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»Mutter lässt fragen, wann sie das Abendessen servieren kann.«
»Wenn wir es nur wüssten.«
Sein Sohn, zu jung, um die Antwort zu verstehen, rührte sich nicht von der Stelle.
»In einer Stunde! Was denn noch, Arthur?«
Der Junge machte große Augen, spürte, dass etwas nicht stimmte, verschwand aber folgsam.
Vor Tagesanbruch erhob er sich, küsste seine schlafenden Kinder auf die Stirn und schloss leise die Tür. Der Abschied fiel ihm schwerer als erwartet. Er drückte Josefine an sich und griff nach dem Bündel, das bereits neben der Haustür lag.
»Noch etwas zu besprechen?«
»Wie lange dauert es dieses Mal?«, fragte sie und rieb sich die Hände.
»Vermutlich eine Weile. Unsere tapfere und verständige Gattin wird aber auch diese Bürde schultern. Daran gibt es nicht den geringsten Zweifel.«
»Freilich!«
Als er auf die Gasse trat, schlug die Fünf-Uhr-Betglocke und Öllampen kämpften gegen die Dunkelheit.
Auf die Konstanzer Betulichkeit, zwei Tage darauf, am elften April, reagierte Hecker missmutig. Ein Begrüßungskomitee war nicht zu erwarten. Nach der Verhaftung ihres Abgeordneten durften die siebentausend Einwohner aber etwas Engagement zeigen! Er spazierte am Dom vorbei und fragte sich, wie viele Untertanen man für den Bau ausgepresst hatte. Wenigstens konnte er eine Ausgabe der »Seeblätter« erstehen. Ficklers Freunde setzten seine Arbeit fort und schrieben gegen die Tyrannei an. Im Leitartikel hieß es »Der Name Mathy wird durch alle Zeiten bespiener Name, allgemeines Brandzeichen sein und bleiben für die niederträchtigste Menschenklasse, noch schlechter als Straßenräuber und Mörder, das Fluchzeichen für feige Menschen und Volksverräter!«
»Gute Lektüre«, sagte plötzlich jemand neben ihm und presste eine Aktentasche, umgürtet mit einem Strick, in den Bauch.
Hecker wollte Struve begrüßen, doch sein Freund wich zurück, verängstigt wie ein Tier. »Immer noch die Furcht, mit unheilbarer Krankheit infiziert zu werden?«
Struve schüttelte den Kopf, verstockt. »Nein, doch, nein.«
»Enthält die Arzttasche auch das Maßband für phrenologische Studien?«
»Auf Hecker ist Verlass«, sagte Struve verbindlich, im Geist schon bei anderen Sujets.
»Natürlich! Man kann uns vieles vorwerfen, aber Doppelzüngigkeit bestimmt nicht. Wie war die Anreise?«
»Welche denn, bittesehr?«
»Feinschmeckertour durch Frankreichs Regionen! Rotwein und Käse in Hülle und Fülle! Himmel hilf! Um die Strecke Mannheim/Konstanz geht es.«
Struves Tasche gab Antwort, rutschte ein Stück nach unten.
»Ist es zu Zwischenfällen gekommen?«
»Gar nicht.«
»Demzufolge war es die richtige Entscheidung, sicherheitshalber einen Umweg über die bayerische Pfalz, Frankreich und die Schweiz einzulegen?«
»Reist man direkten Weges an, geht es schneller«, erwiderte Struve fast beleidigt, weil er das erklären musste.
Hecker sah ihn fassungslos an. Hatte sein Freund aus Vergesslichkeit oder Ignoranz gehandelt?
»Alles im Loth?«, fragte Struve und wünschte, man könnte sich endlich Bedeutenderem zuwenden.
Hecker pfiff durch die Zähne und nickte. »Auf geht’s zum Badischen Hof!«
Theodor Mögling, Württemberger, Mitglied des Vorparlamentes, sprang auf und schüttelte Hecker die Hand. Struve begnügte sich mit finsterem Nicken für alle: August Willich, ehemaliger preußischer Artillerie-Offizier, Franz Sigel aus Baden, der Rheinländer Doll, Bruhn aus Holstein und Ferdinand Schöninger aus dem Schwäbischen. Willich schlug vor, zu vespern und danach zu reden. Schleiermachers Adoptivsohn war als Zwölfjähriger in das Potsdamer Kadettenkorps ein- und vor fünf Monaten ausgetreten, weil er das autoritäre Preußen nicht mehr ertragen konnte. Mit seinem struppigen Vollbart und dem schütteren Haar hätte er Philosoph sein können wie der Ziehvater, dachte Hecker. Er war einverstanden damit, etwas zu sich zu nehmen, aber warum nicht schon während der Mahlzeit sprechen?
Willich sah fragend in die Runde.
»Gute Idee«, grummelte Struve. Wenn der Soldat ihm nicht zuvorgekommen wäre, hätte er das Prozedere vorgeschlagen!
»Dürfen wir auf die Bevölkerung in der Gegend bauen?«, fragte Hecker und schnitt sich genüsslich ein Stück Salami ab.
»Mehr denn je«, verkündete Struve, entknotete den Strick um seine Tasche und fingerte nach einem Bogen Papier. »Allein im Seekreis warten 40.000 bis 80.000 Mann darauf, sich anzuschließen.«
»Auf dem Weg hierher hat man uns aber sehr misstrauisch gemustert«, wandte Hecker ein. »Angesichts ungezählter schriftlicher und mündlicher Aufrufe, in die Gegend zu kommen und das Banner der Republik zu schwingen, rechneten wir mit mehr Zuspruch!«
Willich stimmte ihm zu. »Wir befinden uns in einer urkatholischen Gemeinde. Der gut gepolsterte Bischof lenkt seine Schäfchen, wie es ihm beliebt.«
Franz Sigel, schief auf dem Stuhl sitzend, räusperte sich und wartete, bis eine geeignete Pause entstand.
»Nun, Franz?«, meinte Hecker ermutigend.
»Wir machten bei unserer Ankunft dieselbe Beobachtung. Allzu devot ist das Volk hier.«
»Der Widerling von Bürgermeister stachelt die an und für sich revolutionär gesinnte Bevölkerung auf!«, rief Struve.
»Von einem faulen Beamten wie Hüetlin lassen wir uns nicht entmutigen«, sagte Hecker. »Wenn es darauf ankommt, erlangt das Volk seine alte Zuversicht! Überhaupt sieht man Landbewohner entschlossener und glühender bei der Tat als die verweichlichten Städter. So, jetzt wird der Feldzug geplant!«
»Wäre es angesichts der vielen Spione nicht besser, hinter verschlossenen Türen zu beratschlagen?«, fragte Sigel mit hochrotem Gesicht.
»Wer will, kann lauschen«, erklärte Hecker. »Deshalb muss aber niemand Angst haben!«
»Nein, um Furcht geht es nicht. Doch kennt der Feind unsere Strategie, entsteht – militärisch genau betrachtet – ein Nachteil.«
»Genug jetzt!«, schnitt Hecker ihm das Wort ab. »Immer wieder in der Geschichte musste der Mensch besonderen Wagemut zeigen! In solch einer Situation befinden wir uns. Von Konstanz aus ziehen wir über den Schwarzwald nach Karlsruhe. Die Militärs unter uns sind natürlich skeptisch: Doch erwartet niemand, dass wir mit einer bunten Truppe aus Bauern, Bürgern, Arbeitern und Handwerkern gegen besser bewaffnete Berufssoldaten siegen. Feindliche Krieger, allen voran die badischen, müssen mit guten Argumenten auf unsere Seite gezogen werden. So wie es vor der Französischen Revolution Schriftsteller und Philosophen machten!«
Im Nebenzimmer diktierte Hecker seinem Faktotum die Proklamation. Schöninger hatte für die Erhebung Arbeit und Verlobte im Schwäbischen verlassen. Ab und an musste er warten, bis der präziseste Gedanke gefunden war. Die anderen Mitstreiter saßen in der Wirtsstube. Sigel ärgerte sich über Heckers Leichtsinn, schwieg aber, um der Aktion nicht noch mehr zu schaden. Von seinem Platz aus konnte er Fragmente des Aufrufs hören: »Der Augenblick der Entscheidung ist gekommen. Worte können unser Recht auf Freiheit nicht erobern. Darum fordern wir alle waffenfähigen Männer auf, am Freitag mit Waffen und Munition, in geordneten Zügen und mit Lebensmitteln auf sechs Tage versehen, zu erscheinen.« Hecker lehnte sich zurück. »Den ersten Schritt getan«, stellte er befriedigt fest. Jetzt musste die Truppenleitung festgelegt werden. Keine schwere Entscheidung: Willich war vierzehn Jahre älter als Sigel und erfahrener. Er ging ins andere Zimmer, deutete auf den Preußen und sagte »Oberkommandant«.
Sigel wollte es nicht fassen. Ihn, einen Absolventen der Karlsruher Militärakademie, zu übergehen! Wer hatte denn die badischen Volkswehren aufgebaut? Doch nicht dieser Willich!
Hecker ließ sich die Proklamation vorlesen und schrieb danach in seinem Zimmer bis drei Uhr in der Früh Briefe. Viel zu schlafen wäre in diesen Zeiten luxuriös. Er dachte an die badischen Bestechungsversuche. Sie wünschten sich Friedrich Hecker als Beamten, der mit wohlig gekrümmten Schweißfüßen Dienst nach Vorschrift schob und sein Leben verbummelte! Sogar den Posten des Justizministers hätten sie ihm überlassen! Infame Unterstellung, dass man sein Gewissen kaufen konnte wie zwei Sack Kartoffeln!
Konstanz, zwölfter April 1848
Hecker trank gerade Kaffee, als zwei Männchen erschienen und sich aufplusterten, um Besucher zur ortstypischen Vernunft zu bringen. Ihrem Geschnatter halbwegs geduldig zuhörend, reagierte er auf Nachzügler ungnädig. »Das soll wohl ein Vorgeschmack der großen Abmahnkonferenz sein.« Schöninger sah ihn ratlos an, wollte Kaffee nachgießen. Er lehnte gutmütig ab, zeigte aufs Fenster. »Tatsächlich, Bürgermeisterchen rollt an, der Entrüstung Sahnekronen aufzusetzen. Bitte den Rest der Männer informieren. Diese Capricen wollen wir ihnen nicht vorenthalten.«
Bürgermeister Hüetlin füllte in vollem Ornat und mit gut geketteter Taschenuhr den Türrahmen. Nase und Frisur gemahnten, seiner Einschätzung nach, an einen römischen Konsul. »Herr Hecker«, rief er laut.
»Doktor!«, erwiderte Hecker, der die Angst in seiner Stimme bemerkte.
»Äh, wie meinen?«
»Doktor Hecker, wenn schon, Herr Bürgermeister.«
»Ja nun, ein Gespräch mit Herrn Doktor Hecker, bitte.«
»Wann?«
»So … nun … gleich und auf der Stelle. Falls es geziemt.«
»Einverstanden.«
Hüetlin tupfte sich mit einem Taschentuch die Wangen und verwies auf vier Gestalten, die hinter ihm in die Stube traten. »Herr Doktor sieht, man ist nicht alleine, spielt, haha, sozusagen als Quintett.«
»Mehr als deutlich.«
»Wie meinen nun?«
»Offensichtlich tritt er im Rudel auf! Der Erstklässler Gepolter würde Tote wecken.«
»Verzeihung. Herr Doktor Hecker darf versichert sein, dass man sich auf leisen Sohlen am liebsten bewegt.«
»Gerade so kommt es uns vor!«
Sigel und Willich traten dazu, und als die Getreuen sahen, wie unwillig und auch schleppend Hüetlin einatmete, drückten sie sich noch enger an ihn. Er schob die Brust nach vorne und deklamierte seinen ersten Satz: »Als Bürgermeister von Konstanz darf man den Herren die Freundschaft aussprechen, stellvertretend für alle, äh, fast alle Bewohner der Stadt, und in diesem Geiste, Herr Doktor und Kollegen, bitte die Aktion zu überdenken … verschieben … besser nie durchzuführen. Allzu viel steht auf dem Spiel. Praktizierende Politiker wissen Bescheid.«
»Fragt sich nur, für wen etwas auf dem Spiel steht!«, antwortete Hecker. »Wir haben es gehörig satt, mit Inhaltslosigkeiten abgespeist zu werden. Niemand wird gezwungen mitzumachen. Hier ist der Beweis«, sagte er und griff in die Hosentasche.
Eine Feuerwaffe befürchtend, wichen die fünf einen Schritt zurück.
Hecker zog die Proklamation aus der Tasche und hielt sie dem Bürgermeister unter die Nase. »Unser Papier spricht klare Worte. Aufruf, kein Befehl.«
»Gleichwohl, ein Mann wie Herr Doktor wird im schönen Baden noch benötigt, gerade mit seinen Fähigkeiten. Er kann sich nicht aufopfern.«
»Nun schlägt es aber dreizehn! Wir schreiben Herrn Hüetlin auch nicht vor, wie er bürgermeistern soll, und verschont uns auch von dick geschwollenem, wind- und wassersüchtigem Lokalpatriotismus!«
»Ach Gottle, so war es bitteschön nicht gemeint. Jeder ist seines Glückes Schmied und ein Freischarenzug in Ehren. Doch selbst der muss mit Umsicht geplant werden. Man will ja nicht hitzig draufloswandern, gell?«
»Mit mehr Muße hätten wir einen Ratgeber verfasst – für Demokratiewillige und solche, die es werden oder vielleicht auch nur darüber lesen möchten, verzahnt mit einer Versicherungspolice. Im Fall, dass die Revolution misslingt oder unterwegs jemand an kalten Füßen leidet.«
»Revolution«, plapperte Hüetlin ängstlich nach, als ob allein deren Erwähnung ihm Kerkerhaft bringen könnte. »Kalte Füße noch dazu?«
Franz Sigel strich seine Jacke glatt und erhob sich. »In Maßen sind diese Einwände zu verstehen. Noch lässt die militärische Vorbereitung zu wünschen übrig. Leutnant Willich bedeutete uns gestern, dass vier Kolonnen gegen Karlsruhe ziehen sollen: Die erste durch das Kinzigtal, die nächste durchs Höllental, die dritte über den mittleren Teil des Schwarzwaldes und die letzte durch das Rheintal. Führung, Organisation und Verständigung zwischen den Zügen konnten jedoch nicht befriedigend erläutert werden. Ferner ist neuerlich zu monieren, dass die Spione mittlerweile bestens informiert sind.«
»Flattergeister! Alle miteinander! Maultapfer, aber im Handeln feige! Wir werden uns nicht verkriechen, sondern die Freiheit erkämpfen!«
»Also bitte! Was wir fragten, ist strategisch enorm wichtig!«
»Schön! Hecker und Willich führen eine Kolonne an, Struve steht der zweiten vor und Weißhaar wird von Lottstetten aus durchs Rheintal ziehen.«
»Bleibt die vierte Gruppe wie auch die Verständigungsfrage und …«
»Depeschen! Wir verständigen uns mit Depeschen und alle Kolonnen ziehen durch die Ortschaften, wo sie Zuzügler aufnehmen.«
Sigel war noch immer nicht überzeugt. »Werden die Kolonnen irgendwann zusammengeführt, und wenn ja, wo bitte?«
»Verdammt noch mal! Die erste Zusammenführung machen wir und Struve. Der Rest wird sich finden!« Hecker rannte aus dem Raum und Sigel empörte sich über unterstellte Feigheit. Willich sah ihn gütig an, schüttelte den Kopf. »Ein Hitzkopf ist er, der Hecker Friedrich, meint es aber nicht böse.« Hüetlin hob die Hand zum Aufbruch und Willich stieß Sigel in die Seite: »Das Schrumpfregiment kann endlich aufhören, Dielen zu zählen.« Doch Franz Sigel war nicht in Stimmung zu lachen und wandte sich ab.
Vor dem Stadthaus, einem ehemaligen Franziskanerkloster, lauerte der Bürgermeister Hecker auf. »Auf ein Wort, werter Herr Doktor …«
Hecker musterte seinen drallen Bierbauch. »Unter der Bedingung, dass es zügig vonstatten geht! Sinnloses Geplapper ödet uns an.«
Hüetlin drehte sich etwas zur Seite, um seinen Embonpoint unmerklich zu machen: »Man will Herrn Doktor seine Zeit nicht stehlen, eher ihm eine wichtige Information zuspielen und …«
»Schneller!«
»Pardon«, sagte Hüetlin quengelnd, »als regierender Bürgermeister verfügt man über eigentümlichste Quellen, hat freudvoll Nutzen aus ihnen gezogen. Herr Hecker und Freunde sollen ins Zuchthaus geworfen werden. Bitte nicht falsch verstehen, Herr Doktor. Uns Konstanzern missfällt das.«
»Die Monarchie kann getrost Ketten schmieden! Aber so leicht hält man uns nicht auf. Herr Bürgermeister darf sich wieder an den behaglichen Kamin drücken!«
Er ließ das verdutzte Stadtoberhaupt stehen und stieß die Tür zum Versammlungsraum auf. Hüetlin, der in seiner Laufbahn immer hatte ausreden können, studierte noch Wolkenformationen und stolperte hinterher. Im Gebäude warteten Anhänger wie Gegner. Als Hecker sich einen Weg nach vorne bahnte, spuckte jemand aus: »Ungläubiger, Vaterlandsverräter!« Er ignorierte das Geschwätz und erklomm das Podest. Seinen Hut legte er neben sich auf einen Stuhl und rief in die Menge: »Es lebe die Republik! Die Republik, so hören wir, sei zwar eine exquisite Staatsform, jedoch gar nicht gerecht. Man möge doch Rücksicht nehmen auf die armen Fürsten. Deren Hab und Gut, ihr schöner Staat stehe auf dem Spiel. Na und! Reife Trauben lässt man nicht verfaulen, sondern keltert süffigen Wein aus ihnen! Reden, wie vom Äquator erhitzt, während die Tat weit oben am Nordpol eingefroren wird, führen zu nichts. Wir werden nicht länger auf unseren demokratischen Staat warten! Es lebe die Republik«, rief er noch einmal in den Saal und ging zum Ausgang. Übertriebener Applaus und Lobhudelei waren ihm zuwider. Die Wahrheit durfte man immer aussprechen, und nur das hatte er getan. Er fragte Sigel, ob er ihn endlich überzeugen konnte. Der sprang auf, fiel fast hin und versicherte, die Erhebung unter keinen Umständen preiszugeben. Hecker freute sich darüber und ging zu Willich, der ihm kräftig auf die Schulter klopfte. Drei Meter hinter ihnen stand der Bürgermeister, feuchtkalte Hände auf den Backen und flüsternd: »Heiliger Bimbam! Wo soll das bloß enden?«
Überlingen, Stockach, Engen, Donaueschingen, zwölfter April 1848
Struve, die Aktentasche auf Brusthöhe, wollte alleine los, in Nachbarorten weitere Bürger von der Demokratie überzeugen, seine Kolonne aufbauen und mit der Heckerschen in Donaueschingen vereinen. Hecker legte ihm die Hände auf die Schultern. Wegen des zusätzlichen Gewichts knickte er wie eine Marionette ein und die Tasche sackte Richtung Magengrube.
»Alles im Loth, Gustav?«
»Natürlich. Ein wenig ermüdet, wie er auch. Sonst alles in bester Ordnung. Es lebe die Republik!«
»Es lebe die Republik!«
Kein Überlinger wagte es, Struve in die Augen zu sehen. Lieber musterten sie seine seltsam umgürtete Tasche. Der Ortsvorsteher, für sich auch ein wichtiger Mensch, wollte Wurst und Wein kredenzen, aber Struve akzeptierte nur etwas Wasser, lauwarm. Weil sich die siebenhundert Zuhörer im kleinen Gemeindesaal auf die Füße traten, zog man im Gänsemarsch zur Kirche. Struve ging die Prozession viel zu gemächlich vonstatten. Er fauchte den Bürgermeister an. Doch der wusste auch keinen Zaubertrick, um den Ablauf zu beschleunigen, und bat mehrfach um Verzeihung, weil seine Bürger sich beim Betreten der Kirche bekreuzigten. Dem Pfarrer behagte nicht, dass dieser Fremde so flink seinen Platz einnahm. Struve kletterte mit selbstmörderischem Blick auf die Kanzel und geißelte Schandtaten der Monarchie, sprach vom Marsch nach Karlsruhe und der Notwendigkeit, sich zu bewaffnen. Man spendete Beifall, versprach gedämpft einen nicht unbedeutenden Zuzug und bedrängte ihn erneut, einen Happen zu essen. Anschließend pilgerte Struve nach Stockach und Engen, wo ein selbstgefälliger Mann namens Welte, nur in Volksversammlungen Demokrat, nicht mit Worten geizte, um Hecker zu preisen. Struve las ihm gehörig die Leviten. »Pflichten, Herr Welte! Zusammenstehen im Kampf gegen Tyrannei!«
»Unbedingt, Herr von Struve.«
»Nur Struve! Den fragwürdigen Titel haben wir längst schon abgelegt. In der Demokratie regiert man zusammen oder gar nicht!«
»Abgeordnete auch?«
»Was soll mit ihnen sein?«
»Ein Abgeordneter thront doch buchstäblich über dem Volk, nicht wahr?«, fragte Welte mit dummfrechem Gesichtsausdruck.
»Er hat gehörig zu lernen! Nach der Erhebung sprechen wir uns!«
Welte nickte und mit dem Schreckensbild einer blutverschmierten Guillotine ging er zu Bett.
Auf wunden Füßen erreichte Struve um drei Uhr in der Nacht Donaueschingen. »Muss wahr sein, denn es steht hier auf dem Papier, unterschrieben von Hecker und von von Struve«, deklamierten die Bürger und wedelten mit Schriften über die gescheiterte Erhebung. »Überhaupt kümmert sich doch eine Frankfurter Nationalversammlung um vaterländische Demokratien. So viele schlaue Menschen richten es schon und niemand muss Unruhe erzeugen.«
Struve schüttelte den Kopf, bis ihn Drehschwindel piesackte, erklärte die ominöse Nachricht für gefälscht. Beriefen sich Monarchen auf Heckers und Struves Autorität, sei es um ihre eigene offenbar schlecht bestellt. Außerdem heiße man nur Struve! Ohne von!
»Ach so. Aber nein. Wer sollte denn so etwas tun? Gescheite in Frankfurt kümmern sich um alles. Warum Arbeit doppelt verrichten? Auf Wiedersehen, Herr ohne von Struve, gute Reise.«
Konstanz, vierzehnter April 1848
Als er den Generalmarsch vernahm, rannte der Bürgermeister auf die Straße, nahm so etwas wie Haltung an und forderte Kommandant Sigel zum eigenen Erstaunen auf, die Volkswehr in Ruhe zu lassen. Franz Sigel, bereits in seinem militärischen Element, wies ihn darauf hin, dass Hecker und Struve nur Freiwillige rekrutierten. Sie könnten ihnen nun folgen oder es bleiben lassen, so wie die absente Konstanzer Volkswehr! Hüetlin stellte sich bußfertig in eine Ecke und sah dem Treiben zu. Bislang waren nur etwa fünfzig Mann bereit, für Demokratie zu kämpfen. Eine Stunde später erschienen noch etwa einhundertfünfzig Einheimische und erklärten, leider nicht am Zug teilnehmen zu können. Gründe gab es wie Sand in der Wüste: Frau, kranke Mutter, Kinder, pflegebedürftiger Hund, Broterwerb, ja und überhaupt. Herr General müsse das verstehen. Sigel nickte, ohne eine Miene zu verziehen, schickte sie davon. Als Hecker mit Willich, Schöninger, Mögling und Doll erschien, hatte er die Mitstreiter bereits in Reih und Glied aufgestellt. Hecker trug einen schwarzen Hut und lange Stulpenstiefel. Zwei große Pistolen hingen im Gürtel und an der Seite baumelte ein Säbel. Er begrüßte die vier Trommler an der Spitze, lobte alle Männer. »Ein Soldat besitzt nicht nur Tapferkeit, er ist auch ausdauernd, diszipliniert und gehorsam. Wer eine Frage auf dem Herzen hat, kann sie jetzt stellen.« Vor ihm standen Tagelöhner, Buchbinder, Schneider, Maler und Metzger, einfache Gemüter. Keiner traute sich zu sprechen. Wer Pistolen oder Säbel besaß, hatte sie mitgebracht. Sicheln, Sensen und Heugabeln waren häufiger. Sie trugen auch Proviantbündel, denn niemand sollte der Bevölkerung auf der Tasche liegen, Revolution hin oder her! Sigel setzte die Truppe in Bewegung. Hunderte Konstanzer ermunterten die Demokraten, eine gerechte Welt zu erkämpfen, und eskortierten sie entzückt bis zur nächsten Brücke. »Schön, wenn man am warmen Ofen auf bessere Zeiten warten kann!«, rief Hecker.
Wollmatingen, vierzehnter April 1848
Dass die Republikaner Zuzügler aufnehmen wollten, verblüffte Wollmatingens Bürger. Kundmachungen hatten die Aktion doch bereits für beendet erklärt? Hecker erklärte, dass Großherzogs Handlanger dahintersteckten. Daraufhin meldeten sich einige Männer freiwillig. Andere wurden von ihren Ehefrauen mit geballter Faust in die Revolution getrieben.
»Hätten sie sich gleich zu Beginn dazugesellt, wäre die Truppe mächtiger gewesen und mehr Männer hätten sich ein Herz gefasst! Stattdessen mussten wir endlos die dumpfe Frage, wo denn der Rest sei, beantworten! Keine Aufopferungswilligkeit hierzulande!«
Er bat Sigel, das Tempo zu erhöhen. Kurz vor Allensbach erschien ein Bote und führte sie zum Rathaus, wo Hecker eine knappe Ansprache hielt. Kuriere marschierten in die Nachbargemeinden, zu denen auch die Insel Reichenau gehörte. »Friert im Winter der Bodensee zu«, erklärte er Schöninger, »werfen die Reichenauer ihre Mütze auf das Eis, getreu dem Motto ›Trägt’s die Mütze, muss es auch den Mann tragen.‹ Solche Männer können wir gut gebrauchen.«
»Erwachsene Menschen wiegen doch mehr als eine Mütze?«
Hecker empfahl ihm, nach oben zu schauen. »Vielleicht bringen ihn blauer Himmel und Seevögel auf den richtigen Gedanken!«
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