte Diagnostik anlehnen; d. h., sie werden mit dem Ziel angewendet, einzelne Untersuchungsergebnisse im Hinblick auf statistische Bezugswerte (Normen, Testnormen, Eichwerte) einer bestimmten Bezugsgruppe auszudrücken und zu interpretieren. Hierzu gehören alle Verfahren, die man als psychometrische Verfahren (messende Verfahren) bezeichnet, die den Vergleich einer Einzelleistung mit der Leistung einer größeren Bezugsgruppe zulassen. Dies könnten z. B. Intelligenztests, Schulleistungs-, Schulreifetests, Fähigkeitstests … sein.
Barkey sieht die „wohl wichtigste Dimension direkter Modelle sonderpädagogischer Diagnostik darin, dass sie bei einer Feststellung mehr oder weniger nicht erreichter Lernziele die Bedingungen für das Nichterreichen dieser Lernziele erkundet, damit neue gezielte Maßnahmen eingeleitet werden können.“ Diese Modelle „benutzen als Bezugsgruppe die Schüler, die in einer bestimmten Zeit und im Rahmen einer bestimmten pädagogischen Unterweisung gleiche Lernangebote für ein explizit genanntes Lernziel erhalten. Direkte Modelle versuchen bei Nichterreichen dieses Ziels Bedingungen für das Nichterreichen aufzudecken und daraus Handlungsanweisungen für zusätzliche pädagogische Hilfen abzuleiten.“ So stellen die direkten Modelle sonderpädagogischer Diagnostik „verstärkt die Möglichkeiten der Modifikation und Variation pädagogischen Handelns im Sinne etwa der Verhaltensmodifikation in den Vordergrund“ (Barkey 1975, 22).
Beispielhaft charakterisiert wird eine relativ flexible und variable Form der Verhaltensbeobachtung – empfohlen vor allem die „Situationsanalyse“ als eine Form der Beobachtung des Schülerverhaltens in spezifischen Lernsituationen und Lernprozessen.
Im Zusammenhang mit problematischen Kindern ist anzustreben, „die ohnehin vorhandenen Stigmatisierungen nicht noch durch wissenschaftlich aufgebauschte Nomenklaturen zu untermauern, sondern Kategorien zu finden, die in Bezug auf erzieherisch mögliche Interventionen dem Lehrer Hilfen für sein pädagogisches Handeln bieten“ (Barkey 1975, 27).
Barkey als Vertreter direkter Modelle meint, bei der Beurteilung schulischer Leistungen seien direkte Modelle der Leistungsprüfung vorzuziehen.
Direkte Modelle stellen die pädagogische Problemanalyse in den Mittelpunkt, wobei zwischen curricularem, Interaktions- und Modifikationsaspekt unterschieden wird.
Sonderpädagogische Diagnostik, orientiert an direkten Modellen, geschieht also auf der Grundlage der Analyse und Strukturierung der Lernziele und Kenntnisse des Unterrichtsverlaufsgeschehens. Die gegenwärtig diskutierten und auch versuchsweise erprobten alternativen diagnostischen Konzepte im pädagogisch-sonderpädagogischen Bereich orientierten sich in hohem Maße an dem aufgezeigten Gedanken direkter Modelle, wobei die wesentlichen Schwerpunkte in dem erweiterten diagnostischen Prozess, in den unmittelbar an die Diagnose anschließenden Interventions-, Handlungs- und Evaluationsstrategien liegen.
Verschiedene Beiträge vergleichen und bewerten herkömmliche Diagnostik mit neueren förderungsorientierten Ansätzen (Barkey 1975; Eggert 1975). Kautter (1975) hält die am Medizinischen Modell orientierte Diagnostik für Selektionsentscheidungen für den „gegenwärtigen Zustand“ und strebt eine an den Förderungsbedürfnissen orientierte Diagnostik an.
Kobi stellt (1977, 115–123) richtungsweisend in 28 Thesen „Einweisungsdiagnostik“ und „Förderdiagnostik“ gegenüber. Es fällt schwer, die wesentlichen Inhalte dieser sehr systematisch aufgezeigten Thesen hier darzulegen, denn alle implizieren hohe Relevanz. Es soll deshalb der Versuch unternommen werden, die aus der Sicht des Verfassers bedeutsamsten Momente der Förderdiagnostik (FD) vorzustellen:
– „Die Förder-Diagnostik entwickelte sich in kritischer Distanznahme von der Einweisungs-Diagnostik im Zuge verschiedener Theorien des Lernens und der Verhaltensmodifikation, des Integrationsgedankens, der Bestrebungen um Frühförderung, der Kommunikationsforschung etc.…“ (These 1).
– „Im Vordergrund stehen kriterienorientierte, curriculare und modifikatorische Interventionsfragen“ (These 2).
– „Paradigma für die FD ist die Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden, welche ein definiertes Lernziel mittlerer Reichweite anstreben“ (These 3).
– „FD findet ihre Zweckbestimmung in der Förderung und hat ihren Bezugsrahmen in einem Fluß-System. Je dynamischer, durchlässiger und anverwandlungsfähiger ein solches System (z.B. Gesamtschule) ist, umso eher kann FD individualisierte, ad personam konkretisierte und problemzentrierte Innovationen (z.B. orthodidaktischer oder verhaltensmodifikatorischer Art) vornehmen“ (These 6).